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Ich hatte mir vorgenommen: zu schreiben, was ich von ihr wußte, ehe ich hinkam. Dann: was ich gesehen habe, während ich dort war. Und schließlich, was ich von alledem halte, jetzt wo ich fort bin. Nun sind es zehn Tage her, daß ich in Freeville gewesen bin, ich will alles anders machen, einfach sagen, was ich gesehen und gehört habe, und mich, soweit es geht, des Urteils enthalten. Nur soviel will ich gleich herschreiben: die Reise hat sich gelohnt, denn ich habe einen Menschen gesehen. Es ist der Gründer der Republik Freeville, die nach ihm »The George Junior-Republic« genannt ist, William R. George; und wenn es wahr ist, daß die Gerechten rechts sitzen werden, wenn's einmal so weit ist, so weiß ich gut, wo ich »Daddy« George zu suchen habe und wiedersehen werde. –
Ich war gleich vom Hudson weg nach dem kleinen Ort zwischen Auburn und Ithaka im Staat Newyork gefahren, und wie mich der Omnibus von der Station zum schönen kleinen »Republic Inn« brachte, sagte ich mir: Herrgott, dieses Gasthaus dahier ist viel zu vornehm und luxuriös für den Ort, wo sie es hingebaut haben. Denn Freeville ist, nennen wir das Kind beim Namen, eine sehr milde Korrektionsanstalt für mißratene, schlecht beaufsichtigte, verbrecherisch veranlagte Kinder und junge Leute. Neben mir aber, in dem künstlerisch vollendet eingerichteten Speisesaal des Gasthauses saßen beim Dinner drei Damen in Abendtoilette. Ich schämte mich ganz und gar in meinem Reiseanzug.
Aha, sagte ich mir weiter, die ganze Geschichte wird mit dem Gelde der Reichen im Lande gemacht, und dieses Gasthaus ist hergebaut worden, damit sie standesgemäß aufgehoben sind, wenn sie mal daherkommen und sich die Republik anschauen. Schlimme Aussichten!
Nach dem Abendessen ging ich auf die Landstraße hinaus, der Republik zu. Schon aus meinem Fenster hatte 70 ich sie gesehen, ein kleines Dörfchen, etwa zwei Meilen weit vom Gasthaus, kleine bunte Häuser aus Holz, wie ein russisches oder schwedisches Dörfchen anzusehen aus der Entfernung. Dorthin ging ich die Landstraße entlang.
Ein paar Knaben fuhren auf einem Leiterwagen an mir vorüber, hinaus nach der Republik. Sie waren ärmlich angezogen, hatten blaue Overalls an (das heißt: Hosen, Weste und Schulterbänder aus einem Stück) und kamen mit ihren Spaten von der Feldarbeit. Ein hochgewachsener, breitschultriger Mann kam von der Republik her, dem Wagen entgegen. Er und die Knaben begrüßten sich mit Händewinken, als sie aneinander vorbeikamen. Ich hörte, wie die Knaben »Daddy!« riefen, und der Mann rief etwas, das sich wie »Sonny!« anhörte.
Als er an mir vorüberkam, blieb er stehen und grüßte. Ein Fremder in diesem kleinen Ort bedeutet einen Besucher der Republik, und ein Fremder am Abend, wenn keine Züge mehr fortgehen, bedeutet einen, der nicht bloß aus flüchtiger Neugierde hergekommen ist, sondern bleiben will, sehen will.
Der Mann war Mr. George selber, der Vater der Republik, ein Mann mit einem offenen, guten und beseelten Gesicht, mit milden blauen Augen, ein Mann in den reifen Jahren und doch mit einem sehr jung gebliebenen Blick. Einer, der Daddy, das heißt Papa, genannt werden durfte von vielen mehr oder weniger unglücklichen Kindern, für die er mehr getan hat als andere Papas, als ihre eigenen, nämlich er hatte sie nicht in die Welt gesetzt, sondern er war dabei, etwas Besseres mit ihnen anzufangen: sie ins Leben hineinzusetzen. Er ging mit mir den Weg zurück, den er hergekommen war, wir gingen beide in die Junior-Republik, wir blieben an diesem Tage einige, an den nächsten viele Stunden beisammen; und als er mich diesen Abend ins Hotel zurückbegleitete, stellte er mich den Damen vor, die ich dort gesehen hatte. Ich hatte mich nicht geirrt, die jüngste von ihnen war eine 71 der reichsten Frauen Amerikas, die Tochter des »Kupferkönigs« aus dem Westen.
Ich bin drei Tage in Freeville geblieben und habe alles gehört und gesehen. Es waren im Juli 1911 ungefähr hundertundfünfzig Kinder da, Knaben und Mädchen, weiße und schwarze, die meisten nicht älter als siebenzehn. Wenige unter ihnen jünger als fünfzehn Jahre, wenige älter als achtzehn, die meisten, wie ich konstatierte, zurückgeblieben in der Entwicklung. Kein Wunder, es waren ja mißratene, verwahrloste, gedrückte, »kriminelle« Kinder. So und so viele kamen aus staatlichen Korrektionsanstalten, »reformatories«, hatten allerlei Verbrechen auf ihrem jungen Gewissen, Diebstähle, aber auch Ärgeres; es war ein Brandstifter unter ihnen, sogar ein Mörder. Welche waren von ihren Eltern hergesandt, weil sie daheim nicht gut getan hatten zum Teil durch die Schuld der Eltern selber, es waren Kinder aus Säuferfamilien da, aus geschiedenen Ehen, unbeaufsichtigte, sich selber überlassene Kinder. Kinder, die zum Teil auf Abwege geraten, zum Teil schon ziemlich tief in den Abgrund hinuntergeglitten waren. Wenige von ihnen, die in sexuellen Dingen Übles auf dem Kerbholz hatten; doch war kein Onanist unter ihnen. Zum größten Teil: Kinder, deren Lebensdrang keine richtige Lenkung zuteil geworden war, und etliche, deren Lebensdrang schon in der dunkeln Tiefe, noch ehe sie das Licht erblickt hatten, in eine Richtung gelenkt war, die die Gesellschaft ahndet, bestraft, bis ins vierte Glied.
Ein Amerikaner ist mit einundzwanzig Jahren reif und zur politischen Aktion berechtigt. Ein Amerikaner und ein Europäer und ein Botokude begeht die Dummheiten seiner Flegeljahre zwischen fünfzehn und achtzehn. Die Gesellschaft und der Staat, grausam wie sie schon sind, ahnden mit geringen Milderungen diese Verbrechen mit der Korrektionsanstalt, die eine Art Gefängnis ist; und ein junger Mensch geht mit einem Makel ins Leben hinaus und wird, wie soll's anders zugehen, ein Verbitterter, ein 72 Empörer, ein Rächer. Mir ist's recht, und ich sehe es gern, wenn sich die Gesellschaft ihre Zerstörer durch ihr eigenes Gift züchtet, aber wer dürfte nicht weinen über einen zerbrochenen Menschen?
Nun, ehe er zerbricht, nimmt ihn Daddy George in seine mitleidigen Hände, und ein Leben ist gerettet. (Viele von den Leben, die ihm anvertraut sind, gehen gerade und wieder geweiht in die Welt zurück, nicht alle!) Ich denke mir auch, daß die Zerstörer der heutigen absurden Ordnung nicht von den Krummgeschlagenen herkommen sollen, sondern aus dem Lager der Lachenden, der Ungebrochenen, der Überschwenglichen, der Unzerbrechlichen, ob sie nun als Proletarier, Bourgeois oder in gekrönten Wiegen geboren worden sind, und ich lasse George ruhig seine Idee durchführen, die eine der schönsten ist, für die heut ein Mensch leben darf.
Die Republik ist aus einer Ferienkolonie entstanden, die George vor vielen Jahren, auf eigne Faust, aus armen Kindern Newyorks gebildet und in seine Heimat nach Freeville mitgenommen hat. Die Kinder trieben allerhand Unfug, und George sagte sich, als der Gute und Weise, der er ist: ich will euch nicht bestrafen für den Unfug, den ihr treibt – bestraft euch selber!
Aus dieser Idee ist die Republik entstanden. Die Kinder geben sich ihre Gesetze selber und gehorchen ihnen oder fühlen ihre Strenge.
Zwei Sätze habe ich mir gemerkt aus dem, was mir George gleich zu Anfang sagte: Es ist gar kein so gewaltiger Unterschied zwischen dem schlechten Menschen und dem guten Menschen. Und: Es ist gar kein so gewaltiger Unterschied zwischen uns Erwachsenen und den Kindern. Wer so spricht, wahrhaftig, der ist ein Vater und ein Mensch, und er hat seinen Platz zur Rechten erworben im Reich Gottes.
Zieht man nun eine Diagonale zwischen diesen beiden Sätzen, so ist es klar, was es mit Georges Idee auf sich hat. 73 Kinder werden in die Lage versetzt, eine Art Regierungsspiel zu spielen, das aber verdammt ernst gemeint ist; sie dürfen sich's selbst einbrocken, was sie nachher hinunterzuschlucken haben, aber dies Schlingen wird ihnen nicht halb so weh tun, als müßten sie daran würgen, was ihnen die Großen gekocht haben.
Bis zu ihrem einundzwanzigsten Jahr dürfen sie hier, wenn sie nicht anders können, alle Dummheiten der Welt machen – und werden dafür doch nicht den Makel des Sträflings mit ins zweiundzwanzigste hinübernehmen.
Noch etwas kommt dazu: Ein Junge, der »draußen« einen Streich begangen und in Kollision mit den Gesetzen geraten ist, vor einem wirklichen Richter gestanden hat und in eine wirkliche Anstalt gesteckt worden ist: so ein Junge ist draußen ein Held in seiner Gasse geworden, eine mythische Persönlichkeit für alle seine gleich- oder geringeraltrigen Genossen und Nick Carter-Schwärmer. Hier in Freeville aber, wo ihn seine Altersgenossen am Kragen haben, wenn er was angestiftet hat, ist er nichts wie ein kläglicher Geselle, der keine Gewalt über sich hat, das Gesetz, das er selber gemacht hat, nicht einhalten kann; ein verächtlicher Patron mit einem Wort. Das ist, scheint mir, eine vorzügliche Idee.
Das andere Leitmotiv aber ist die Devise der Republik: »Nichts ohne Arbeit.« George (er heißt nur zufällig so wie der Verfasser von »Fortschritt und Armut«, weder er noch sein Werk hat mit Henry George etwas zu tun), George führte mich in den Werkstätten herum, in denen gearbeitet wird. Die Knaben und Mädchen arbeiten. Es sind Buchdrucker, Bäcker, Feldarbeiter, Bauleute, Hühnerhof- und Kuhstallfarmer, Rüben- und Kartoffelzüchter, Näherinnen und Wäscherinnen da, kurz, alle Gewerbe. Sie werden gut bezahlt. Wenn einer fleißig ist, kann er sich zwei Dollar und mehr in einem Tage erarbeiten – im Geld der Republik, einer Aluminiummünze, auf der um die Wertziffer herum die Worte: »Nothing without Labour« stehen.
74 Sie müssen schon! Denn in der Republik ist nichts umsonst zu haben – außer dem Schulunterricht, der, so wie in den Staaten ringsum, frei ist und obligatorisch. (Er ist vorzüglich in Freeville, die tüchtigsten und gebildetsten Lehrkräfte sind hier am Werk.) Jawohl, Wohnung, Kost, Kleidung, Wäsche, alles kostet Geld – Geld der Republik; und arbeitet einer nicht, so verliert er seine Schlafstelle und seinen Platz bei Tisch in seinem Boardinghouse, wird ein Obdachloser und – marschiert ins Gefängnis.
Wo es Gesetze gibt, dort gibt's auch Gefängnisse, das ist klar; und die Gefängnisse (der Knaben) sind gar nicht schön in Freeville. Da alles nach dem Muster des »Draußen« zugeschnitten ist, dieses »Draußen«, für das die Kinder tüchtig gemacht werden sollen, das sie selber hier nachmachen und in das sie mit einundzwanzig Jahren im Ernst eintreten werden, so sind die Gefängnisse, nach dem Muster von Sing Sing, eiserne Käfige mit einem allerdings nicht allzu harten Bett drin. Das Bett ist gut, denn wer am Tage hart arbeitet, soll bei Nacht ruhig schlafen können. Und die Gefangenen, die Vagabunden, die Faulen, arbeiten tagüber härter, als täten sies für ihre eigene Rechnung und in Freiheit, die härtesten Arbeiten, die es in der Republik zu besorgen gibt – um einen geringeren Lohn, als wenn sies für sich täten. Denn sie müssen ihr Bett im Käfig und ihre Gefangenenkost bezahlen.
Mittags führt mich George in das »Hotel«, das wohlfeilste der Republik, wo die Gefangenen verköstigt werden. Da sitzen sie an einem langen Tisch und essen, kräftig und frugal. Ein junges Mädchen sitzt am Tischende und liest den Essenden etwas vor (nichts Religiöses). Sie nickt mir zu, wie ich hereinkomme – es ist Kupferkönigs Töchterlein, und heute wird sie beim Lunch im »Inn« fehlen, denn sie hat einen Teller mit derselben Kost vor sich stehen, wie die Jungen.
Sie ist ganz allein da, ihre Freundin und die andere 75 Dame ihrer Gesellschaft, eine feine und liebenswürdige alte Dame, sind zu Haus oder fahren in ihrem Automobil im Land spazieren. Das gefällt mir, es ist amerikanisch und läßt auf Unabhängigkeit und Stärke schließen; aber es mißfällt mir auch, denn es sieht nach Snobismus und andererseits nach Gewährenlassen der reichen Leute aus; – aber ich warte am besten noch mit dem Urteilen, bin ja doch auch noch zu kurze Zeit hier herüben.
Ich schaue mir die Jungen an: was für geweckte, gute Köpfe und doch – der dort ist der Brandstifter; einer hat eine kurze Kette an den Füßen, das ist ein unverbesserlicher Ausreißer, ein kleiner Italiener. Warum kommt es mir hier auf einmal nicht unmenschlich und barbarisch vor, daß ein Kind Ketten an den Füßen hat? Reißt er wieder aus, so muß er sich durchstehlen, denn er hat ja im besten Fall nur das Aluminiumgeld der Republik in der Tasche! An einem Tisch abseits sitzt eine kleine Negerbestie, – also sogar hier ist's nichts mit der Freundschaft zwischen Weißen und Schwarzen!
Wer hat sie ins Kittchen gebracht, diese Jungen? Sie selber, ihresgleichen. Ich frage George: »Kommt's nicht vor, daß Sie oder andre »Große« in strittigen Fällen und Fragen als Schiedsrichter angerufen werden?«
Darauf gibt er mir eine wunderschöne Antwort. Er sagt: »O ja. Aber wir Großen enthalten uns jeder Einmengung in ihre Angelegenheiten. Ein Wort, ein Wink oder gar ein Befehl von einem von uns Großen, und die Republik ist beschädigt in ihrem Fundament. Wohl wissen wir's, daß durch die Einmengung von erfahrenen, erwachsenen, weltkundigen Männern Irrtümer vermieden, der Gang der Angelegenheiten beschleunigt werden könnte. Aber lassen Sie sie nur gewähren – geben Sie den Jungen nur Zeit: auf einem Umweg, der gar nicht so weit zu sein braucht, werden sie mit dem jedem Menschen angeborenen Gefühl fürs Rechte ganz von selber ihren Irrtum wieder gutmachen, langsam ebnen und von selber dorthin gelangen, wohin wir sie gleich 76 und ohne Umwege hingelenkt hätten. Es ist kein so großer Unterschied zwischen einem Kind und einem Großen, wirklich nicht.« –
Es gibt zurzeit sieben Junior-Republiken in den Staaten nach Muster von Freeville. Die Philippinen wollen eine haben. England hat George aufgefordert, er solle drüben eine gründen. Es ist mir gleich, daß reiche Leute (Rockefeller und andere) ihr Geld für diese Sache hergeben, und daß das, was George »das Rechte« nennt, mit dem, was Staat und Gesellschaft so nennen, ziemlich übereinstimmt (die Kirche hat mit Freeville nichts zu schaffen!): ich weiß, ein Mensch hat hier eine Idee durchgeführt, und eine schöne dazu.
Falsches, Schlechtes, Verkehrtes ist ja leider genug um den hellen Kern herum, und man sagt mir, daß Freeville heute, die Republik besteht seit sechzehn Jahren, noch in einer Krise mitten inne steht. Aber ich will mich hüten, das Große zu verkennen, das hier getan ist, und die Resultate an lebenden Exempeln nicht sehen zu wollen, die hier erzielt werden, jahraus jahrein. Warum soll das Werk eines Menschen, und wenn's ein Edler und Reiner ist, wie William R. George, nicht seine menschlichen Schlacken tragen?
Man flüstert mir überhaupt mancherlei ins Ohr: Die Sache soll ihm, nämlich dem, der von den Kindern »Daddy« genannt wird und der die Kinder mit »Sonny« anruft, über den Kopf gewachsen sein – so ziemlich! Er sei nicht der Mann, flüstert man mir zu, solch eine große Sache durchzuführen; man hat ihm allerhand praktische Leute rechts und links zur Seite hingestellt. So, – denke ich mir – aber ein großes Gefühl in seinem Herzen zu nähren und es durch die Pforte der Idee in die Wirklichkeit eintreten zu sehen –: dazu war er doch der rechte Mann, nicht wahr? Um seines Versagens, seiner Schwäche willen gegenüber dem unerbittlichen, anspruchsvollen Alltag liebe ich ihn um so ehrlicher, ihn, den die Kinder den »Daddy!« anrufen. 77
Ich will nun etwas aufschreiben, was mich verstimmt hat und was mir meinen Glauben an die Idee der Republik trübt, ich muß es sagen.
Am Freitag ist Gerichtstag in der Junior-Republik; und da es das Prinzip Georges und des Gerichtes der Staaten ist, daß da jeder kommen und der Verhandlung beiwohnen darf, so ist Freeville an solchen Tagen von Leuten aus der Umgebung belagert. Aus Auburn, Ithaka, Syracuse, Sayre kommen Leute her, um den Kindergerichtshof tagen zu sehen. Leute, denen es offenbar darum zu tun ist, einen amüsanten Abend zu erleben. Obzwar sie sich ruhig und ernst benehmen, kann man ihnen das Vergnügen, das sie gesucht und gefunden haben, recht vom Gesicht ablesen. Und doch ist das Kindergericht kein Spaß, und was ich da bemerkt habe, hat mich tief, tiefer vielleicht als nötig, verstimmt.
Der Richter ist ein junger Mann von zwanzig Jahren, der Staatsanwalt ist etwas jünger, beide sind »keine Heiligen«, sonst wären sie ja nicht hier. Allerdings sind sie aus dem besten Material, das die Republik hat (besser als der Präsident und andere hohe Funktionäre, darüber schreibe ich sogleich!).
78 Der Gerichtshof tritt ein, wir stehen alle auf, der Saal ist vollgepfropft mit Bürgern der Republik und Zuschauern. Der Richter hat das Gesetzbuch der Republik vor sich; die Jury wird aufgerufen, dann ruft der Clerk die Angeklagten auf, der Staatsanwalt tritt an den Richtertisch heran.
Der Clerk verliest die Anklage, der Richter fragt den Angeklagten, ob er sich schuldig bekenne oder nicht?
Der Angeklagte hat Himbeeren gestohlen (aus Daddys Garten noch dazu!). Es ist ein hübscher blonder Lausbub mit einem unverschämten Gesicht. Er antwortet: »not guilty«.
Der Clerk verliest jetzt die Eidesformel: »Staatsanwalt X., versprechen Sie, die Wahrheit zu sagen, die volle Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr Ihnen Gott helfe?«
Der Anwalt hebt die Hand zum Schwur auf. Es kommen Zeugen, Knaben, der hat dies gesehen, jener das gehört, einem hat der Angeklagte dies gesagt, dem andern das. Der Angeklagte ist schlau und gerissen. Er kennt die Schliche, ist kein Grünhorn mehr, weder hier, noch wohl auch draußen im Ernst, er schwindelt sich heraus, obzwar es so gut wie ausgemacht ist, daß er die Beeren gestohlen hat.
Andre Angeklagte treten vor. Einen haben sie zweimal hintereinander beim Rauchen ertappt. Es ist die dritte und vierte Anklage gegen ihn, seit er Bürger der Republik ist. Das erstemal wurde er zu einem, das zweitemal zu zwei Dollar Strafe verurteilt. Heute erhält er für Nummer drei und Nummer vier im ganzen sieben Dollar Strafe zudiktiert. Er mag der Sohn reicher Eltern sein (es gibt Millionärssöhne unter den Bürgern Freevilles), es nützt ihm nichts, er muß im Aluminiumgeld der Republik zahlen und die kriegt man nur für getane Arbeit. Für zwei Züge an je einer verbotenen Zigarette wird er sieben Dollar Arbeit liefern müssen, außerdem muß er sich noch verköstigen, Wohnung, Wäsche bezahlen! Ist er ein 79 schlechter Kerl und träge, so wird er einem Kameraden, während der schläft, die Taschen durchsuchen, er wird vielleicht in den Käfig marschieren, vielleicht ausreißen und im nächsten Ort im Warenhaus stehlen – sieben Dollar für Rauchen ist viel.
Ein hübsches Negermädchen wird verhört. Sie ist zum drittenmal durchgebrannt – Gefängnis. (Das Gefängnis der Mädchen ist die reine Puppenstube im Vergleich zu dem der Buben.)
Ein winziger Junge, kaum 15 Jahre alt, hat geraucht, dann, wie er erwischt wurde, geflucht, dann ein unanständiges Wort gegen den geschleudert, der ihn abgefaßt hat. Drei Verbrechen: Rauchen, Fluchen, unflätige Redensart. (Alle diese Delikte sind im chickenyard verübt worden, der Kleine ist den Hühnern zugeteilt.) Es ist die vierte, fünfte und sechste Strafe des Kleinen. Vier und fünf und sechs Dollar; ein bißchen viel.
Der Kleine schaut den Richter mit offenem Mund an. Meine Nachbarin, eine Dame aus der Umgebung, lacht in sich hinein, daß es sie schüttelt. Sie vergißt: ein Kind, 15 Dollar Arbeit und dazu noch Kost, Quartier, Wäsche. Es ist ein armes Kind, es ist in derben Schuhen 80 und overalls vor dem Richter erschienen, es geht diesem Kind nicht gut, er steht mit offenem Mund da, der kleine Junge, und hat nicht gehört, daß schon der nächste Angeklagte aufgerufen ist. Hat er das Geld nicht beisammen, der kleine Junge, so wird er es im Gefängnis langsam abarbeiten müssen. Vielleicht hilft das, und er wird nicht mehr rauchen, fluchen, Schweinereien reden, vielleicht!
(Die Sage geht, die Bürger wollten Daddy George selber einmal in den Käfig sperren, weil er in ihrer Anwesenheit: »Gee!« gesagt hat. Gee bedeutet Jesus! und ist ein »Fluch«, so etwas wie Jemine! Ein Dollar zum erstenmal.)
Wie kommen diese Anklagen zustande? Ich erkundige mich bei allen, die ich treffe, George, den Bürgern, dem Richter, der liebenswürdigen alten Dame, bei der Kupferprinzessin, bei dem jungen feinen Graduierten der Universität Cornell aus Ithaka, den ich hier kennen lernte – wie kommen diese Anklagen zustande? Herrscht unter den Kindern ein System der Angeberei, des Denunziantentums? Alle sagen mir: nein. Die Kinder fühlen sich glücklich hier, frei und stark in der Gleichheit vor dem Gesetze; Desertion kommt nur selten vor, öfter kommen schon entlassene Jungen in die Republik zurück, weil sie's da besser haben als draußen. Sie halten gute Freundschaft miteinander, es herrscht nur Achtung über alles andere, absoluter Respekt vor dem Gesetz! Das will mir nicht in den Kopf hinein.
Einen Staatsstreich habe ich auch erlebt in Freeville. Wir kommen grad aus Georges Haus am Rand der Republik heraus, George hat mir sein schönes Haus gezeigt und die schöne Bibliothek in seiner Vorhalle – ein reiches Elternpaar hat sie zum Andenken an sein verstorbenes Kind gestiftet; ein paar Bürger der Republik sitzen gerade über einem der juristischen Bücher in der Bibliothek –, wir kommen also heraus und gehen nach der 81 Republik zurück – es ist drei Uhr Nachmittag, da kommen vom Schulhaus her zwei lachende junge Leute, es sind Lehrer, auf uns zu. George schmunzelt, er ahnt schon etwas. Aber da er ja keinen Finger rührt in den internen Angelegenheiten der Regierung, läßt er sich alles haarklein erzählen, schweigt und schmunzelt.
Jetzt im Sommer gibt's rings im Staat Newyork Zusammenkünfte, Kongresse und Beratungen von Schülern an vielen Orten, und Bürger der Republik haben in großer Zahl Urlaub erhalten, um zu diesen Kongressen reisen zu können. Die besten Bürger natürlich, solche, denen man ihr redlich erworbenes Aluminiumgeld schon für ein paar Tage in Staatswährung umtauschen durfte.
Es ist bis auf den Richter, den Staatsanwalt und ein, zwei Dutzend rühmlicher Ausnahmen recht schlechtes Bürgermaterial in der Republik geblieben. Sehr schlechtes sogar, höre ich jetzt.
Diese Schlechten haben, nach bewährtem Muster, die Herrschaft an sich gerissen, den Präsidenten, seinen Stellvertreter, die Polizisten und ähnliche Funktionäre aus ihrer verrotteten Mitte gewählt, und diese Rotte Korah hat unter den Augen Daddys und der »guten« Jungen eine wahre und rechte Tammany-Hall-Wirtschaft geführt. Mit Bestechungsversuchen einerseits und Erpressungen andrerseits, mit falschen Anzeigen, Verleumdungen, kleinen Diebstählen und Unterschlagungen, allerhand im Dunkeln verübten, rasch ausgeführten politischen Winkelzügen, wie sie »draußen« wohl in Blüte stehen unter den schlechten Jüngern der Politik, in Amerika nicht nur; rasch, wie gesagt, denn die guten Jungen sollten ja bald zurückkommen.
Und vor einigen Tagen sind nun auch ein paar gute Jungen zurückgekommen. Unter ihnen etliche beurlaubte Funktionäre der Republik. Sofort nach ihrer Rückkehr sahen sie, daß Bübereien verübt worden waren. Sie sammelten Material, kriegten es zusammen, brachten den Polizeipräsidenten auf ihre Seite und heute, vor einer 82 Stunde, während George mir sein Haus zeigte, ist der Präsident, der Vizepräsident und ein Schock andrer Missetäter einfach verhaftet worden, jetzt sitzen sie alle im Gefängnis.
Wir gehen an dem Gefängnis vorüber – überfüllt. Wir gehen an dem Haus mit dem Turm vorüber, in dem die Regierung ihren Sitz hat, zwei Schriftstücke kleben auf der schwarzen Tafel: der Präsident erklärt, er sehe sich veranlaßt, sein Amt niederzulegen und der Vizepräsident desgleichen.
Daddy George steht da und reibt sich die Hände. Die guten Buben stehen da und lachen. Was kann ich tun, ich lache mit. –
Und am letzten Abend, es ist schon spät, sitzen wir auf der Freitreppe des schönen kleinen »Republic Inn«, die feine alte Dame, Kupferkönigs Töchterchen und ihre Freundin, ein junger, hübscher, krausköpfiger Bürger der Republik und ich. Auf der Veranda hinter uns spielt der junge Cornell-Mann, der junge Graduierte vom Sibley-College aus Ithaka, eine Sonate auf seinem Cello. Er spielt gut, besser als ein Dilettant; die Nacht ist wundervoll klar, aus der Ferne, aus der Republik leuchten einige Fenster herüber.
Der junge Cornell-Mann spielt. Gewiß sind die Töne des Cellos weit herum im dunkeln Land zu hören. Gewiß hört sie der Präsident und der Vizepräsident, jeder in seinem Käfig. Die guten und die bösen Buben setzen sich aufrecht in ihren Betten und spitzen die Ohren. Und hoffentlich lullen die Töne den Daddy in seinem schönen Haus in eine gute Nacht und guten Schlaf nach den Mühen und den Verworrenheiten des Tages hinüber.