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Nach 7 Tagen in Newyork, bei einer Durchschnittstemperatur, die einen Heiligen unwirsch machen könnte, finde ich nichts, was mich mit Haß oder Verachtung gegen die viel verleumdeten Newyorker erfüllen könnte. Kauen tun sie wohl, aber, Herrgott, laßt sie doch kauen! Ihr Klima absorbiert viel Feuchtigkeit, darum müssen sie viel Wässeriges in sich hineinpumpen, davon werden ihre Magenwände unwillig, und der Speichel muß nachhelfen. Auch sind ihre Zähne schlecht und brauchen Betätigung. Sie werden wohl das Kauen 51 nötig haben. Solange sie mir ihren ausgelutschten Kautschukbrocken nicht auf die Stuhllehne schmieren, kann's mir gleichgültig sein.
Und was die Hemdärmel anbetrifft: ich habe selber 52 am zweiten Tag nach meiner Ankunft mutig den Rock über den Arm gelegt und hab mich mit meinem reinen Hemd unter den andern Reinhemdigen ganz wohl gefühlt.
In diesen mit flüchtigem Herumstreifen angefüllten ersten Tagen war einer meiner besten Eindrücke von Newyork: man sieht keine Uniformen auf der Straße!
Ich komme aus Berlin und weiß diese Wohltat zu schätzen. Aus Berlin, wo sogar die Nachtwächter als nachgemachte Leutnants herumlaufen, und der grimmige Funktionär, der mir den Strahl von seinem Wasserwagen auf die Hose dirigiert hat, mich hoch von seinem würdigen Bock herunter anschnauzen darf, weil er eine staatlich sanktionierte Uniform am Leibe trägt. Die Uniform wie der Lakaienfrack ist doch das Zeichen dafür, daß einer dient, nicht daß er befiehlt, es mögen von ihr so viele Orden herunterbaumeln, wie nur irgend drauf Platz haben. Die Vorstellung, daß einer, der auf seinen Knöpfen Zahlen oder Reliefe hat, mir, der ich mit simplen Hornknöpfen herumlaufe, Befehle erteilen darf, ist eine europäische Vorstellung, das seh ich schon. In Amerika, an dessen Pforte die Freiheit ihre Fackel hochhält, ist die Uniform aufs Minimum reduziert. Der Mann, dem ich in der Tram meinen Nickel zu bezahlen habe, trägt eine Mütze, die mich darauf aufmerksam macht, daß Er der Mann ist, dem ich meinen Nickel zu bezahlen habe, sonst aber sein graues oder blaues, fertig gekauftes Gewand. Ein Preuße, dieser Dinge nicht gewohnt, mag an der nächsten Haltestelle entrüstet aufspringen und dagegen Einspruch einlegen: daß soeben vorn ein ältlicher, hemdärmeliger Herr mit einer Zigarre im Mund auf den Tramwagen aufgesprungen ist und die Kontaktkurbel zu drehen anfängt, ohne die Zigarre aus dem Mund zu tun. Es ist ein staatlich sanktionierter geprüfter Mann, obzwar er kein Abzeichen seiner Würde auf sich genäht hat, beruhige dich, Mitteleuropäer! Er wird ohne Aufhebens: »Hallo, my boy« rufen, wenn an der nächsten Straßenecke Mr. Taft ihm ein Zeichen macht, daß er 53 aufzusteigen gedenke. Er verdient seinen Unterhalt wie dieser, er ist »in his job« und Taft ist in seinem, genau so der eine wie der andere.
Ich sitze in der Halle meines Hotels unten, plötzlich ist Militärmusik zu hören. Alles stürzt hinaus, das Militär zu sehen, ich stürze mit. Ein Regiment marschiert vorüber, in bequemem, zweckgemäßem Khaki, es ist heiß, Röcke offen, Hosengurt locker, Hemd über dem Hals frei, Gewehr so herüber und so herüber, eine Schar von Gentlemen, Offiziere und Mannschaften tragen ihr Gewand im Bewußtsein, daß es das für ihre Zwecke entsprechendste sei, das es gibt – – ich habe in meinem ganzen Leben noch nie Soldaten und Offiziere von so intelligentem Aussehen gesehen, wahrhaftig. Es ist kaum einer unter ihnen, den man sich nicht in Harvard, Yale oder Cornell vorstellen könnte, auf einer Universitätsbank sitzend. Das Publikum meines Hotels macht liebevolle Augen, die Gentlemen aber schiert das wenig, sie gehen, rauchen, kauen, reden mit ihrem Vordermann oder Nebenmann, putzen sich die Nase, wischen sich die angelaufenen Kneifer sauber, es gibt keine Wehrpflicht, sie verdienen sich ihr Brot, »they are in their job«. – Hier herüben wird keiner von den jungen Staatsbürgern, wenn man ihn nach dem Mittagessen in seinem Elternhause aus Höflichkeit zwischen die Knie nimmt und fragt, nun Kurtchen, was willst du einmal werden: neben dem Beruf des Aviatikers und Chauffeurs auch den des Leutnants angeben, weil der so schön angekleidet ist; hier herüben gewiß nicht.
Das einzige (unauffällig) kostümierte Wesen, das mir hier in Newyork bisher begegnet ist, ist der Schutzmann, der Bobby. In Preußen geht er bekanntlich herum, damit keiner von den Zivilisten auch nur einen Augenblick vergessen soll, daß einer hinter ihm her ist. Hier, glaube ich, nach den unsympathischen Gesichtern dieser irländischen und schlechtbeleumundeten Individuen zu schließen, ist ihre Uniform eine Mahnung an den Passanten: Hilf dir selbst!
54 Ich glaube, wenn ich meinem Kombinationsvermögen das Bummeln freigebe, wie meinen Füßen und Augen in diesen paar Tagen dahier: ich glaube, diese Abwesenheit von Uniformen hängt irgendwie unterirdisch mit der Ursache der Klagen meiner Newyorker Bekannten zusammen, über die Phantasielosigkeit und Nivellierungssucht des Amerikaners. Jede noch so geringe Auffälligkeit in der Tracht und im Privatleben, in den Äußerungen und in der Betätigung des Einzelnen soll hier streng geahndet und verurteilt werden, höre ich viele klagen, und ich fange an, das an Kleinigkeiten vorerst ringsum wirklich zu bemerken. Davon später, im Herbst.
Abends, wenn die hohen Häuser des Geschäftsviertels das Mammonfutter der kleinen Leute alle aus ihren Toren speien, und die kleinen Leute laufen eilig nach den Fähren und heim, nach Brooklyn, Bronx, Hoboken, da stehe ich an einer Ecke und sehe zu, wie diese gesitteten, bleichen, von harter Arbeit erschöpften Menschen an mir vorbeilaufen. Nachts streiche ich in den verrufenen Vierteln der Bowery, von Chinatown, tagüber in allen vier Ecken der Stadt, bei den Juden, den Armeniern, Italienern, Franzosen, in den Docken und Massenquartierstraßen herum.
Ich erinnere mich an einen kleinen polnischen Schneidergesellen, der letzten Sonntag nachmittag neben mir in der Bibliothek sich Mickiewicz in der Ursprache hat geben lassen. Ehe er den Lederband in die Hand nahm, hat er seine schwitzenden und zerstochenen Finger erst ein paar Minuten lang mit seinem Taschentuch gerieben und gerieben und getrocknet und gesäubert, ich habe ihm zugesehen, es war sein freier Nachmittag. –
In der Bowery torkelt ein betrunkener Kroat bei Nacht herum, hält einen halben Zehndollarschein in der Hand, schwitzt und flucht. (»Porco Dio, ich bin ein Italiener!« flucht dieser ungarische Kroat – auf deutsch! 55 Das ist Österreich!) Er ist eben angekommen, eine Menschenmenge ist im Nu um ihn herum, ich mitten drin. Alle Sprachen der Welt sind zu hören – Dollar ist das einzige Wort, das alle zusammen in der selben Sprache aussprechen. Alle wollen wissen, was es mit dem zerrissenen Schein auf sich hat. Der Kroat hat noch drei ganze in der Hand, fuchtelt mit der Hand, flucht und heult. Um ihn her der »Abschaum« der fremden Stadt. Aber alles hilft; alle suchen; wo ist die verlorene Hälfte vom Zehndollarschein geblieben; alle wollen aus dem armen Hund herauskriegen, wo er herkommt; rennen in alle Butiken, alle Spelunken rings, helfen, suchen, fragen – und fangen erst zu lachen an, wie der Porco-Dio-Mann auf der Straße niederkniet und anfängt, mit inbrünstigen Küssen auf seinen schmutzigen Rosenkranz seine Madonna um Beistand gegen diese Schweine hier herum anzuflehen! –
Ich speise in einem der kleinen »quick-lunch«-Restaurants in einer Seitengasse des Broadway zu Mittag. An dem langen Eßtisch ist nur ein Platz frei, neben mir. Ein Mensch kommt zur Tür herein, ich seh ihn kommen, da sitzt er auch schon neben mir. Er ist abstoßend häßlich, sieht gemein und gierig aus. Das ist der Mann vom Broadway, sag ich mir, einer von der übelsten Straße dieses Kontinents. Wenn er schon da sitzt neben dir und dir den Appetit ruiniert, entschädige dich, indem du ihn 56 von der Seite her beobachtest; schau dir das Exemplar mal gut an.
Er bestellt sich eine Schale mit Reis, eine kleine Flasche mit Milch, kriegt sein Brot, manscht all das durcheinander und beginnt gierig zu fressen. Er ist arm, das Gericht da ist das Billigste auf dem Zettel, er schlingt es hinunter, man hört den ganzen Apparat, ich sitze da und warte. Bei dem letzten Mundvoll beginnt er das Geld aus seinen Taschen centweise zusammenzukratzen, er hat wenig Zeit, Gott sei Dank, ich habe ihn nun gesehen, er mag abfahren. Er hat das Geld jetzt beisammen – was ist das? Er schiebt dem Mädchen 5 Cent hin, dazu ist man ja hier garnicht verpflichtet! Aber, 5 Cent hin, 5 Cent her, er wird jetzt gehen, Gott sei Dank. Ich habe mir in Scheiben geschnittene Pfirsiche mit Milch bestellt und warte, bis der neben mir aufsteht, um mir mein Essen nicht durch seine unrasierte, klebrige Gegenwart zu verekeln.
Er steht auf, zieht seine Hose mit einem Ruck in die Höhe, und ich bohre wie auf Kommando meinen Löffel in den Pfirsich auf meinem Teller.
Nach fünf Schritten kommt der Mann zurück, schiebt mir seine noch zur Hälfte volle Flasche Milch hin und sagt: Diese Milch schmeckt besser zu Pfirsichen, ich versichere Sie, als die, die Sie bekommen haben. Es ist eine andere Sorte Milch – »use«! Dann trollt er sich, ohne meinen Dank abzuwarten.
Ich esse Pfirsiche nie mit Milch dazu, diesmal aber schütte ich die halbe Flasche des Mannes vom Broadway auf meine Pfirsiche und löffle das Ganze langsam hinunter.
Einer von dem Broadway. Ein häßliches, armseliges, übel lebendes Menschenexemplar. Aber weshalb soll ich in ihm nicht den typischen Menschen dieser Straße und dieser Stadt sehn? Damals, wie er hereinkam, gierig und gemein aussehend, damals war er der typische Mann vom Breiten Weg – und jetzt, wo er mir Gutes getan hat, sollte er es auf einmal nicht mehr sein?
57 Poe hat den »Mann der Straße« in einem unheimlichen Bummler durch die nächtige Stadt gesehen, und seither ist das der Mann der Straße.
Jener hier aber kam herein, setzte sich an die Seite eines Unbekannten, der gegen ihn nur Übelwollen im Herzen empfunden hat, obzwar er nichts wußte, dieser in einem teuern Hotel der Stadt Lebende, von ihm, dem Kämpfenden, Cents aus allen Taschen Zusammenkratzenden. Der Arme hat dem Reichen sein Übelwollen mit Gutem vergolten. Er hat an seinen Nebenmenschen gedacht in seiner Armut, der Mann vom Broadway. Und wenn ich auf Broadway, der übelsten Straße des Kontinents, an der Ecke dieser kleinen Nebengasse hier vorüberkommen werde fortan, dann werde ich einen Geschmack von Milch auf den Lippen spüren, milde und besser schmeckend als die Milch, die man sich kaufen kann für Geld.