Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Bemerkungen über Hullhouse und die »südlichen Parke«

In vorigen Kapiteln habe ich wiederholt, daß ich die Bemühungen der meisten Institutionen, die sich die Verbesserung der Lage der Armen innerhalb unseres 322 heutigen wirtschaftlichen Systems zur Aufgabe gemacht haben, für ephemer, um nicht zu sagen schwindelhaft und schadenstiftend erachte. Der heutigen Ordnung oben ein bißchen die Zweige zu beschneiden und ihnen ein bißchen Philanthropie aufpfropfen, das erachte ich als ephemer und schwindelhaft. Unten die Wurzeln attackieren, das ließe sich eher hören.

Hier in dieser Stadt, deren unerhörtes Wachstum das System, unter dem die Produktion und die Entlohnung der Arbeit heute vor sich geht, extrem und grotesk scharf beleuchtet, in dieser brennenden, hysterischen Stadt haben sich unter den Augen des amerikanischen Gewissens einige Institutionen der oben angedeuteten Art entwickelt, die mustergültig genannt werden müssen und an denen erst recht der Urschaden aller ähnlichen Institutionen aufgewiesen werden kann.

»Hullhouse«, das weltbekannte Settlement im Elendsviertel Chicagos, lebt hauptsächlich durch die überragende menschliche Persönlichkeit seiner Begründerin Jane Addams. Diese Frau bedeutet mehr für die Idee des Settlements als die praktischen Resultate, die es durch finanzielle Unterstützung reicher Amerikaner erzielt hat. In einem späteren Kapitel will ich einiges über den »Mogwab« (ein Indianerwort, ins Europäische übersetzt etwa: gros légume, Wichtigtuer, Vonsichbläser), den großen kapitalistischen Menschheitsfreund bemerken. Hier nur so viel, daß durch Miß Addams' Persönlichkeit Hullhouse ebenso gerechtfertigt ist, wie weiter im Osten Freeville durch die von William R. George. Und die in beide Unternehmungen hineinströmenden Rockefeller- und McCormick- und Armour-Gelder dazu. Denkt man sich Miß Addams aus Hullhouse und Daddy George aus Freeville fort, so bleibt ein Heftpflaster auf einer durch Granaten geschlagenen, schwärenden Wunde der heutigen Gesellschaft übrig.

Hullhouse verfolgt zwei Ziele: intellektuellen und gut gesinnten Menschen, die das Leben der Elenden aus der 323 Nähe betrachten wollen, diese Möglichkeit zu verschaffen, und: den Elenden selbst die Möglichkeit zu verschaffen, in guten, lichten, warmen Räumen für ein paar Stunden ihr Elend zu vergessen.

Ein Flügel in Hullhouse beherbergt diese »Studenten«, ein anderer beherbergt Turn-, Bade-, Eß-, Musik-, Tanz-, Theater- und Gesellschaftssäle zum Gebrauch der Klubs, die aus den rund um Hullhouse wohnenden Armen der Bevölkerung sich zusammensetzen.

Im Empfangsraum von Hullhouse hängt eine bunte Karte, die die Topographie der Umgebung Haus für Haus, nach Nationen koloriert, darstellen will. Diese Karte zeigt, daß in einem einzigen Tenement, d. h. Massenquartiershaus, in der Straße nebenan, Griechen, Böhmen, Schweden, Litauer, kleinasiatische und russische Juden, Magyaren und Italiener beisammenhausen. Die Karte wird sehr oft erneuert. Die Tenements sind zwar hier in einem Kilometerradius um Hullhouse eben durch dieses Zentrum in letzter Zeit gesäubert und gehoben worden, aber doch macht sich jede Nationalität, die dem großen internationalen Bund der »Misérables« angehört, baldmöglichst davon und sucht gesündere Gegenden auf, wenn es ihre Mittel erlauben. Die bunte Karte bekommt dann wieder eine andre Farbenzusammensetzung. . . .

Wir waren nachmittags Gäste des Settlements, im hübschen Theatersaal. Ein »Masque of the Seasons« wurde aufgeführt, niedliche Tänze, Deklamation, Gruppen- und Rundgesänge, von Kindern der Musikschule und aus den Klubs des Hauses vorgeführt, bildeten das Programm. Griechische, italienische, jüdische und irländische Kinder sangen, sprangen und hüpften, es war nett anzusehen. Im Auditorium saßen die reichen und wohlwollenden Herrschaften, denen Hullhouse seine Mittel verdankt, saßen da und klatschten Beifall. Wir nahmen dann in dem schönen, künstlerisch eingerichteten Speisesaal an dem Abendessen teil, mit den »Studenten«, den Intellektuellen, den Lehrern und Lehrerinnen der Hullhouse-Schulen – 324 Miß Addams war leider in Newyork – und nach dem Abendessen geleiteten uns liebenswürdige Damen in die Flügel hinüber, in denen die Tanz-, Turn- und Klubsäle untergebracht sind.

Mein Freund und ich, wir sahen uns auf den Treppen, im Hof, während unsre liebenswürdigen Führerinnen vorangingen, verständnisinnig an: der Flügel, aus dem wir kamen, und der Flügel, in den wir gingen, in dem wir wie in einer Raritätensammlung, einem Museum oder Kunstkabinett herumgingen – etwas lose hingen diese beiden Flügel zusammen. Man mußte zwischen den beiden einen kalten Hof durchqueren, und die Atmosphäre war in den beiden Flügeln recht verschieden, grundverschieden . . . Hullhouse stieg vor unseren Augen in die Luft empor und zerplatzte wie eine Seifenblase –

Wenn's damit getan wäre! Mitten unter den Armseligen (in getrenntem Flügel, komfortabel eingerichtet) zu leben; ihre Lebensbedingungen (ein Jahr lang, wenn's hoch kommt zwei, drei Jahre lang) zu studieren (und dann selbstbewußt als sozialer Arbeiter nach Lake Shore Drive oder der Michigan-Avenue zu ziehen); eine Zeit (sagen wir 6–8 Wochen) sogar in den Tenements mit den Elendesten hausen, als ein Arbeiter oder eine Arbeiterin, verkleidet, ihr 10stündiges Tagewerk durchzumachen, ihre Nahrung nach Maßgabe ihrer Einkünfte am eigenen Magen erleben (nach 8 Wochen wird man ja doch wieder im »Auditorium« zu Abend essen) – wenn's damit getan wäre!

Immerhin ist Jane Addams eine von den großen Frauen Amerikas, eine aus dem Geschlecht der Frances Willard, Harriet Beecher-Stowe, Susan B. Anthony, und in ihren Schriften kommt unter der »Hullhouse-Studenten« Neugierde, unter dem Betätigungs- und Befähigungsnachweis der großgesinnten alleinstehenden Frau, die sich eine Familie und einen Wirkungskreis gesucht und gefunden hat, eine innig revoltierte Seele und ein edler Mensch in dieser leidenerfüllten Gegenwart zum 325 Vorschein. Zieht man aber auch noch die magnetische Kraft, die eine solche Seele auf den Wald- und Wiesenwohltäter und Amateurphilanthropen ausübt, ab, so verliert dieser Typus vollends den letzten Rest seines spezifischen Gewichtes.

 

Einen wesentlich stärkeren Eindruck habe ich von den »Parken« mitgenommen. Der freundliche Superintendent holt uns eines Abends mit seinem Automobil ab und wir machen die Runde durch die Volksgärten und Volksklubhäuser im Süden der »windigen Stadt«.

Welche Gerüche, welche Einöden, welche unbeleuchteten oder halbbeleuchteten Gäßchen, welche verschimmelten Holzbudenviertel und Bordellviertel wir durchqueren, bis wir zur ersten dieser grünen Oasen gelangen, Gott steh mir bei. Auf der Oase aber ist alles vergessen.

Die »südlichen Parke«, aus privaten Mitteln, aber hauptsächlich aus städtischen Steuern erworben, ausgebaut und erhalten, erstrecken sich von Michigan Avenue (Grant Park) bis zum Lake Calumet (17. Park). Ihre Zahl ist gegenwärtig 24, sie bedecken ein Gesamtareal von 2500 Acre. Es gibt unter ihnen große, mit Museen, botanischen Gärten, Golfhügeln und Jachthafen, wichtiger aber sind die kleinen, deren Fläche aus übervölkerten Elendsvierteln um die Schlachthäuser, die Fabrikvororte, die Negerniederlassungen ausgespart sind. Das Areal dieser kleineren Parke variiert zwischen 7½ und 23 Acre.

Chicago: hier leben Menschen!

Der freundliche Superintendent zeigt uns drei von den kleinen Parken. Italienische Pergolas sind hübsch vor den Klubhäusern aufgebaut. Hinter diesen sind riesige Schwimmbassins aus Zement in den Boden eingelassen, im Sommer sprudelt dort Michiganwasser. Ringsum in den Gartenanlagen finden sich Freiluftsanatorien für Babys, Sonnenbäder für Frauen, Wiesenstreifen zum Herumwälzen, Sandhügel zum Burgenbauen. Helle, freundlich bemalte und dekorierte Turn- und Tanzsäle 326 und Volksbibliotheken sind in den Häusern; auf einer kleinen Bühne proben eben jüdische Schneidergesellen das Drama: »Esther, a Purimplay«; ein litauischer Klub hält nebenan ein Tanzkränzchen; in einem Duschensaal kann man junge griechische Arbeiter bewundern, die sich nach dem Basketballspiel abkühlen und zum Heimweg vorbereiten.

Die Abhilfe (Gymnasium in einem »südlichen Park«)

Besorgt fragen wir unseren Führer: »Welche Formalitäten hat einer zu beobachten, eh er hier hereingelassen wird? Welche Papiere, Pässe, Legitimationen, Steuerzettel, Taufscheine, Gewerbescheine muß er vorweisen, um hier hereingelassen zu werden?«

»Why! Nothing at all!« erwidert unser Amerikaner erstaunt.

»Aber er muß doch sicher etwas bezahlen für die Benutzung der Bibliothek, der Badewäsche, der Seife, der Turngeräte, der Einrichtungen?«

»Keinen Cent. All das, was Sie hier sehen, steht dem Volk Chicagos frei und unumschränkt zur Verfügung. 327 Jeder ist willkommen. Er mag welche Sprache immer sprechen. Er mag die elendesten, von Ungeziefer starrenden Lumpen auf seinem Körper tragen. Er mag daherkommen, von wannen er will. Er braucht kein Papier vorzuweisen, keinen Namen in kein Buch einzuschreiben, weder seinen richtigen noch einen falschen. Jeder ist willkommen, wir leben in einem demokratischen Land dahier.«

Dieses Wort; diese Phrase; in Chicago. – Und doch, was wir eben gesehen haben, dieser Blick ins Freie, Offene, Ferne, fast versöhnt es mit der erschrecklichen Realität rings um diese Oase, mit Chicago, der furchtbarsten Stadt der heutigen Welt! –

 


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