Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Von Kirchen und Kult

Nimmt man eines der großen amerikanischen Tageblätter zur Hand, so sieht man bald, es ist eine Biblia pauperum. Zwei Drittel des Blattes werden von Photoklischees eingenommen. In den Rest teilen sich gröbster Klatsch, Tagessensationen, Sportberichte. Erörterung wichtiger Fragen, die in der Luft liegen und den Gesprächsstoff wohlgesinnter Männer in den Klubs und den Heimen bilden, findet man in diesen Blättern gar 388 nicht oder in kaum nennenswerter Weise vor (ich habe nur die Blätter der Masse im Auge!), hier und da lassen sich Geistliche auf der letzten Seite in sermonartigen Artikelchen hören – dafür aber stehen solche wichtigen Lebensfragen zu Dutzenden in der Liste der Vorträge verzeichnet, die täglich in unabsehbaren Mengen allüberall in Kirchen, Versammlungen, Klubs usw. gehalten werden.

Wenn es eine amerikanische Nationalkrankheit gibt, so ist es die: Vorträge halten und Vorträge anhören. Dieses Krankheitsbild verliert aber in dem Augenblick sein pathologisches Aussehen, in dem man gewahr wird, daß in all den Versammlungen usw., verhältnismäßig wenig geschwatzt wird, sondern daß es die wirklichen, eigenen Angelegenheiten seiner Kultur sind, die sich der Amerikaner lieber von ernsten und tüchtigen Menschen, vermittels der werbenden Kraft des lebendigen Wortes, vorführen läßt als durch die diskreditierte Presse mit ihrem anonymen Stab. Dies habe ich schon in Chautauqua gemerkt. Der wertvollste Teil der schreibenden Körperschaft Amerikas, darunter die »muckrakers« der großen Zeitschriften, reibt sich in einem fortwährenden Herumreisen, einer alljährlichen Vortragstournee von 365 Abenden, vor der Zeit auf. Er hat die Mängel der Presse mit seiner physischen Kraft zu bezahlen. Der große Kontinent nährt sich vom Geist und Blut dieser Bevorzugten, Verdammten, über deren Anstrengung man weniger erfährt als über das laute Wesen des für seine eigenen Zwecke herumreisenden und radotierenden Politikers, obzwar sie es sind, die den Weg der amerikanischen Zukunft bereiten.

Der Amerikaner will vom Pult, von der Kanzel herunter, hinter dem erhobenen Toastglase her am liebsten praktische Vorschläge hören, die in seinen mit Arbeit angefüllten Tag passen. Und wenn's auch weiter nichts ist, als wie er seinen Magen kurieren kann. Alles soll sich am besten auf Dinge beziehen, die er gleich nach seiner Heimkehr in die Tat umsetzen kann; mit Jenseits und vagem Gefasel muß man ihn verschonen. Die kurioseste 389 Einrichtung in Amerika ist darum die Kirche. Was ich in Kirchen habe zusammenpredigen hören, spottet jeder Beschreibung.

Vom Bösen Feind, der in den katholischen sein Unwesen treibt und dessen Baalspriester die irischen Geschäftemacher und Trustpfeiler sind, sprach ich flüchtig schon früher. Er weiß recht gut, zu welchem Zwecke das Eiapopeia und das nötige Brimborium rundherum taugt, und kennt das Volk, dem er es vormacht, so gut wie seine Absichten. Seine Macht ist nicht zu brechen, wo das Unrecht zum Himmel schreit, seine Priester predigen Unduldsamkeit nach der falschen Richtung hin, damit von da her, wo sie ihren Sold beziehen, die Schafe sich um so geduldiger scheren lassen.

Die Kirchen der Episkopalen, die ein Rendezvousort der Reichen sind, und deren Besuch die Zugehörigkeit zu vornehmen Gesellschaftskreisen bestätigt, arbeiten natürlich mit dem Geld und für die Interessen der Reichen, die unter sich bleiben und nichts Unangenehmes hören wollen. Aber schon die in der nächsten Schichte nach unten rangierenden Kirchen haben zum Teil mit schwierigen Existenzbedingungen, nicht selten mit brennender Not zu kämpfen und benutzen daher allerlei mehr oder minder überraschende Taktiken, um ihre Tore offenhalten zu können. Dem populären Bedürfnis nach Belehrung, Erörterung praktischer Dinge und sogar Volksbelustigungen aller Art entgegenzukommen, diktiert ihnen ein recht weltlicher Selbsterhaltungstrieb, man kann also auch hier von Korruption sprechen.

Die Verwischung der Grenzen, die schon früher erwähnt wurde, zeigt sich hierbei in ihrer groteskesten Form. In Pionierszeiten war wohl der Priester der einzige Gebildete unter den hart Ringenden, es wird sich also wohl in diesen die Vorstellung festgesetzt haben, daß, wer ihnen Dinge, die ihr wahres Leben betrifft, sagen will, es mit priesterlicher Gebärde tun muß. In Zeitungsartikeln kann man diese Gebärde wahrnehmen. Dafür 390 kann man auf Kanzeln geistlichen Herren begegnen, die mit aufgekrempten Ärmeln demagogisch fuchteln. Eine sozialistische Versammlung wird mit dem Absingen eines Psalms begonnen, in der Kirche nebenan redet ein bekannter Kanzelredner vom Anti-Trustgesetz und Bernard Shaw. In einer Versammlung, in der über geschäftliche Beziehungen Kanadas zu den Staaten nach der Ablehnung der Reziprozität gesprochen wird, verliest ein Bankdirektor einen Abschnitt aus dem Evangelium Matthäi. Der Herr, der den Vortrag hält, ist ein Journalist aus Toronto. Wie er mit seinem Vortrag zu Ende ist, schließt er die Augen, faltet die Hände und spricht ein Gebet um Einigkeit aller Völker unter dem Zepter Christi – die ganze Versammlung hat die Hände gefaltet, die Augen zugemacht und sagt halblaut:

»Ämen!«

(Rockefellers Groß-Almosenier ist ein ehemaliger Geistlicher, dessen Aufgabe es ist, die schmutzigsten Räubereien seines Herrn durchzuführen, wie das bei dem großen Mesaba-Minenschwindel der Fall war, bei dem der Familie Merritt ihr letzter Groschen abgezapft wurde.)

Der Sprung von der Kanzel zur Politik ist in Amerika nicht schwer, aber das typische Amerikanische ist dabei, daß der sozial fortschrittlich gesinnte Geistliche, der zur radikalen Betätigung seiner Absichten übergeht, seinen Glauben behalten, betonen und unterstreichen darf, und daß ihm dies sogar nützt, gewiß nicht als Hypokrisie ausgelegt wird.

Es muß in Priestern, denen es Ernst ist um ihren Glauben und ihren Beruf, schon der Ekel gewaltig aufsteigen, wenn sie die Praktiken mit ansehen, zu denen die Kirche gezwungen ist, um den Klingelbeutel zu füllen. Kirchen der fünften Avenue oder der Uptown vermögen das vielleicht durch die Ankündigung von Predigten über das Shermangesetz und Bernard Shaw, aber, du lieber Gott, auf was für Behelfe verfallen die Kirchen mit intellektuell unkultivierter Umwohnerschaft! Ich habe in Chicago 391 und in Newyork Kirchen besucht, in denen am Sonntag bei der Tür ein Tisch mit Gratissandwichs stand; Kirchen gibt's, in denen Kinematographen-Vorstellungen abgehalten werden; in denen Kinder die Psalmen pfeifen dürfen; in denen der 100ste Besucher eine Prämie erhält; in denen Taschenspieler auftreten; an die Tanzsäle sich angliedern, wo die Pfarrkinder sich nach der Sonntagsvesper vergnügen können.

Bei alledem braucht man die Unglücksraben noch nicht ernst zu nehmen, die von einem Bankrott des Protestantismus in Amerika krächzen.

Daß aber die protestantische Kirche ihren naiven, unkultivierten Besuchern nichts vorzusetzen hat, was dem Pomp, der Augenweide und dem Nasenkitzel der katholischen an die Seite gestellt werden könnte, ist klar! Diese Behelfe sind eine wichtige Waffe in der Hand des katholischen Klerus, der sein Zerstörungswerk in der Kirche wirkungsvoll begonnen hat und bereits in den Schulen mit Hochdruck fortsetzt.

Die protestantische Kirche weiß genau, welches Schicksal ihr bevorsteht, wenn auch die letzten Verzweiflungspraktiken nicht mehr verfangen werden. Je tiefer sie sich in ihren äußeren Methoden encanailliert, um so definitiver verliert sie ihre Macht über die Gemüter, die sie als Zufluchtsstätte benötigen. Es wird aber auch nicht im geringsten schade sein, wenn ihre gotischen Pfeiler um die Kanzeln herum zu Boden niederschmelzen und die ehrlich gebliebenen Gotteskämpfer diese Kanzeln auf den Buckel laden und dorthin hinübermarschieren, wo sie hingehören, ins Lager der Männer, die das Künftige bereiten. Dort stehen ja heute schon die Besten der amerikanischen Geistlichkeit.

 

Ich weiß nicht, in welches Lager die Bekenner der Christian Science sich flüchten werden, wenn diese abgewirtschaftet haben wird.

Denn es hat den Anschein, als sollte die Christian 392 Science bald abgewirtschaftet haben. Im Grabgewölbe ihrer Gründerin, der Grande Hystérique Mrs. Baker Eddie, soll sich, so geht die Sage, ja ein Telephon befinden, für den Fall, daß die Missis im Fleische auferstehn sollte und sich mit der Geschäftszentrale der »Mutterkirche« in Verbindung zu setzen wünschte.

Die Zentrale hat aber dieses metaphysische »Halloh!« bisher noch nicht vernommen, und die Scharen, die in die imposanten Kathedralen des Heilerglaubens strömen, schmelzen allmählich zusammen, da die suggestive Kraft der Gründerin sich absentiert hat. Indes hat die schlaue Dame hier klug vorgebaut. Diese Menschenkennerin hat den Gottesdienst in ihren Kirchen für alle Zeiten auf ein simples Vorlesen von Parallelstellen aus der Bibel und aus ihren eigenen Werken beschränkt – sie wußte ja gut, mit welcher unbesieglichen Trivialität, mit welchem trägen Nichts-Neues-Hören-Wollen sie bei ihrem Publikum rechnen durfte. Daß die Substanz, aus der wir geschaffen sind, Geist und nicht Körper ist, daß die Krankheit daher ein Irrtum und Erhebung der Seele die beste Arznei ist, das ist ihr Dogma, in dem der Hang zum Mystischen im halbgebildeten Menschen sich mit seinem unerschütterlichen Glauben an den Kurpfuscher berührt. Mrs. Baker hat, sozusagen, die übersinnliche Welt mit einem Fünfkreuzerstrickchen an die wahrnehmbare gebunden. Um den Unsinn ihrer Nachfolger mitzumachen, die jetzt Unterschriften sammeln für eine Petition: »den Medizinischen Fakultäten Amerikas soll die Ausbildung von Ärzten untersagt werden, die Ausbildung von Ärzten verbreitet den Irrtum, daß es Krankheiten gibt« – diesen Bluff mitzumachen, wäre sie viel zu vorsichtig gewesen.

Da in den Gesundbeter-Kirchen die Heilwirkung der Gebete auf Magen und benachbarte Gebiete schwächer zu werden beginnt, tun sich rings neue Kirchlein auf, aus richtiger Erkenntnis, praktischer Erfahrung, Quacksalberei, systematischer Beduselung Stein um Stein aufgerichtet. 393 In Salons und Sälen der reichen Viertel vereinigen sich die Snobs, Fads und Cranks, um allen möglichen Adepten orientalischer Religionen zuzuhören, gesund aussehenden, olivenbraunen und kuhäugigen Jünglingen mit fünfzehnsilbigen Namen, die den Herren und Damen allerhand Atemübungen und spirituelle Taschenspielerkunststückchen vormachen, (Mazdaznan und ähnlichen Schnickschnack); all diese Stückchen haben eine erhöhte Leistungsfähigkeit in ausgesprochenen oder nur angedeuteten Beziehungen zum Zweck.

Durch die Nachbarschaft solcher unernsten, aber ernstgenommenen Modebekenntnisse werden neue Gemeinschaften diskreditiert, leiden Abbruch an ihren bestgemeinten Bestrebungen. Nach einem Aufenthalt von weiteren drei Monaten revidiere ich meinen ungünstigen Eindruck von der Michigan-Avenue in Chicago und gestehe, daß in manchen dieser neuen Kirchen Großes, Ernstes und Haltbares sich zwischen Menschen aufbaut, wenn sie auch bombastische Namen auf ihren Fassaden tragen: die Kirchen des »Neuen Glaubens«, des »Höheren Lebens«, die »Kirche der Menschheit«, der Universalisten, der Spiritualisten, der Christadelphiker und wie diese Kirchen 394 des mehr oder minder freidenkenden Amerikas alle heißen mögen. –

Bei all diesen Tendenzen läuft die Grenze zwischen Sinn und Irrsinn Gefahr, ebenfalls verwischt zu werden. Der Wallstreet-Krösus mag ruhig, eh er in sein Bureau geht, in der Früh zum Hellseher laufen, um die Kurse zu erfahren, die die Mittagsbörse zeitigen wird. Auch um die Leute, die zwischen Glauben und Aberglauben in seelischen Dingen nicht zu unterscheiden wissen, ist nicht schade. Wo aber sind die Grenzen zwischen Seelennot und der Not des äußeren Lebens in diesen ringenden, hastenden, irrenden und doch im Grunde naiv gütigen und reinlichen Menschen gezogen? Die Unruhe, die all diese kuriosen und befremdlichen Verästelungen treibt, wächst auf dem Boden des großen, fundamentalen Widersinns, in dem diese Gesellschaft ihre Wurzeln verankert hat. Das rasche Tempo, in dem sich die Verhältnisse in Amerika entwickeln, hat unter anderem der Welt auch deutlich gezeigt, daß die Institution der Kirche sich überlebt hat. Mag Amerika rasch, und um so gründlicher mit dem ganzen mittelalterlichen Plunder fertig zu werden, auch noch das gefährliche Experiment mit der katholischen Kirche machen. Es wird in Amerika ohne Zweifel bald erledigt und abgetan sein. Für die Kirche von Morgen, deren Seelsorger heute die Umstürzler sind, bedeutet es wohl keine ernste Gefahr.

 


 << zurück weiter >>