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Den dritten Morgen erwacht man am Nordufer des Lake Superior, des Meeres der Mitte.
Die Atmosphäre trägt schon einen Hauch von Steppendunst mit sich, die Zeit geht um eine Stunde zurück, aus der östlichen in die Zentralzeit.
Port Arthur kommt in Sicht – der »Puls Kanadas« – und die Merkwürdigkeit Port Arthurs, die riesigen Elevatoren, Getreidemagazine, sind gut zu sehen aus den 140 Waggonfenstern. Da stehen sie am Fuß des sonderbaren Tafelberges, diese riesigen grauen Röhren, vierzehn, fünfzehn nebeneinander wie Tuben in der Patronentasche eines Gottes. Oben läuft eine graue Brücke über sie weg, links und rechts fassen sie hohe, flache Kasten ein, die sie um einige Stockwerke überragen. Festungen sind es, alles in allem.
Auf dem Perron zeigt man sich den größten Getreideelevator der Welt, Eigentum der Canadian Northern, sechzehn solcher Röhren nebeneinander. Wenn sie voll sind, liegen da sieben Millionen Bushel Weizen, das ungemahlene Brot der Welt.
Das Verfahren, nach dem der Weizen behandelt wird dahier, ist rasch erzählt: unten laufen die Waggone aus allen Gegenden der Prärie zum Mund des Elevators zusammen. Dieser Mund saugt gleichzeitig den Inhalt von neun bis zwölf Waggonen auf. Der Weizen rinnt durch Schleusen von gewaltigem Umfang in einen Raum zusammen, in dem ein System von automatischen Schaufeln die Spreu vom Weizen sondert. Staub, Spreu, Unrat wird durch Röhren automatisch von dem Weizen abgeleitet, der gewogen, von Baggermaschinen in die Höhe 141 gehoben und in die großen grauen Türme hineingeschüttet wird. Dort wartet der Weizen dann geduldig darauf, bis die Welt wieder einmal nach Brot schreit.
Es sind Gebilde wie Wolkenkratzer, diese Elevatoren. Sie erinnern mich sogleich an die Generatoren im Krafthaus an den Niagarafällen. In ihnen sammelt sich die lebendige Kraft der Erde, die erfüllte Hoffnung der ins Land strömenden Menschenmillionen.
Die Früchte dieser Kraft, das Mark dieser Hoffnung, werden durch die Gesetze des Handels, des Zwischenhandels, der Börse und der Spekulation in die großen Siebe der Wolkenkratzer von Chicago und Newyork geleitet. Die automatischen Schaufeln von zehntausend Büros fressen sodann das Beste dieser Kraft, dieses Fleißes und dieser Menschenhoffnungen in sich hinein, schlingen sie in sich hinein, behalten sie in sich zurück. Die Welt mag sich derweil weiter heiser schreien vor Hunger.
In Winnipeg rühre ich mich einen ganzen Tag lang nicht aus dem Bahnhof heraus. Auf der ganzen Welt kenne ich keinen Ort, hab ich an keinem verweilt, der 142 mich derart fasziniert hätte, wie der Bahnhof von Winnipeg. Er ist ganz voll, zum Überlaufen voll und gesättigt von allen Strömen, die durch die Menschenherzen ziehen.
Hier kommen aus allen Teilen der Welt die Menschen an, die die Erde suchen und auf die die Erde wartet. In der Wartehalle stehen auf großen Tafeln die Züge verzeichnet und die Schiffe des Atlantischen Meeres, deren Menschenfracht im Laufe des heutigen Tages über diese Bahnhofshalle ausgeschüttet werden wird. Und die die große Prärie da draußen schon erwartet, seit Erschaffung der Welt, ungeduldig und bräutlich.
Die »Teutonic«, »Jonian«, die »Cassandra« sind vorgestern und vorvorgestern in Montreal und Quebec eingetroffen. Die Züge, die ihre Passagiere mit sich bringen, werden um ein Viertel vor Elf da sein. Eine Stunde später treffen die »Homeseekers-Trains«, die Züge der »Heimats-Sucher« ein. Alle zehn Minuten kommen Kolonistenzüge an und entladen ihren Inhalt von starken, ernsten und gefaßten Männern, staunenden, übermüdeten Frauen und schlafenden oder weinenden Kindern. Ich gehe zwischen der riesigen Wartehalle und dem Perron hin und her, sehe auf die Uhr und weiß von jedem Zug: dieser bringt die Leute der »Cassandra«, dieser kommt aus St. Paul, diese Leute da sind die dreißigtausend Erntearbeiter, die Manitoba braucht, die dort sind die Heimstätten-Sucher, die Homeseekers – ich erwarte sie, ergriffen und aufgeregt, all die Tausende, von denen ich nicht einen kenne, von denen nicht einer mich auch nur im entferntesten angeht.
Hier auf diesem Bahnhof habe ich das Gefühl, wahrhaftigem Leben, zwingendem Schicksal gegenüber zu stehen. Während mich sonst auf Bahnhöfen, angesichts der hin- und herschießenden, mit Körben und Taschen und Schachteln aufgeregt hantierenden Reisenden oft und oft die Vorstellung lachen macht: daß die große Mehrzahl all dieser sich Tummelnden ebenso gut daheim bleiben und versauern könnte.
143 Und meine eigene Wanderlust, wie kommt mir die plötzlich kleinlich und unwahrscheinlich vor und wie in bengalischer Beleuchtung – während da die Heimat-Sucher an mir vorüberziehen zu den Ausgängen.
Sechs kleine Kinder in Schafsfellpelzen mit hochroten Mützchen auf ihren schneeweißen Köpfen sitzen auf einem Haufen Bettzeug. Um sie herum ist ein Festungswall von Koffern, Kisten mit Hausgerät, Kinderwagen und riesigen Körben mit Wäsche errichtet. Die Eltern sind ins Einwandererbüro, zum Billettschalter, zum Konsul gelaufen. Wie hätten sie all das Kleinzeug mitschleppen können? Da sitzen nun die Kleinen in ihrer Festung, die bewegliche Habe der Familie bewacht sie, und sie bewachen die bewegliche Habe der Familie. Neugierig und gar nicht schüchtern blicken sie auf all die Leute heraus, die an der Festung vorüberlaufen und von denen keiner ihre Sprache spricht.
Auf einer Bank gegenüber der Tür, die zum Landbüro führt, sitzt eine junge slowakische Bäuerin. Sie hat ein gelbes Kopftuch umgebunden und wiegt einen Säugling, der in ein knallrotes Tuch eingewickelt auf ihren Armen schläft. Sie hat einen Messing-Ehering am Finger; die junge Engländerin auf der Bank drüben hat keinen Ehering an dem Finger. Auch ihr Baby schläft auf dem Schoß der Mutter, die hübsch in einen weißen Sweater, braunen Rock angezogen ist und einen modischen Federhut auf dem Kopf hat, wie die Frauen der Mittelklasse überall auf der Welt. Sie warten auf ihre Männer, die Slowakin auf ihren Slowaken, die Engländerin auf ihren Engländer. Die Slowakin hat ein Bündel neben sich liegen, das ist ihr Hab und Gut; die Engländerin drüben hat einen richtigen Handkoffer von Leder neben sich auf dem Boden stehen.
Nicht weit von ihnen beginnt auf einmal ein großer brauner Bauernlümmel mit über dem Topf geschorenen Flachshaar und gesticktem Hemd die Kamarinskaja auf seiner Ziehharmonika zu spielen. Ein paar andere 144 Bauernkerle tanzen, auf ihren Säcken sitzend, ohne aufzustehen, mit wild strampelnden Beinen die Kamarinskaja mit. Volk sammelt sich um die Russen an, lacht, spricht in allen Sprachen der Welt durcheinander.
Das Slowakenkind ist aufgewacht von dem Lärm und fängt gottsjämmerlich zu heulen an. Die junge Mutter blickt puterrot um sich, ob ihr Mann denn nicht bald kommt? Dann, als sie nicht mehr weiß, wie sich zu helfen, knöpft sie ihre Bauernjacke auf und gibt ihrem Kind die Brust. Die junge Engländerin drüben hat dieselbe Not mit ihrem Baby. Beide Kleinen heulen in derselben Sprache dasselbe Lied. Die Mutter des kleinen Engländers errötet aber erst, als sie ihren Sweater aufknöpfelt und ihrem Kind den Mund auf die gleiche Art stopft, wie die Slowakin auf der andern Bank. Die beiden Mütter blicken sich über ihren bloßen Brüsten lächelnd und freundlich an. Sie sind beide noch ein bißchen rot im Gesicht; sie zeigen 145 sich, wie gut ihre Brüste sind, ziehen das Hemd ganz weg von ihrer Brust; und die Röte ist gar nicht Schamröte auf ihren Gesichtern, sondern Stolz. –
Neben dem Bahnhof, so, daß jeder, der ankommt, ob er sie braucht oder nicht, sie sofort sehen und finden muß, sind die Büros, die Informationshalle und die Logierhäuser des staatlichen Einwanderungsamtes gelegen.
Beamte, an ihren Mützen gleich zu erkennen, freundliche und vertrauenerweckende Männer, die alle Sprachen der Erde sprechen, erwarten die Ankömmlinge und geleiten sie in die Halle, die Büros und die freien Logierhäuser. Dort können sie ihre Papiere vorweisen, ihre Wünsche vortragen, dann ihre müden Glieder eine Nacht lang auf sauberen Betten zur Ruhe legen – und morgen früh werden sie dem Land entgegenfahren, das ihnen gehört von diesem Morgen an!
Nein, wirklich – ich kann mir beim besten Willen so bald nichts dermaßen Einladendes, Mut und Hoffnung Weckendes, Wohlgefälliges vorstellen, wie es die Halle ist im Einwanderungsamt zu Winnipeg. Die gehetzten, von der tagelangen Reise durch Stein und Wasser und verbrannte Wälder matt und irr gewordenen Augen der Menschen klären sich, werden hell, sicher und froh, wenn die Menschen in diesen schönen, lichtdurchfluteten, mit Ährenbündeln, Früchtefestons und allen Zeichen der Fruchtbarkeit geschmückten Raum eintreten.
146 Etwas Selbstbewußtes, Forderndes glänzt auf in diesen Augen, die daheim sich nur halb aufzutun gewagt haben. Der Ärmste, der gewohnt war, zu bitten, zu betteln, fortgejagt und wahrscheinlich noch verhöhnt zu werden obendrein, wenn er Arbeit um Brot eintauschen wollte in der »alten Heimat« – hier, das weiß er, ist er der Erwartete, der Willkommene, ein Notwendiger, Nützlicher, wieder ein Mensch gewordenes Geschöpf Gottes.
Er wird mit gutem Blick und aufrichtigem Wort empfangen an der Schwelle dieses Landes, das vor Fruchtbarkeit fast bersten will und mit Menschen unterernährt ist; das ist es.
Der Beamte, der seine Heimatssprache spricht, fragt ihn nach seiner Beschäftigung im alten und Begehr im neuen Land. Eine Landkarte, die in winzige Quadrate eingeteilt ist, wird ausgebreitet zwischen dem Einwanderer und dem Beamten. Der Bleistift des Beamten zeichnet irgendwo ein Viereck in diese Landkarte, der Ankömmling erhält ein rotes Papier, er muß jetzt nur seinen Binkel aus der Gepäckhalle holen und sein rotes Papier gut in die Tasche stecken. In einer Stunde hat er das erreicht, wonach sich seine Träume im grausamen alten Land jahrelang verzehrt und zerfleischt haben. Er hat Land und Brot für sich und sein Weib und sein Kleines erhalten. Er hat jetzt nur noch zu arbeiten.
Wenn ich will, brauche ich mich bloß in die Reihe mit den anderen zu stellen, meinen Paß aus der Tasche zu ziehen und morgen sitze ich auf meinen 160 Acre und bin ein gemachter Mann, statt eines Bücher schreibenden und sich aus unsicheren Quellen ernährenden Proletariers. Den jeder von diesen Besitzern eines roten Papiers mit Mißtrauen und einigermaßen begründeter Verachtung von der Seite her anschauen darf – während Er, der Feste und Sichere, mit wuchtigen Schritten zur Tür hinausmarschiert! 147