Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Nebel auf See

Am Morgen nach der großen Seekrankheit sieht man auf Deck getigerte, patinierte, marmorierte Gesichter. Aber das Meer ist ruhig wie die Spree bei Köpenick, und langsam kommt Rot in die Gesichter. Auf 22 Zwischendeck ist alles wieder heraus, an der Luft, das ist das Barometer des Ozeandampfers. Ein paar arme menschliche Bündel liegen wohl noch hier und dort platt auf den Bohlen herum, ein paar kleine, todblasse Kinder liegen wie arme gerupfte Hühner, das Gesicht zur Seite, neben den mütterlichen Röcken, die der Wind leise glatt bügelt – aber im ganzen ist das Volk guter Dinge. Es wird auch wieder Bier und Sliwowitz konsumiert dahier. Das Barometer steht auf Gut Wetter!

Piffl jagt über Tische und Bänke hinweg, Moischele rutscht sich das Fell vom Leibe über das Skylight des Zwischendeckspeisesaals, sein Vater erklärt seiner Mutter wieder mit Stößen in die Seite irgend eine Spitzfindigkeit der Megille – da tutet mit einem Male das Nebelhorn wie eine brustkranke Kuh aus der Odyssee, einen hohlen, mythologischen Laut, klagend in den Nebel hinaus, der weiß und dick wie Baumwolle vom Meer herein, von allen Seiten auf den »Kaiser Wilhelm den Großen« eindringt. Er ist dicht und dick und wickelt uns wie einen wehen Finger ein oder wie ich eine kleine kostbare Figur in meiner Handtasche unten eingewickelt habe!

Die gute Kuh brüllt in das Meer hinaus. Kein Gefährte antwortet. In solchen Stunden, wenn das Meer ruhig ist wie ein Fluß bei einer Stadt, da kann es passieren, daß Schiffe sich die Flanken aufschneiden, daß ein braver Segler verblutet und daß Menschen auf Holzstücken in die Runde hinausfliegen, patschend ins Nasse, worauf die grausamen Mitbürger aus dem Fischreich schon immer gierig lauern.

In solchen Stunden mag man sich wirklich an die Stirn greifen und sagen: wahrhaftigen Gottes, ein kostbarer Zustand, ein ungewöhnlicher Zustand, in dem wir uns da alle plötzlich beisammen befinden! In der Mitte von vielem Wasser, weit weg von allem, auf der flachen Hand Gottes, die uns leise schaukelt, in leisem Wellenschlag.

23 Aber die Leute dahier, sie gehen hin und her, bleiben stehen und schwatzen miteinander, als wäre das: auf einem stampfenden Schiff beisammen zu sein, auf einem flutenden Meere, im dichten Nebel, den kein Licht, keine Farbe, nur ein hohles Gebrüll durchdringen kann, das Allernatürlichste auf der Welt! Ich setze mich in meinen Deckstuhl und sehe den ahnungslosen Passagieren, meinen Brüdern und Schwestern in Tod und Leben, zu: wie sie sich in langen Schritten an mir vorbei ihren Appetit holen, in einem hartnäckigen Spazierlaufschritt, in nur etwas mehr wie einer Minute ums ganze Promenadendeck herum und so zwanzigmal, dreißigmal, fünfzigmal hintereinander!

Ich kenne sie jetzt so ziemlich. Neben mir, bei Tisch, sitzt eine nette Dame aus Ohio, die versorgt mich mit Klatsch, der auf dem Schiff unterirdisch sein Wesen treibt. Die kleine, schwarzangekleidete Familie geht an meinem Deckstuhl vorüber. Es ist die Mutter, der Sohn, die beiden Töchter. Die Kinder strotzen vor Gesundheit, die Mutter ist gelb wie eine Quitte, alle aber sind sie gleich ernst, ihre Gesichter wie leer, ausgeschüttet, keiner spricht. Als sie vor zwei Wochen herüberfuhren, waren sie noch fünf. Der Vater macht auch jetzt den Weg mit ihnen zurück in die Heimat, aber unten, im untersten Raum des Schiffes, in einem dunklen Sarg. Die drei verwitterten Spanier mit Namen aus der Armada-Zeit, nach Töchtern des Landes auf dem Auslug. Der kleine Clan der Spieler, der Wettenden, der Geräuschvollen schiebt sich breitspurig vorbei – diese haben sich am raschesten zusammengefunden. Ihnen ist die Ozeanfahrt weiter nichts als eine sieben Tage dauernde Möglichkeit, auf die zurückgelegte Meilenzahl zu wetten, von früh bis nacht in dem »Wiener Café« die Karten zu schleifen – diese da halten zusammen, ihnen ist das phantastische Leben, diese Abgetrenntheit und dies Zusammensein irgendwie durch ihre Spielerseele deutlicher als den anderen, leidenschaftslosen, ins Bewußtsein geraten – rasch müssen sie 24 einander kennen lernen, genau, sieben Tage lang wird das Glück ihnen dienen, wenn sie die Eigenschaften, Tugenden und Schwächen des Nächsten genau und scharf durchschaut haben, sie lassen sich gar nicht los, sieben Tage lang! Schon bilden sich Konstellationen unter den Seefahrern. Blicke; aufgehobene Bücher; verträumtes Stehenbleiben am Reling neben Einem oder Einer. Und da sind dann auch die, die sich absondern. Da ist dieses typische Ehepaar, das man aus den Zeichnungen von Charles Dana Gibson und von den Tables d'hote in Florenz, Rom, London, kennt: die verblühende Millionenerbin, die sich noch rasch einen Athleten gekauft hat. (Society-people, sagt meine Nachbarin, sie sagt es mit dem sympathischen Tonfall der arbeitenden Frau.) Morgens kommt Madame emailliert heraus, Perlen bis an den Gürtel, beladen mit Ringen, der Herr mit vagem, gelangweiltem Blick, einen langweiligen Roman vom William Le Queux unterm Arm. Schon vor dem Lunch sitzen sie in ihrer Staatskabine, deren Fenster aufs Promenadendeck hinausgeht, und spielen Karten miteinander. Am Abend nach dem Dinner tun sie dasselbe. Das Licht brennt in ihrer Kajüte: der Herr sitzt im Pyjama da, das elektrische Licht spielt auf seiner goldenen Brust – Madame hat zwei brennende Zigaretten im Mund, lächelt, gibt eine ihrem Partner hinüber, lächelt mit vagem Blick in ihren Augen, jetzt am Abend ist sie plötzlich zehn Jahre jünger als ihr Genosse. – Und dann gehen, unter so vielen Gleichgültigen, die Leute vorbei, denen man ihre Geschichte vom Gesicht herabliest. Da sind die Stolzen, die ihren ersten Weg hinüber im Zwischendeck gemacht haben und jetzt mit uns in der besten Klasse des Schiffes – vielleicht desselben Schiffes, das kaum zehn Jahre alt ist, fahren. Da sind die allzu Beweglichen, die wahrscheinlich denselben Weg umgekehrt beschreiben werden, jetzt voll Schlauheit und Berechnung alles ringsum zusammenhorchen, was sie nur irgendwie von ferne angeht, und eines Tages vielleicht unten zwischen 25 den Decken zurückschleichen werden in das minder grausame Europa, auf das sie jetzt schlecht zu sprechen sind. Dann die Blasierten, die sogar hier in ihrer Kaste eingesperrt sitzen; dann die Farblosen, die nichts gewinnen und nichts verlieren; dann die Hyänen des Schiffsflirts und jene, die sich gerne zerfleischen lassen, aber wie gern! Dann die und jene, die Galligen, die Zielbewußten, die Verträumten, und in all dieses Treiben hinein brüllt das Nebelhorn alle paar Sekunden lang seinen warnenden Laut hinein. Die Brust schmerzt von dem Ton. Man meint, das Plankton unten in der See müsse in Schwingung geraten von diesem Ton.

Ich liebe diesen Ton. Das ist der Akkord, in dem die Menschenseele und die Meeresseele beisammen ist. Alle die Töne, die das Lied, den Hymnus des Seefahrers bilden, sind enthalten in diesem Ton. Darin sind alle Worte, die sich die Fahrer auf ihre Flaggen und in ihre Herzen hineingeschrieben haben, auch diese unermeßlich großen: Navigare necesse, vivere non! Da ist der Flaggenschlag auf der Back der schweren Kasten Marco Polos, Magelhaens, Roald Amundsens, Shackletons drin in diesem Ton, und mehr als ein Geheimnis noch außerdem. Das weiß ich, von allen meinen Gefährten, die ihn heute mit mir hören, diesen Ruf des Nebelhorns, gehen mich ganz sicher jene am wenigsten an, die sich die Ohren zuhalten und wünschen: der Nebel ginge weg, damit das Brüllen endlich aufhört!

 

Vom Sonnendeck kommt ein Boy herab und bringt mir ein Telegramm. Ein freundlicher Herr aus Oklahoma bleibt stehen und sieht mir zu, wie ich das Telegramm aufmache und lese.

»Sad news?«

Ich schüttle den Kopf, danke ihm für sein Interesse, und er geht beruhigt seines Weges.

Jemand hat an mich gedacht auf dem Festland. Ein paar liebe Worte sind vom Festland her durch die Atmosphäre gezuckt, haben unser gutes, schnell dahinschießendes Schiff gesucht und gefunden und sind in den 26 Empfänger hineingelaufen, der oben auf dem Sonnendeck in der Marconi-Station sein Morse-Getick hören läßt.

Nein, wahrhaftig, wir sind nicht allein auf der Welt! Derselbe Geist, der uns wegzerrt vom Festen ins Ungewisse hinein, derselbe Geist, der unten die Kolben und Räder herumschwingt und ineinander fahren und beißen heißt, wie hier oben die Sehnsucht, die Blicke und die Leidenschaften der Menschen, dieser selbe Geist liegt immer tätig und bewußt um den ganzen Erdball und die Welt gewunden. Festland und Wasser, Erdball und Stern, Sonne und Äther sind nicht mehr getrennt, Mensch und Mensch gehört zusammen, Augenblick für Augenblick. Und ein Schiff im Nebel auf hoher See, drei Tage weit vom Festland weg, steht nicht einsamer da auf dem Erdball als ein Mensch in seinen Kleidern und Schuhen mitten in einem Volksgetümmel.

Oben auf Sonnendeck, in dieser phantastischen gelben Stadt aus Schloten, Windfängern mit offenen Rachen, Ventilatoren, schwingenden Booten und surrenden Stricken steht das kleine braune Haus, das die Verbindung herstellt zwischen uns Verschollenen und der sicheren Welt. Ich wollte, das Schicksal der Genies wäre dies eine Mal minder dumm und grausam gewesen, und die Strahlen, die hier in das braune Haus herein und aus ihm hinausfahren, führten den Menschennamen Hertz und nicht den nichtssagenden: Marconi. Das wäre recht und billig und ein wunderschönes Ding hätte einen guten Namen, der sich fast wie ein symbolischer Namen anhört.

Abends, wenn man unten in den Sälen sitzt oder schon in der Kabine im Bett liegt, da hört man plötzlich das Huiiii – tak tak – taktak des Telegraphisten oben, der über tausend Seemeilen weg mit der »Minnetonka«, dem »Cymric«, dem »Kaiser Wilhelm II.« spricht, der die Schiffe anspricht durch die Nacht und freundliche Antwort erhält von den Schiffen. In der Huiiii – taktak-Kammer da oben pocht das Herz des Erdballs.

Der Manipulant erklärt mir: man braucht die Richtung nicht zu kennen, in der sich der Angerufene befindet. 27 Man sendet seine Botschaft einfach in einen Umkreis von so und so vielen Seemeilen, denen eine Stromkraft von so und so viel Volt entspricht, hinaus – es wird der Richtige sich schon melden und antworten. Ich lasse den eifrigen jungen Mann sprechen. So oft er: »Marconi« sagt, korrigiere ich es in mir und sage: »Hertz«.

Und ich denke plötzlich auch daran, während ich vom Sonnendeck aufs Promenadendeck hinuntergehe, daß ich ja selber wie dieses Schiff nicht mehr so allein und romantisch durch die Welt segle wie in all diesen früheren Jahren. Sondern meine Reise gehört all den anderen, die es lesen werden, was ich mir erreise und woran ich vorüberreisen werde. Nicht mehr den sausenden Winden allein preisgegeben, sondern auch Menschenaugen, guten und harten zu gleicher Zeit. Menschen aus meinem Umkreis und aus weiteren . . .

Dieser Zustand ist mir so neu, wie's etwa dem »Kaiser Wilhelm der Große« neu und vielleicht unbehaglich vorkam, als man ihm das braune Häuschen auf den Rücken hinaufgebaut hat. Aber ich fühle, trotz allem, deutlich die überschwengliche, edle und unersättliche Lust: zu reisen, zu reisen, und es überkommt mich, auf der letzten Stufe, auf einmal die bizarre Vorstellung: Daß wir Menschen zur See allein gelten. Daß wir allein leben und sind, wirklich da sind und leben, wir, die wir zu zählen sind, und nicht die Ungezählten auf dem Festland!

Jetzt zieht ein Gewitter durch den Nebel hindurch. Aluminiumfarbige Blitze fahren durch die milchweiße Mauer, spalten sie in zahllose weiße Schichten, Schleier, Vorhänge, die hintereinander vom Himmel bis zum Wasser herunterhängen. Dann zieht der Nebel plötzlich dem Gewitter nach. Das Nebelhorn verstummt. Ich stehe mit dem Papier in der Hand vor der Reling und lese die Worte nochmal durch, die durch die Atmosphäre bis zu mir gekommen sind. Jetzt ist das Meer wieder hell und ganz ruhig.

Wir fahren wieder mit voller Kraft. 28

 


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