Arthur Holitscher
Amerika heute und morgen
Arthur Holitscher

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Bei den Mennoniten in Südmanitoba

Wenn der Zug im Dörfchen Altona ankommt, ist das Postbüro voll von Menschen. Das Postbüro ist zugleich der General-Store, in dem man von Salpeter aufwärts bis zu den Nähmaschinen alles kaufen kann, was gebraucht wird. Auf einmal bin ich in Deutschland, höre viele Dialekte, Platt, Hannoversch, Ostpreußisch und das Deutsch, das in den baltischen Provinzen gesprochen wird. Deutsch von drüben, der alten Heimat, aber gottlob nicht das verhunzte Amerikanerdeutsch, ein Mischmasch aus dem heimatlichen Dialekt und Yankee-Slang.

Ich bin noch keine fünf Minuten da und habe schon Bekanntschaften geschlossen. Ich soll von Deutschland erzählen, höre aber lieber denen zu, die mir von Altona erzählen, denn meine Berichte sind mehr auf den Yorkklub als das Postamt dieses Dörfchens zugeschnitten.

Altona liegt im Süden des Weizenlandes Manitoba, Manitous Land, wie die Indianer es benannt haben, des 162 Gotteslandes. Kaum eine halbe Stunde weit vom Staat Nord-Dakota, dessen Berge man hinter dem Städtchen Gretna blau aufsteigen sieht.

Ich bin hier im Stadtgebiet Rheinland, und die Dörfchen und Niederlassungen ringsum heißen Eigengrund, Blumenthal, Schoenhorst, Bergmann, Winkler, Neuhoffnung. Es ist eine der ältesten Ansiedlungen der Mennoniten in Amerika.

Die Mennoniten haben es weniger geschickt angefangen als ihre Schicksalsgenossen, die Puritaner. Diese haben den Weg England–Holland–Amerika gewählt, die Mennoniten sind aber von Holland nach Preußen, von Preußen nach Rußland gezogen, ehe sie auf die gute Idee kamen, hierher zu übersiedeln, wo sie seit 50 Jahren und darüber in Frieden und Wohlstand leben und ihr Land bebauen.

In die »Ostreserve«, jenseits des Redrivers, in die wenige Stunden östlich gelegene Bergtaler Gemeinde kamen, so erzählte man mir, die ersten Mennoniten um die Mitte der siebziger Jahre aus Südrußland, wo man sie wegen ihrer Verweigerung des Militärdienstes zu molestieren anfing. Altona hat 500 Einwohner, in ganz Manitoba sind gegenwärtig an die 15 000 Mennoniten.

Der Photograph, er ist mit seiner Familie aus Minnesota hierher übersiedelt, nimmt sich meiner an und mit ihm besuche ich den Schmied, den Landagenten, den Gemeindeschreiber. Mit ihnen allen sitze ich am Abend in den warmen Stuben ihrer hübschen Häuschen beisammen. Es sind gute und einfache Menschen, und es ist Genuß, mit ihnen beisammen zu sein. Der Photograph hat einen schönen Kopf. Er sieht wie ein deutscher Lehrer aus Schwaben aus, der heimlich Gedichte schreibt und an Sonntagen mit Novalis in der Tasche in den Wald zieht. Eduard von Gebhardt hätte sich glücklich geschätzt, den prachtvollen Wiedertäuferkopf des Landagenten malen zu dürfen. Schön wie ihre ruhigen und ernsten Gesichter sind ihre Namen, die man auf den Schildern der Geschäfte Altonas liest: Friesen, Coblentz, Joerger, Toews. 163 Ihre Trachten sind die der Tradition und der Sekten, die sich innerhalb ihres Bekenntnisses gespalten haben. Da sind die Schwarzen, die den Gebrauch weißer Wäsche verpönen; sie tragen flache schwarze Kappen und Schaftstiefel, in denen die schwarzen Tuchhosen stecken. Eine andre Sekte trägt die Hosen über die Stiefel gezogen und weiße Wäsche, die aber nicht mit Knöpfen, – Knöpfetragen ist Luxus und Teufelswerk! – sondern mit Haken und Sicherheitsnadeln zugemacht ist, denn:

»die mit den Haken und Ösen
wird Gott der Herr erlösen«.

Mein Freund, der Photograph, fühlt sich nicht wohl in Altona und will frühestens in Kalifornien, dem Sonnenland, Obstländer aufnehmen. Das Klima bekommt ihm hier nicht. Aber, ich glaube, es liegt auch ein wenig an seinem modischen Kragen und hohen Hut. Einer hat einmal seinen Schwager rundherum einkassieren geschickt, der Schwager hatte ein weißes Hemd an und konnte nur von den Weißhemdigen Geld erhalten, von den andern aber Knurren und zugeschlagene Türen. Bis dann ein Schwarzer kassieren kam.

Indes, es gibt gemeinsame Angelegenheiten, in denen alles, was sich zu Simon Menno bekennt, zusammensteht. Geht's einem Bruder oben in der Rosthern-Reserve, Saskatchewan, in den Staaten oder am Schwarzen Meer drüben schlecht, dann tun sich die Hände in all den sieben Sekten um den Red River auf. Das größte Haus in Altona ist das Seminarium, in dem Missionare und Lehrer ausgebildet werden. Allüberall, wo Mennoniten hausen, gibt's solche Seminarien, und die jungen Priester gehen herum und predigen, lehren die Lehre vom Tausendjährigen Reich, vom auserwählten Volk Gottes, dem neuen Israel, das selig werden muß vor all den Andersgläubigen. In Oklahoma, Nebraska, Arkansas haben sie rote Indianer gelehrt, schwarze Hemden zu tragen. In Indien unter den Hindus gibt's Mennoniten.

Den Leuten in Rheinland dahier liegt nicht so sehr viel 164 an der Gewinnung neuer Seelen. Sie machen keine Proselyten, enthalten sich jeglicher Propaganda, einschließlich der Propaganda in politischen Dingen – zum größeren Teil.

Mein Freund, der Photograph, hat in seinem Laden einen Aufruf an die Farmer, für den Liberalen zu stimmen, hängen. Er selbst wird nicht wählen, weil sein Glaube es ihm nicht erlaubt. Aber lieb wäre es ihm doch, wenn es Reziprozität mit den Staaten gäbe, weil dann sein Photographenmaterial billiger ins Land hereinkäme! Ähnlich wie ihm ergeht's in anderer Beziehung denen, die aus Gründen der Tradition ihre Kinder nur in die eigenen deutschen Schulen, die sie sich auf ihrem Landgebiet gebaut haben, schicken und sie die »fremde« Sprache, das Englische, nicht erlernen lassen. Die Kinder der Fortschrittlichen, die Englisch gelernt haben, können auf den Agrikultur-Schulen der Dominion, in den staatlichen Lehrfarmen überall im Lande lernen, wie der Boden ertragsfähiger gemacht werden kann – die Orthodoxen verstehen sich auf diese Kunst nicht, sie bauen ihren Boden nach der alten Fasson, minieren ihn, statt ihn zu bebauen, verbrennen aus Gleichgültigkeit oder Unerfahrenheit ihr Stroh, statt es als Winterstreu für ihr Vieh zu verwenden, und lösen auf diese Weise bloß 25 bis 30 Bushel von ihrem Acre, statt wie in früheren Jahren 40. Sie lassen ganze Acre sich mit Unkraut bedecken, sie bebauen kaum die Hälfte ihres Landes. In Montreal hörte ich die Mär, die Mennoniten gingen nicht in Gegenden, wo es Wald, Bäume zum Roden gibt, sondern nach dem Flachland. Sentimental und ahnungslos sagte ich mir – die Heimat, die Erinnerung an die Steppen! Bis man mich dann in Altona versicherte, daß sie einfach zu faul sind, die Bäume von dem Ackerboden wegzuputzen, und lieber dorthin gehen, wo das Ackerland fix und fertig, sozusagen auf dem Präsentierbrett, vor ihnen liegt.

Es geht ihnen gut, manche besitzen ganze Quadratmeilen besten Bodens. Zwei Monate im Jahr gibt's zu 165 schaffen, der Rest vergeht in Wohlbehagen, denn die Erde arbeitet oder ruht derweil.

Im Winter essen sie gut, die, denen ihr Sektenglaube den Alkohol nicht verbietet, trinken noch besser, halten sich warm in ihren Häuschen, machen Besuche beieinander und lobpreisen den Herrn.

In ihren Stuben liegt der »Nordwesten«, das in Winnipeg erscheinende deutsche Tagblatt, die »Mennonitische Rundschau«, und wenig Bücher. Hier und dort findet sich ein Harmonium, dort, wo es die Sekte zuläßt, überall aber rundherum läßt man's sich gut gehen, lebt in der Familie, sitzt beim Ofen und »schmokt sein' Peip!«

Sie sind ohne Ausnahme arm herübergekommen, in wenigen Jahren hat das Land sie reich gemacht, obzwar sie es ja nicht ausnutzen, wie gesagt. Legenden sind im Umlauf von fabelhaften Aufstiegen. Da sind die neun Brüder, die vor einem Jahrzehnt herübergekommen sind, die neun waren so arm, daß sie alle zusammen nur eine Mütze besaßen – wer die vom Kleidernagel zuerst erwischte, konnte am Abend spazieren gehn, die übrigen mußten zu Haus bleiben. Jetzt ist der eine der Brüder 50 000 Dollar »wert«. Vier große rote Getreideelevatoren von Ogilvie und der Lake of the Woods-Mühle sind an der Bahn aufgepflanzt; von dort bis zur Bank in der Hauptstraße hat der Farmer nur hundert Schritte zu gehn.

Warum bringen sie denn nicht alle ihre Freunde, Glaubensgenossen, Brüder und Schwestern aus Südrußland hier herüber? frage ich und bekomme darauf ein paar Anekdoten zu hören, d. h., was ich zu hören bekomme, klingt wie Anekdoten, ist aber eine schaurige Enthüllung von Dingen, die auf dem Grund unsrer heutigen Zivilisation liegen.

Der Schmied erzählt mir von den Leuten in Südrußland. Er muß es wissen, er kommt ja selber aus der Mennonitengegend am Schwarzen Meer, wo er vier Jahre lang um einen Taglohn von zwanzig Pfennigen gearbeitet hat. (Jetzt steht seine große Schmiede, Wagen und Pferd bei 166 seinem hübschen Häuschen, hinter dessen sauberen Gardinen blondköpfige Kinder in den Sonnenschein herauslachen.) Er weiß etwas vom russischen Bauer und von der Sinnesart, die dem guten alten Stamm dort drüben im Heiligen Rußland aufgepfropft wurde, zu erzählen.

Er war Anno 1910 zu Besuch drüben. Warum kommt ihr nicht, wir haben's gut, ebenso gut könntet ihr es haben, wir bereiten euch den Weg! Aber sie verhungern lieber daheim. Sie haben gehört, in Amerika sitze der Herr mit dem Knecht an demselben Tisch – was muß das für ein Land sein? Ein paar von ihnen haben den Versuch mit Kanada gemacht, haben es aber nicht ausgehalten und sind zurück. Diese hatten guten Lohn und freundliche Ansprache. Niemand stand mit der Peitsche hinter ihnen bei der Arbeit. Da wurden sie mißmutig, legten sich apathisch schlafen und dachten, es war besser daheim. Erst wie jemand auf den guten Gedanken kam, sie mit Fußtritten zur Arbeit zurückzuprügeln, da wurden sie munter, da fühlten sie sich in ihrem Element! Aber sie haben es doch nicht ausgehalten, sondern liefen zurück ins Heilige Rußland, in die Sklaverei und zum Hungertuch. Die Vettern und Basen daheim beschnüffeln den Schmied, wie er in seinem guten modischen Rock und Hosen daherkommt in die alte Heimat. Aha, sagt einer – jetzt verstehe ich es, warum dort drüben so viel gestohlen wird, in eurem Amerika. Kein Wunder, wenn ihr so viele Taschen in euren Kleidern habt! Zwei hie, zwei innen, zwei vorn, zwei hinten – natürlich denken die Leute bei solch einem Überfluß an Taschen weiter an nichts als ans Stehlen!

Nie nach Amerika hinüber, sagt eine gute Mutter. Das könnte man noch brauchen, den ganzen Tag auf die Kinder aufpassen! Weshalb, weshalb den ganzen Tag, Matuschka? Nun, Amerika ist doch auf allen Seiten vom Meer umgeben – wie leicht fällt da ein Kind beim Spielen ins Wasser! Das Heilige Rußland im zwanzigsten Jahrhundert.

167 Wie hat sich dieser treueste deutsche Menschenschlag in der Freiheit, die ihm dieses Land hier gewährt, entwickelt? Der Freiheit, jawohl, denn der Staat zwingt sie zu nichts, was ihnen gegen das Gewissen läuft. Sie brauchen ihre Kinder nicht Englisch lehren zu lassen, sie können ihre Religion frei ausüben, ihre Missionare ausbilden, zum Militärdienst zwingt sie keiner. Sie haben in ihrem Gebiet die vollste Freiheit.

Ich habe mir ein paar Hefte der »Mennonitischen Rundschau« angeschafft und sie genau von allen Seiten betrachtet. Sie ist eine Kreuzung vom »Kriegsruf« der Heilsarmee und einem primitiven ländlichen Familienblatt mit stark bigottem Einschlag. Sie gilt als das führende Blatt der Mennoniten in der ganzen Welt. Das Wertvollste in ihr sind die Briefe, die die Brüder und Schwestern aus all den Niederlassungen an den Herausgeber adressieren, in denen sie von ihrem eigenen Umkreise und von Besuchen bei Brüdern und Schwestern im Lande und in der alten Heimat berichten. Diese Briefe, interessante und sympathisch berührende menschliche Dokumente, füllen die Hälfte des Blattes aus. Es ist in ihnen von Sonnenschein und Hagelschlag, von Hochzeiten, Taufen und Sterbefällen die Rede, von Glück und Unglück der Gemeinde und ihrer Kinder, in einem redlichen, herzlichen Bauerndeutsch. Sie schließen mit dem Rat, die Brüder und Schwestern mögen diesen und diesen Psalm wieder lesen und beherzigen. Und ich weiß, sie tun es und lesen die Psalmen ringsum in dem weiten Land, ehe sie nach dem Erntewetter hinausschauen aus den Fenstern ihrer Häuschen.

Mit dem guten Recht des Reisenden habe ich manches von dem, was ich unter den Menschen Altonas sah, hörte und fühlte, für mich behalten. Vielleicht ist es nicht recht und ein Widerspruch, wenn ich mich schon jetzt ein wenig nach dem Abend zwischen den schönen, an Hessen und Thüringen gemahnenden Häuschen und Blumengärtchen von Altona zurücksehne. Aber ohne Rückhalt und von 168 Herzen grüße ich nach dem kleinen blauen Holzhaus hinüber, in dem Ehrwürden Hansen, der Dichter »Wilhelm vom Strande«, mit seiner guten Frau seinen Lebensabend beschließt. Vor zwei Menschenaltern kam er aus Swinemünde herüber und ist ein Pionier der reformierten Deutschen in den Staaten und der Dominion geworden. Seine Gemeinde hier in Altona ist fast ganz weggestorben um den Greis. Aber es ist darum noch genug Gegenwart um ihn – wir gehen vor das Häuschen hinaus, zwischen die Blumenrabatten und Obstspaliere und sehen zu, wie der jüngste Sohn Ehrwürdens, ein frischer, ganz englisch aussehender Kanadier, das Vaterhaus mit schöner blauer Farbe vom Boden bis zum Giebel neuanstreicht!

 


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