Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Zwei Freunde der Kinder in Denver

Der Eine

Was fang ich mit dir an, Paul? Ich denke, das Beste für dich ist, ich schicke dich nach Golden.«

»Ich geh nicht nach Golden. Ich will nicht nach Golden; ich will nach Hause, dort gehör ich hin!«

»Aber Paul, wenn du zu Hause bist, vergeht keine Woche und du fängst wieder mit denselben Streichen an. Treibst dich tagüber herum, schwänzt die Schule, bleibst nachts aus. Du bist kein schlechter Junge, Paul, ich kenne dich ja, aber du bist ein schwacher Junge, das Beste für dich ist, glaub mir's, du gehst für eine Zeit nach Golden.«

»Schicken Sie mich nicht nach Golden. Ich mag nicht nach Golden!«

»Paul, wische dir die Augen und gib mir die Hand . . . so. Jetzt sage mir: hab ich dich nicht anständig behandelt (gave you a fair deal), damals, wie du mit den anderen Jungen die Overalls gestohlen hast? Damals versprachst du mir, du wolltest ein braver Junge sein fortan, und heut bist du wieder hier! Was fang ich bloß mit dir an?«

»Give me another chance! Ich mag nicht nach Golden!«

Eine kalte, harte Frau sitzt in der ersten Bank, und ihre grauen Augen sind wie zwei scharfe Messer auf den Jungen gerichtet, der ihr Kind ist. Sie nickt spöttisch zu jedem Wort, das er spricht. Dem Mann neben mir entgeht das nicht. Er streichelt leise die Hand des weinenden Knaben: »Du bist ein weicher Junge, Paul, du wirst es gut haben in Golden!«

»Ich will nicht. Ich will nach Hause »

275 Die Frau auf der Bank lacht spöttisch. Der Mann neben mir sagt: »Paul, sieh mich an. Hab ich dir damals nicht fair play gegeben? Wie hast du's mir vergolten?«

»Probieren Sie's nochmal mit mir. Ich geh nicht nach Golden!«

Der Mann neben mir seufzt, faltet die Hände, sieht die höhnisch und schadenfroh lächelnde Frau auf der Bank an, denkt nach, sieht von der Frau zum Jungen, sieht auf seine gefalteten Hände nieder . . .

 

Die Szene ist ein amerikanischer Gerichtshof, der Kindergerichtshof zu Denver, Colorado, und der Mann neben mir, der Mann, der mich eingeladen hat, einer Sitzung seines Gerichtshofs beizuwohnen, ist Richter Ben Lindsey, »honest Ben«, der Abgott der Kinder Amerikas und einer der edelsten und darum populärsten Männer des großen Landes.

Es ist eine öffentliche Sitzung; etwa 60 Menschen sind da; auf der Anklagebank sitzen 10 Kinder, alle zwischen 10 und 14 Jahren.

Der Probationofficer, ein Funktionär, dessen Beruf es ist, die Kinder zu beaufsichtigen, die schon einmal hier vor Gericht gestanden haben, aber durch die Milde und den gerechten Spruch des Richters mit Ermahnung und Handschlag zu ihren Eltern zurückgehen durften – der Probationofficer steht auf und ruft einen Namen in den Saal.

Drei kleine Wesen erheben sich zugleich und kommen zum Tisch des Richters heran. Es sind zwei kleine Kinder, ein Knabe von 14, ein Mädchen von 10 Jahren, zwischen ihnen humpelt ein altes, verhärmtes Mütterlein in schwarzer Mantille daher, nicht größer als ihre Kinder.

Lindsey winkt das Mäderl heran und macht ihr den Mund auf. Der Saal lacht.

»Brav!« sagt Lindsey. »Brav, Filistes! (Felizitas.) Ich sehe, du hast die Zahnbürste benutzt, seit dem letztenmal. Aber, Filistes, dein Gesicht ist schmutzig. I am 276 sorry, du hast heute morgen dein Gesicht nicht gewaschen. Zeig deine Hände her! O weh!« »Judge, you bet, ich hab mein Gesicht heute gewaschen; es ist nur wieder schmutzig geworden.«

Das Kind ist die Schwester des vierzehnjährigen Jungen, der der böse Geist des Knaben Paul ist; der ihn zu allerhand kleinen Diebstählen, nächtlichen Trinkereien, Kinematographenbesuchen und Ärgerem verlockt. Filistes ist nur als Dolmetscherin erschienen. Das Mütterlein, eine verschrumpelte kleine Wiener Jüdin, hat in den siebzehn Jahren, seit die Familie hier herüben ist, die Sprache des Landes nicht erlernt, ist zudem stocktaub. Der Junge ist der Typus des degenerierten Juden. Eine dicke Brillantennadel in seiner Krawatte verkündet seine Weltanschauung.

Der Richter sagt Filistes, was er von ihrem Bruder Gary hält. Filistes schreit der Mutter in die Ohren: »Er sagt, Gary muß gehn nine o'clock ins Bett, und wenn er noch amol wird gekätscht playing cards, wird er gehn nach Golden für e Jahr!«

Die Mutter winselt etwas auf deutschjüdisch, Filistes übersetzt es in fließendes Englisch. Im Slang natürlich, dem Jargon der Ärmsten, aber Richter Lindsey versteht den Jargon, spricht sogar in seinem Richterstuhl selber im Gassenbubenjargon mit den Gassenbuben, als ihr Freund und Berater, der von ihnen verstanden sein will.

»He's no bad Kid, she says; she will go round an' look for a job for Gary, so dont you send him to Golden, says she.«

Dann übersetzt Filistes wieder:

»Er sagt, er weiß, wir sein arme Leit und Gary muß treien (to try, versuchen) gut zu machen (to make good), so er will Gary geben ä Tschänz bis first vom Dezember, wenn er sich nix gut aufführt, muß er nach Golden.«

Die Mutter legt für Gary die Hand ins Feuer, Gary hat bei der Western Union (Telegraphengesellschaft) als Messenger schon zehn Dollar die Woche verdient.

277 Lindsey: »The trouble is, Filistes, you know Gary, he cant stick to a job (nicht an einer Beschäftigung kleben, bei ihr ausharren), when he's got some

Filistes zur Mutter: »Er sagt, Gary kenn nicht sticken zu ä Dschab, das is die Matter wis ihm!« (Exempel von Amerikanerdeutsch.)

Es sind arme Leute. Der Probationofficer hat im Haus kaum eine Brotkruste zu essen gefunden. Der Junge muß die Familie erhalten, denn die Älteste, die ihr Brot auf ihre Weise verdient, hat die Familie im Stiche gelassen. Was ist zu tun? Der amerikanische Richter neben mir, honest Ben, der Freund der Kinder, erlebt mehr Katastrophen, als sein zarter Körper und die große Seele, die in ihm wohnt, aushalten kann. –

 

Wenn er sich erhebt, so ist er nicht größer, als ein vierzehnjähriges Kind. Vielleicht verschafft ihm auch dieser Umstand solche Gewalt, solche innere Gewalt über die Kinder. – Grade, ohne sich zu bücken, kann er ihnen in die Augen schauen. Er nimmt ein Kind bei den Schultern und seine Arme liegen wagerecht zwischen ihm und dem Kind. In seinem feinen Gesicht ist derselbe junge Zug, wie in dem William R. Georges, auf den er große Stücke hält. Aber die Kinder Colorados nennen ihn nicht daddy, wie jene von Freeville ihren Freund, sondern: »our little Ben

Oft vergessen sie ganz, wo sie sind, und ein Geschwätz und Gekicher entsteht wie in einer Schule, wenn der Lehrer zur Tür hinaus ist. Da schlägt der Richter mit der Handfläche auf den Tisch:

»Hello, Kids!«

Die Kinder lachen und machen dem Richter Zeichen, daß sie schon ruhig sind; die Verhandlung geht weiter.

Lindsey spricht mit den Kindern wie ein Erwachsener zu Erwachsenen. Das ist ein weiterer Grund, weshalb die Kinder ihn lieben. Wie lernt man in Amerika, wo das Kind schon als Mensch, nicht als Spielzeug und nicht als kleines Tier behandelt wird, über all die 2780 Fitzebutzereien lachen, die in Deutschland Unsitte geworden sind. Was bekommt einem Kind und was will es im Grunde? Daß man es als ein vernünftiges Wesen anerkenne. Einem, der einem Kinde mit vielen geheimtuerischen Gebärden ein Märchen erzählen oder aufbinden will, mißtraut das Kind – fühlt sich beleidigt und wird im Verkehr mit ihm zum Lügner werden. Der amerikanische Lehrer, Richter, ist ein Freund und Kamerad des Kindes, und oft kommt es vor, daß die Mutter oder der Vater des Kindes im Gerichtssaal erregt aufspringt und ruft: »Das ist eine Lüge! Jetzt lügt er!« und dabei spricht das Kind, verlaß dich drauf, jetzt sicherlich die Wahrheit. Nicht weil es in einem Gerichtshof steht und eingeschüchtert ist, sondern im Gegenteil: weil es an dem Menschen, dem es gegenübersteht, das Menschliche, die schöne Gerechtigkeit, das von Gott in die guten Menschen gepflanzte Gebot der Gleichheit gefühlt hat in seinem Kinderherzen.

Wie viele Kinder an Körper und Seele ruiniert worden sind dadurch, daß man sie kleiner Verbrechen halber in die elenden, überfüllten und unsauberen Kreisgefängnisse mit alten und verhärteten Sträflingen zusammengesperrt hat, das weiß der Himmel allein. Lindsey hat sich ein unvergängliches Verdienst geschaffen durch die Ausrottung dieser Barbarei, und die Staaten haben es nun fast alle Colorado nachgemacht. In Golden ist eine Industrieschule, und die Kinder, die (in der Regel für acht bis zwölf Monate) hingeschickt werden, haben es dort besser als in den üblichen »Reformatories«. Ihre Erziehung beginnt zudem schon auf dem Wege nach Golden. Das Kind wird allein, ohne Begleitung, nach Golden geschickt. Mag es, so kann es unterwegs ausreißen. Von den Hunderten Kindern aber, die Lindsey nach Golden schickte, sind nur sechs ausgerissen bisher.

 

Seit zehn Jahren versieht Benjamin Lindsey sein schweres Amt, das mit vollem Gewicht auf dem zarten, überbürdeten Mann lastet. Er hat es durchgesetzt, daß 279 er von seiner Macht den Gebrauch machen konnte, den ihm sein Gewissen vorschrieb. Leicht hat man's ihm wahrlich nicht gemacht. Ein Mann, der das Verbrechen nicht als Verbrechen betrachtet, sondern ihm in seine Ursprungsquellen nachfolgt, wird bald eingesehen haben, daß diese sich in den vornehmen Quartieren der Finanz und Politik befinden. In seinem Privatbureau zeigt mir Lindsey eine Karte der Elendsquartiere von Denver. Wie die Tuberkulose ist in diesen übervölkerten Distrikten das Laster und das Verbrechen daheim. Die richtigen Schlupfwinkel, in denen sich diese verborgen haben, sind aber in den Kneipen der im Dienste der Politiker arbeitenden Volksvergifter zu suchen. In den Hinterzimmern dieser Kneipen tut Alkohol und Dame Syphilis das Ihre, um Kindesseelen und Herzen zu vergiften. Wenn irgendwo, so ist hier im »wilden und wolligen Westen« der Saloonbesitzer der einflußreiche Helfershelfer des Politikers, des Grafters. Der Fuselduft riecht der amerikanischen Politik übel aus dem Brustton heraus, mit der (besonders vor den Wahlen) die Ideale verkündet werden. Die Winkelbordelle dort in den Hinterzimmern sind nur eine von den kleinen Vergünstigungen, die der einflußreiche Herr in Washington an seinen getreuen Spießgesellen vergibt, für gut geleistete Dienste. Der Bobby, der Polizist, hält daweil vorne Wacht, damit das Geschäft nicht beeinträchtigt werde. –

Die überfüllten Quartiere des Elends und der kleinen und großen Korruption hat nun dieser einzige Mann, der interessanter ist als alle Berge und Minen Colorados, mit eingelegter Lanze angerannt. Die Feinde, die Mächtigen des Landes, haben natürlich alles getan, um ihm sein Handwerk zu legen, ihn zu beseitigen. Nun aber haben die Frauen in Colorado das Wahlrecht. Und zudem sind ja die Kinder Amerikas eben – Amerikaner! Von großen Kämpfen hörte ich in Denver sprechen. Kämpfen, die damals ausgefochten wurden, als keine der Parteien, weder die demokratische noch die republikanische, diesen 280 unbequemen Mann, der, wenn es heut einen in der Welt gibt, ein Sozialist ist, auf ihre Wahlliste setzen wollte.

Die Frauen und die Kinder hatten aber den Namen Lindsey auf ihrer Wahlliste stehen, und so wurde Lindsey gewählt und in sein Amt gesetzt, das er im Namen der großen Partei der Menschlichkeit getreu verwaltet. Damals als es Ernst war, zogen die Kinder durch die Straßen Denvers, so habe ich es in Denver erzählen hören. Aus allen Stadtteilen, den reichen und den armen, den vornehmen und den übervölkerten, kamen kleine Kinder, Knaben und Mädchen, in Scharen auf die Spielplätze herausgelaufen und berieten, was zu tun sei. Dann formten sie sich zu Zügen, zu einer Armee, und diese Armee marschierte durch die Straßen der verblüfften und beängstigten Stadt. Die Armee hielt vor den Fenstern der politischen Klubs und schrie sich heiser, um denen dort hinter den Scheiben zu zeigen, wie sie gesinnt sei. Hinter den Scheiben aber war es ganz still geworden, und keiner von den Männern, die die Geschicke des Landes verwalteten, traute sich an die Fenster heran, aus Furcht, er könnte das zornige Antlitz seines eigenen Kindes dort unten auf der Straße erblicken. Eine Dame, die ich im Gerichtssaal kennen lernte, erzählte mir von diesem Kreuzzug der Kinder Colorados. Sie hatten eine kleine Marschweise, einen kleinen Vers gemacht, den sie mit ihren Tausenden von hellen Stimmen sangen. Dieser Vers, kunstvoll und echt wie jener, den die Kinder Nürnbergs dichteten, als der Zeppelin an der Tagesordnung war, lautete:

»Who? Where? When?
We wish, we were Men!
So we could vote for our Little Ben!
«

Den Leuten hinter den Fenstern blieb darauf weiter nichts übrig als zu kapitulieren.

 

Nach Golden geht ein Junge erst, wenn in der Freiheit mit ihm gar nichts mehr anzufangen ist. Wenn er keine Eltern hat oder solche, die diesen Namen nicht 281 verdienen. Die große Mehrzahl wird aber auf »Probation« freigelassen und ihre Aufführung in ihren Heimen von eigens beauftragten Männern und Frauen (Officers) überwacht. Viele Frauen übernehmen solche Ämter freiwillig, alleinstehende verwitwete Frauen, die sich auf solche Art einen schönen Lebensinhalt schaffen. In Newyork hörte ich, daß dort in Verbindung mit dem Kindergerichtshof eine Institution besteht, die Institution des Big Brother, des »großen Bruders«. Freiwillig melden sich junge Leute, Studenten, Studentinnen, jeder, jede beaufsichtigt ein einziges Kind, ist sein Freund, sein Berater, wird auf Jahre hinaus sein täglicher Genosse und Beschützer.

Jeden Samstagmorgen ist Reportday. Da kommen die Kinder, die auf Probation freigelassen wurden, vor dem Richter zusammen und zeigen die Zettel vor, auf denen die Lehrerin ihr Betragen während der Woche vermerkt hat. Lindsey hält eine Rede. In dieser Rede kommt Christus vor und das Übel, dem der Mensch Widerstand leisten soll. . . .

Dann folgt ein kleines weltliches Frag- und Antwortspiel.

»Ich brauche starke Jungen. Wer ist ein starker Junge?«

»Der zehn Stunden Veloziped fahren kann!«

»Der zwölf Dollar die Woche verdient!«

»He who resists – der widersteht!«

»Richtig! Resists – what?«

Aus einer Ecke kommt's: »Stehlen.« Aus einer anderen: »Rauchen.« Einer ruft: »Temptation!« Und der hat's erraten.

Einzeln kommen die Kinder an den Tisch des Richters heran. Lindsey kennt jeden, erinnert sich genau an seinen vorwöchigen Zettel. Wer diesmal einen besseren hat, wird belobt. Er wird mit dem Gesicht nach dem Saal herumgedreht, und Lindsey verkündet: »Dies hier ist Mike oder Jack Soundso, ein Muster und Exempel für euch dahinten, hört ihr's?«

282 Einer hat einen zweifelhaften Bericht mitgebracht.

»Was ist das mit uns beiden, Johnny? Willst du mich zum Lügner machen? Was denkt deine Lehrerin von mir? Daß ich ein Mensch bin, dem man allerhand weismachen kann, sonst säßest du ja längst in Golden.«

Das Kind hat seinen Kopf auf den Tisch gelegt. Nachher sind zwei große nasse Flecken auf einem staatlichen Löschpapier. »Well, be a square kid. Cheer up. Dont make again a liar of me.« Und es ist zehn gegen eins zu wetten, der nächste Report wird sich sehen lassen können.

Und sie defilieren vorbei, die Kleinen, die Kleinsten, Diebe, Mörder, gefährliche Einbrecher, jeder wird mit gutem Blick belohnt, mit einem ängstlichen und traurigen verwirrt und gebessert. Hie und da verschwindet einer oder der andere der Jungen im Privatbureau dort hinten und dann geht durch die Reihen das Flüstern: Golden! Golden! Aber das steht noch gar nicht so fest. Ein Wort, ein Blick des Kindes kann diesen Menschenrichter umstimmen, und das ist sicher, der einmal durch's Fegfeuer des Privatbureaus ging, kommt als ein Geläuterter hinunter auf den Platz vor dem Gerichtshaus, wo die anderen Kinder auf ihn warten, in Gespräche über ihren little Ben vertieft.

 

Der Andere

Bemerkenswerte Aufregung vor der Redaktion der »Denver Post«. Auf der Straße stehen Tausende und schauen zu einem Brett im ersten Stock hinauf, wo ein Baseballfeld abgebildet ist. Hinter dem Brett tickt in der Stube der Telegraph, eine Minute nach dem Wurf in Philadelphia erscheint ein Glühlichtzeichen auf dem Brett, den Wurf anzeigend.

Ein Megaphonmann brüllt Worte in die Menge hinunter, jedes Wort wird mit einem Tumult von wütendem Geschrei oder gellenden, entzückten Pfiffen begrüßt. Heute spielen die »Giants« und die »Athletics« in Philadelphia um die nationale Meisterschaft.

283 Auf einmal, während alles atemlos auf das nächste Glühlichtzeichen wartet, hört die Menge von der 17. Straße her ein Geschrei von hellen Kinderstimmen herbeikommen. Ich gehe zur Ecke und sehe einen fetten lachenden Mann inmitten sämtlicher newsies, der Zeitungsjungen der Stadt, die Straße entlang ziehen. Das ist der »König der Zeitungsjungen«, Noodles Fagan, der populärste Komiker Amerikas, er ist auf seiner Gastreise heute durch Denver durchgekommen.

Am Abend sitze ich und mit mir ganz Denver im Parkett des Varietés, in dem Noodles auftritt. Sämtliche Zeitungsjungen Denvers sind seine Gäste, zwei große Tagesblätter, die Post und der Daily, haben die Galerieplätze aufgekauft, und da sitzen oben die »newsies« und rufen nach Noodles.

Noodles kennt die Sippe und das Gewerbe genau. Eh er seine jetzige Stelle in der Welt ansehnlich ausfüllte, war er einer der Ihren gewesen. Heute hat er viele Preise gestiftet, der Kampf um diese Preise ist die Glanznummer des Programms.

Da stehen sie auf der Bühne, die zwanzig Tüchtigsten des Standes und korrespondieren durch Zeichen und Pfiffe mit den Gefährten auf der Galerie. Noodles hat heute früh auf der Straße eine Rede gehalten, die Abendausgaben bringen sie unter dem Porträt Noodles, der eine veritable Krone von Zeitungspapier auf dem Haupt trägt.

»Vor allem«, sprach Noodles Fagan, »muß ein Zeitungsjunge sich die Hände waschen. Welcher Gentleman mag eine Zeitung aus einer ungewaschenen Pratze entgegennehmen. Ebenso wichtig ist es, daß die Finger des Zeitungsjungen keine Spuren von Tabak aufweisen, denn erstens ist's gegen das Gesetz, zweitens verdirbt es die Gesundheit, und drittens hat ein ehrlicher Junge sein ehrlich erworbenes Geld seiner alten Lady daheim mitzubringen und es nicht in Zigaretten, Candy, Kaugummi und ähnlichen Delikatessen anzulegen, die sich heute nur noch Pierpont Morgan erlauben darf.«

284 Noodles ist in ganz Amerika bei den Gassenjungen so populär wie der beste Baseballspieler, und das will was heißen.

Auf der Bühne geht der Kampf vor sich. In einer Reihe stehen sie da, die Erwählten des Zeitungsjungenstandes. Vorne steht Noodles, er hat eben das Thema des Kampfes angegeben.

Es soll also ein Eisenbahnunglück passiert sein, und die Zeitungen bringen soeben die erste Nachricht an die Öffentlichkeit. Wer diese Nachricht in kürzester und prägnantester Form, auf die sensationellste Weise ins Parkett hinunterbrüllt, erhält den Preis, einen Dollar.

Nacheinander brüllen die Jungen. Hinter jedem einzelnen Gebrüll ertönt das Gesamtgebrüll der Galerie und das Unisono des lachenden Parketts.

»All about the big railway disaster!«
»All 'bout big 'way 'saster!«
»All bout this aster!«

Einer leistet sich die Extra-Sensation und ruft den Namen des Eisenbahnpräsidenten aus, der angeblich bei diesem Unglück ums Leben gekommen sein soll. Dieser wird unter ohrenzerreißendem Gebrüll abgetan.

Ein zerfetztes Kerlchen steckt den Dollar ein für die Lösung: »Rio Grande!« (Das ist die Bahn.) »'xti deads!« (kann -zehn und auch -zig heißen).

Allerhand andere Wettbewerbe folgen. Boxerkämpfe, sehr wichtig für den Fall, daß einer unberechtigt einem andern, der ältere Rechte hat, seinen Platz an der Ecke wegnehmen wollte. Ein sehr amüsantes Wettessen von Soda-Cakes, mit der Aufgabe, sofort nach dem Hinunterschlingen des pappigen Zeugs den traditionellen Zeitungsjungenpfiff hören zu lassen. Wobei es denen, die in der ersten Reihe des Parketts sitzen, schlimm ergeht.

Die Zeitungsjungen-Blechkapelle auf der Galerie spielt alle patriotischen Märsche, die sie kann. Noodles verneigt sich strahlend vor dem Publikum, das immer wieder nach ihm verlangt. Hinter dem Vorhang gruppieren sich 285 die newsies um ihren König zu einer wohlgelungenen Apotheose, die begeistert beklatscht wird, als der Vorhang in die Höhe geht.

Honest Ben, der Richter, und Noodles Fagan, der Liebling der Zeitungsjungen, beide sind Freunde der Kinder; beide helfen ihnen die Last des Lebens tragen; der eine auf seinen gebrechlichen Schultern, der andere auf seinen guten, fetten, runden. Beide helfen den Armen ihr Los tragen, jeder auf seine Weise. Honest Ben und Noodles Fagan, alle beide sind das große Amerika.

 


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