Josef Hofmiller
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Josef Hofmiller

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Südtirol

(1928)

Zu dem vielen Schmerzlichen, das uns der Ausgang des Krieges gebracht hat, gehört, daß es uns nicht mehr möglich ist, Ostern jenseits des Brenners zu feiern. Tausende von Deutschen sind um diese Zeit alljährlich in Südtirol gewesen. Bozen war so besucht von Münchnern, daß es im Scherz, in Anspielung auf die kleine Haltestelle an der Strecke nach Rosenheim, Ostermünchen genannt wurde. Es war wie eine große Gemeinde, die sich gegenseitig vielfach vom Sehen kannte, vom Jahre vorher. Man ging die geliebten, alten, ewig jungen Pfade ab, und fand, wie Blüten am Baum, die alten Erinnerungen.

Kannten wir nicht jedes Zeichen an der Strecke? Haben wir nicht gewartet, bis der Blick ins hohe Stubai kam zwischen Brennerbad und Gossensaß? Und dann war auf einmal das alte Sterzing da. Dann kamen die Burgen: Sprechenstein, und die Thumburg, und Reifenstein. Die alte Franzensfeste, und gleich danach die ersten Weinberge und Vahrn in seinem Wäldchen von Edelkastanien. Das weite Tal von Brixen, der geistlichen und gastlichen Stadt; Peter Mayers Wirtshaus an der Mahr rechts; der kurze Blick auf die Geislerspitzen links nach Albeins; das hohe Kloster Säben; Klausen, das köstliche alte Nest; Waidbruck mit den Hängeweiden, die schon ganzgelb prangten vor lauter Frühling; hoch oben die alte Trostburg. Und dann, ja dann fuhr man in den Kuntersgraben, zwischen dessen warmen Porphyrsplittern alles blau von Leberblümchen war und grün vom Efeu, und dann kamen geschwind noch ein paar schwarze Tunnels, aber der Zug fuhr fast ohne Rauch, so daß man die Fenster nicht mehr schloß, und dann stand auf einmal das alte graue Kirchel von Kampill zwischen lauter blühenden Bäumen, und darüber der Rosengarten, die Vajolettürme, schon fuhr der Zug ganz langsam, links Blüten, nichts als Blüten, rechts Zwölfmalgreien und die Oswald-Promenade, Sankta Justina, da war auch schon der herrliche durchbrochene Pfarrturm, und man war da, glücklich da: am Ausgang stand der wohlbekannte Gasthofdiener, der einen anlachte wie ein alter Onkel oder Vetter. »Fahren?« Nein, zu Fuß, vom ersten Augenblick an nur zu Fuß in diesem unbeschreiblich schönen, geliebten Bozen: man nahm wieder Besitz von der Stadt, oder vielmehr, sie ergriff wieder Besitz von uns, wir waren ihr wieder verfallen auf Tage, die endlos glücklich vor uns zu liegen schienen.

»Als wir am Fuß des Brenners in der Frühe ausstiegen, nachdem wir eine ganz unerträglich schwüle Julinacht durch Italien gesaust waren, empfand ich jenes besondere Entzücken, das mich immer überfällt, wenn ich zum ersten Male wieder ins alte Deutschland komme. Wie erstaunlich deutsch ist dies Deutschland! Hier, noch auf dem Italien zugewandten Abhang der Alpen, ist ein kleiner Ort, der dieselben Züge hat, dieselben Gefühle auslöst wie etwa Goslar, das Hunderte von Meilen nördlicher ist, am Fuße des Harzes; eine Stadt, die sozusagen um eine ganze Literaturbreite von Verona und Trient entfernt ist, durch die doch ihr Eisack ein paar Stunden später rauscht. Eine ganze Literatur entfernt von Italien. Denn es gibt nicht eine einzige echte alte deutsche Stadt, in der sich nicht die Geschichte von Faust und Gretchen hätte zutragen können. Sind nicht alle Städte, in denen Goethe seine Jugend verbrachte – Frankfurt, Straßburg, Wetzlar –, sind sie nicht alle mittelalterlich? Von diesen faustischen Städten aber ist das kleine Tiroler Sterzing die südlichste. In dieser Straße voll von Turmfenstern und Treppengiebeln warf Goethe seinen Abschiedsblick auf Deutschland und aufs Mittelalter der Faust-Welt, während ihn der Postwagen rasselnd Italien entgegentrug und dem Heidentum, Iphigenien, Helenen und den Römischen Elegien ... Die vielen Wirtshäuser und Schenken machen aus Sterzing selber einen großen Gasthof, aber es ist der Gasthof des deutschen Märchens oder des Volksliedes aus dem Wunderhorn.« Es ist eine Engländerin, die so schreibt: Miß Paget, die unter dem Namen Vernon Lee eine Reihe seiner Reisebücher herausgegeben hat. Die Stelle ist aus dem neuesten: The Tower of the Mirrors (Tauchnitz). Wie richtig sieht doch diese weitgereiste Frau, die in Franken und Thüringen nicht weniger zu Hause ist als in der römischen Campagna, in der Touraine nicht weniger als in der unbekannten Schweiz! Wie deutsch ist das alles! Schien uns dieses Tirol nicht ein lebendiger Teil unserer deutschen Vergangenheit, um so vieles deutscher als unsere Städte? Zog es uns nicht deshalb so magisch in dies Land, weil es deutscher war, ehrwürdig und ergreifend deutscher? ...

Deutsch ist diese in Europa einzige und mit nichts zu vergleichende Landschaft: Dolomitengipfel und Eisriesen, Hochmatten und Gletscher, Burgen, Dörfer, Ansitze, Kirchen, Städte, jene nur südlich des Brenners vollzogene germanische Gestaltung des Übergangslandes in Landschaft, Landbau und Siedlung. Überall sonst sind die Übergänge von einer Plötzlichkeit, die einen andersartigen Reiz darstellt: man denke an die Täler nördlich und südlich des Gotthard, Simplon, Mont Cenis! Im Engadin fließt wohl eine südliche Welle nordwärts bis herab nach Chur und durchs Rheintal sogar vor bis Bregenz, aber keine stärkere nördliche strömt ihr entgegen, wie sie über den Brenner strömt bis zur Klause von Salurn, unverkennbar jedem Auge, das Landbau und Siedlung zu lesen weiß. Sarntheimer Bauern am Markttag, wie sie vor Obstkörben stehen, man muß sie gesehen haben, diese hohen Gestalten blonder Goten, um zu ahnen, wie germanisch das Bauernvolk dort unten noch ist. »Es war unerhört schön«, schreibt Ludwig Thoma in einem Briefe, nachdem er den Bauernfestzug in Innsbruck 1909 gesehen hat: »ethnologisch war es ein Wunder, und künstlerisch nichts anderes. Die Goten, die in Meran herum sitzen, sind ganz gewiß die schönsten Menschen. Bauernknechte vom Sarntal sehen vornehmer aus wie englische Lords. Ich bin drei Stunden lang glücklich und stolz gewesen, als Deutscher zu sehen, wie unser Volk einstmals war.«

Niemand kann durch Brixen, Sterzing, Bozen, durch das alte Meran gehen, ohne diese Städte als die südlichsten Zeugen desselben Geistes zu fühlen, dem wir Rothenburg ob der Tauber und Wimpfen am Berg verdanken, Wasserburg am Inn und Meersburg am Bodensee, Und wären sie niedergelegt bis auf die Grundmauern, so müßte man den steinernen Stadtplan der Gassen und Plätze zerstören bis unter den Boden, um sagen zu können: dies war nicht deutsch.

Immer bewußter, immer unveräußerbarer wird dies Kleinod Besitz der deutschen Seele, je geringeres Verständnis seine derzeitigen Verwahrer für seine Eigenart bekunden. Der wundersame Turm der Bozener Pfarrkirche, erbaut von Hanns Lutz, Steinmetz zu Schussenried, das patrizische Barock des Merkantilgebäudes, die tirolische Fröhlichkeit von Erkern, Giebeln, Lauben, behäbige süddeutsche Zwiebeltürme hinter einem geschwungenen Kirchengiebel, Bildstöcke wie in Unterfranken, Burgen wie am Rhein und in der Wachau, geschmiedete Grabkreuze wie in Rabenden, die geistliche Stadt Brixen wie ein südlicheres Eichstätt oder Freising, die Neustifter Bibliothek so nobles deutsches Rokoko wie die von Ottobeuren, Gassen und Torbögen als stammten sie aus Passau, Ansitze wie aus dem Taunus, Kirchtürme so spitz wie der Fischbacher oder der Antworter, Burghöfe mit Bogenhallen wie aus der Freisinger Residenz, Innenräume wie die der Salzburger, sogar Berggestalten wie das Totenkirchl und Wände wie die Laliderer Wand –: immer sind es nur süddeutsche Bilder, niemals italienische, die uns unwillkürlich in den Sinn kommen. Das südlichste, das sonnigste und das deutscheste Stück Süddeutschland: das ist Südtirol seit tausend Jahren.

Ein Land, das alles, was es geworden ist, der klugen und gerechten Durchführung der Grundsätze von Nation und Sprache verdankt, tritt eben diese Grundsätze einem armen und wehrlosen Nachbarvolke gegenüber mit Füßen. Wenn das berühmte Wort Sallusts für die Nation, die sich gerne als Erbin der alten Roma auffaßt, ewig gültig ist, wird sich diese Apostasie von allem, was das Dritte Italien gemacht und groß gemacht hat, eines Tages rächen. Denn es ist eine ungeheure Lüge, und nichts anderes, aus Gossensaß Colle Isarco zu machen, aus Sterzing, dem südlichsten Stück Rothenburg, Vipiteno, aus Brixen Bressanone, aus Waidbruck Ponte all'Isarco, aus Klobenstein Collalbo usw. Und es ist ein ungeheurer Frevel, dem Lande, dem man so die Stimme zu nehmen sich anmaßt, auch noch den uralten, noch ehrwürdigen und stolzen Namen Tirol selbst von Amts wegen rauben zu wollen, ein Frevel, der noch ungeheuerlicher wird durch die Tatsache, daß von den unbegreiflichen und kurzsichtigen Verboten der landfremden Regierungen in Italien das unbegreiflichste und kurzsichtigste, aber auch das aufpeitschendste und brennendste dasjenige war, den Namen »Italien« in den Schulen zu gebrauchen. Wer da will, daß zwischen Italien und seinem nördlichen Nachbarn, zwei Nationen, zwischen denen kein ernsthafter Grund zum Zwiste jemals war, noch sein kann, daß zwischen Italien und Tirol niemals Ruhe und Friede werde, wird derlei Verfügungen begrüßen. Wer aber dem Italien von heute, abgesehen von den Ungerechtigkeiten seiner Grenze gegen Tirol, ehrlich Gedeihen und Bestand wünscht, der kann nur hoffen, daß eine kommende italienische Regierung, treu den wahrhaft großen Traditionen des Risorgimento, eine völkerversöhnende Politik der Gerechtigkeit und Loyalität verfolgt, eine Politik vor allem auch weiser Voraussicht und Selbsterhaltung: denn all die Energien an Autorität, an Kapital, an Bevölkerung, die Italien in Tirol zwecklos verpafft, wären ganz anderswo ungeheuer nötig, da, wo die wirkliche große und ernstliche Gefahr für Italien an der Grenze lauert, da wo die slawische Welle nur aufgehalten werden könnte durch eine noch stärkere italienische Welle. Auch diese Verblendung wird sich früher oder später rächen ...

Der Brenner selbst, war er nicht jedesmal ein neues Wunder? Erinnern wir uns je, zwischen Innsbruck und Bozen in der Bahn gesessen zu sein, anstatt am Fenster gestanden? Dies sanfte Ineinsklingen und Ineinanderfließen von Nord und Süd, Himmel und Gebirg, silberstäubenden und lichtgrün talabschießenden Wassern, steil anschwellenden Berghalden, die alte weiße Paßstraße mit den doppelten Zeilen reinlicher Häuser, das köstliche Nebeneinander herber Bauerngotik und südlich behäbigen und weiträumigen Hausbaus, das kuppig verwitternde graue Urgestein, die zackigen Bastionen graugelben Kalks, der gedämpft purpurne Porphyr und das silberne Leuchten der Firne: das alles war uns eine der geliebtesten Landschaften geworden, die uns im Traum aufstieg wie ein Bild aus längst vergessener Kindheit.

Und wer, der es auch nur ein einzigesmal sah, hat das letzte Bild vergessen, mit dem uns Tirol gleichsam entließ, wenn wir am Weißen Sonntag früh 9 Uhr von Innsbruck wegfuhren: an einer der doppelnamigen Haltestellen – war es Fritzens-Wattens oder Terfens-Weer oder Volders-Baumkirchen, ich weiß es nicht mehr – kam alljährlich über die schmalen Pfade unmittelbar neben dem Geleise die Schar der kleinen Erstkommunikanten, unweigerlich, jedes Jahr genau an der nämlichen Stelle: die Mädchen mit Blumenkränzen um die blonden oder braunen Zöpfe, Blumen in den Händen, die ersten Anemonen oder Himmelsschlüssel, und dahinter die blaßgrünen Wiesen und der schwarze Wald und der graue Karwendel noch voll Schnee: ein Bild wie von Ludwig Richter! Wie deutsch das alles, wie deutsch!

Die Schönheit der Brennerlandschaft hat Goethe entdeckt, aber ihre Reize an menschlicher Siedelung hat volle 200 Jahre früher bereits der geistreiche Südfranzose Montaigne gesehen: »Dienstag vormittag verließen wir Innsbruck, fuhren über die Ebene und folgten der bequemen Bergstraße. Links hatten wir den Blick auf eine Reihe anderer Berge, sanfter, breiter, mehr ausladend, mit Dörfern übersät und Kirchen, angebaut meist bis ganz oben hinauf; rechts waren sie weniger bebaut und bewohnt. Oft fanden wir wohlhabende Flecken, Dörfer, schöne Wirtshäuser, Schlösser und Edelsitze zur linken Seite ... Sterzing, kleine Stadt der Grafschaft Tirol, recht hübsch, eine Viertelmeile entfernt darüber ein schönes neues Schloß ... Auf unserer ganzen Reise durch Deutschland (!) sahen wir kein Schlafzimmer und keinen Speisesaal, die nicht getäfelt gewesen wären und niedrige Decken gehabt hätten ... Am Weg lagen vier oder fünf Burgen. Später überschritten wir den Fluß auf einer Holzbrücke und folgten ihm auf der anderen Seite ... Brixen, sehr schöne kleine Stadt, eine Holzbrücke führt übers Wasser; wir sahen zwei schöne Kirchen und wohnten sehr gut im Adler. Die Ebene ist nicht breit, aber die Berge ringsum so sanft geschwungen, daß sie sich überall anbauen lassen. Alles bis ganz hoch ins Gebirg hinauf voll von Kirchtürmen und Dörfern, in nächster Nähe der Stadt eine Reihe schöner Häuser in reizender Lage.

Nie noch hatte Herr von Montaigne eine Gegend gefunden, in der die Gasthäuser so dicht gesät waren und so schön; und immer waren die Städte wohlversehen mit Wein und Lebensmitteln und billiger als andere ... Hier begannen auch die Weinberge wieder. In der ganzen Gegend haben die Häuser Gewölbe, in allen Stockwerken ... Wir verließen Brixen am nächsten Morgen, das Tal wurde bedeutend breiter, die Hänge schmückte meist eine Reihe sauberer Häuser. Wir kamen durch einen kleinen Flecken namens Klausen, in dem die verschiedensten Handwerke betrieben werden ... Die Gegend ist so besiedelt, daß wir über den ersten Bergen andere höhere sahen, die angebaut und bewohnt waren, ja man sagte uns, dort oben lägen große Ebenen, die den Orten unten Getreide lieferten, mit reichen Bauern und schönen Häusern ... Wir gingen nochmals auf einer hölzernen Brücke über den Fluß und kamen früh nach Bozen; im Vergleich mit sonstigen deutschen (!) Städten ungefällig, so daß der Herr von Montaigne sofort sagte, er merke wohl, daß man allmählich aus Deutschland (!) hinauskomme. Die Straßen waren enger, man fand keinen Gemeindeplatz mehr, aber Brunnen, Bäche, bemalte Häuser und Glasfenster gab es auch hier noch. An Wein hat die Gegend solchen Überfluß, daß sie an ganz Deutschland liefert. In diesen Tälern ißt man das beste Brot der Welt. Ganz wunderschön ist die Kirche ... Trient: keineswegs gefällig, hat völlig den Reiz der deutschen Städte verloren; die Straßen meist eng und gewunden. Etwa zwei Meilen vorher hatten wir das italienische Sprachgebiet betreten.«

Was hat sich an dem allem geändert? Nichts, als daß auch Bozen ein Juwel von Stadt, daß das deutsche Südtirol noch viel schöner geworden ist. Denn wie deutsch diese Art von Siedlung und Bau ist, das beweist ein Blick in die heute noch unübertroffene italienische Ausgabe der Reise Montaignes, die Professor Alessandro d'Ancona besorgt hat. »Sterzing«, sagt er in seinen Anmerkungen, »würde heute nicht mehr das schmückende Beiwort ›schön‹ oder ›gefällig‹ verdienen ... Auch Brixen könnte man heute nicht mehr als schön loben ... Es ist unbegreiflich, daß der Verfasser, der so häßliche Nester (cittaduzze), wie Sterzing und Brixen, schön gefunden hatte, nicht denselben Eindruck von Trient bekam, das Ende des 16. Jahrhunderts bereits einige geräumige Straßen, Plätze, Paläste, schön gebaute und nach dem Brauche der benachbarten Städte Veneziens gezierte Häuser hatte.« Das Urteil d'Anconas ist das unbewußte Bekenntnis, daß und warum der Italiener das deutsche Südtirol niemals verstehen kann. Es bleibt ihm ewig fremd und unheimlich, er kann es höchstens zerstören. Das köstliche Sterzing darf als Symbol dessen gelten, was der Durchschnittsreisende von der Tiroler Stadt zu Gesicht bekommt: für den im D-Zug Vorbeifahrenden ein Haufe von Dächern, die sich grau und flach über- und hintereinander legen, wie eine Austernbank; für den Eintretenden und Verweilenden eine verwunschene Märchenstadt, in der man nur offenen Auges und Sinnes zu schlendern braucht, um Fund auf Fund zu tun. Gar eine Mondnacht in Sterzing: Meistersinger zweiter Akt, ein Traum, eine Vision. Das wird kein Italiener je erfassen, das kann er nie verstehen, am wenigsten der Italiener von heute, dessen ästhetische Manifestierung das römische Nationaldenkmal ist. Denn das alles – Montaigne fühlt es und spricht es aus –: das alles ist deutsch. Keine Spur von Welsch. Sterzing ist genau so deutsch wie Rothenburg ob der Tauber, Brixen so deutsch wie Würzburg oder Bamberg, die Laubengasse von Bozen könnte in Wasserburg oder Landshut stehen und die Doktor-Streitergasse mit den charakteristischen Bögen in Mühldorf oder Burghausen. Deutsch ist das alles, und wenn der Italiener versucht, sein nüchternes Ideal von Hausbau, Straßenführung, Stadtgestaltung auf diese »cittaduzze« zu übertragen, so zerstört er nur unschätzbare Werte, um Klischees und Gemeinplätze an deren Stelle zu setzen.

D'Ancona weiß, daß es ein Tirolo gibt, sogar ein Tirolo tedesco,und hütet sich wohl zu Montaignes Feststellung der Sprachgrenze eine korrigierende Anmerkung zu machen. Weil diese Sprachgrenze sich seit Montaignes Zeiten niemals nennenswert verschoben hat. »Hier bin ich nun in Roveredo, wo die Sprache sich abschneidet«, schreibt, 200 Jahre nach ihm, Goethe; »oben herein schwankt es noch immer vom Deutschen zum Italienischen.« Und selbst wenn die Zungen schwiegen, so würden die Steine reden. Jeder Stein in Bozen, Sterzing und Meran schreit, daß es ein Wahnsinn ist, den deutschen Charakter Südtirols bis zur Salurner Klause zu bezweifeln. Niemals ist der Brenner etwas andres gewesen als der Dachfirst über dem einen Hause, und dieses eine Haus heißt Tirol, gleichviel ob nördlich der Wasserscheide oder südlich, ob wir in Kufstein herumgehen oder in Terlan, in Rattenberg und Hall oder in Bozen und Sterzing, alle unter ähnlichen Bedingungen entstanden und das nämliche Wesen ausdrückend, ob sie sich dem schützenden Burghügel anschmiegen, unterordnen, sich um ihn herumlegen wie eine Schleppe, oder ob sie sich in die Längsfalte des Tals fügen im langen Zeilendorf, dessen Häuser in Reih und Glied stehen und sich stützen und keinen Zwischenraum lassen für Wind und Kälte, alle still und gelassen in ihrer Landschaft ruhend, aus demselben Stoffe gebaut wie jene, vom Gebirge überragt, mit dessen vertikalen Wirkungen zu wetteifern sie sich niemals beikommen lassen. Über all den Unterschieden, die zwischen Unterinntaler Stadt und Markt am Brenner bestehen, zwischen Nord- und Südtiroler, zwischen Pustertaler und Vorarlberger, zwischen dem unversehens zur Stadt gewordenen Dorfe Kitzbühel, der Grenzfeste Kufstein, dem reichen Handelsplatz Bozen, der Landeshauptstadt Innsbruck, dem geistlichen Brixen, dem fürstlichen Salzburg, dem handwerkerlichen Klausen, – über all dem waltet ein Gemeinsames, das jeder sieht, der überhaupt Augen hat zu sehen, gleichwie ein jeder es hört, der Ohren hat zu hören. Bei der Salurner Klause ist der Strich, seit einem Jahrtausend, und ihn nördlicher zu ziehen, ist eine Lüge, die zum Himmel schreit.

Die Schöpfer dieser Städte hatten die ganze herzhafte Freude an der großen Wand, den Mut zur breiten, ungegliederten, meist farbigen Mauerfläche und zugleich wiederum die ganze herzhafte Freude an Gliederung, Auflockerung, Stufung der Wand, durch Geschoß und Dach, Tor und Fenster, Laube und Erker. Wo überhaupt empfindet man die Schönheit der Naturformen des Hauses so stark als etwas Köstliches und Unerschöpfliches wie in diesem deutschen Südtirol, die Schönheit von Erker, Pfeiler, Laube, Halle, Außentreppe, Lichthaube? Man mag das schwindsüchtige Zeug, das bei uns einen Erker vorstellen soll, nicht mehr ansehen, wenn man die Tiroler Erker kennt, innen geräumig und behaglich, nach außen charaktervoll vortretend, von der einfachsten Form bis zur reichsten. Wer durch das alte Rattenberg und Hall geht, durch Klausen, Brixen, Sterzing, erlebt auf Schritt und Tritt, wie der steinerne Rhythmus anfängt, melodisch zu klingen, die Linie zu schwingen, wie die Wiederholung der einfachsten und schlichtesten Motive traulich und froh stimmt und das Herz warm macht, so daß uns in den ersten Tagen der Heimkehr in die Großstadt Gemüt und Augen schmerzen, genau wie es dem alten Montaigne sonderbar unbehaglich wurde, als er aus den kerndeutschen »cittaduzze« nach Trient kam mit seinen vie spaziose e piazze e palazzi. Das deutsche Südtirol ist verständlich nur aus einer langen und lückenlosen germanischen Vergangenheit, die sich nicht bloß auf Herrensitz und Kirchengiebel erstreckt, auf Stadtburg und Zwingmauer, Geschlechterturm und Brustwehrzinnen, sondern auf das älteste und bleibendste, wenn auch vielfach verstümmelte, übermurte, unverstandene und sinnlos gewordene: Namen von Ort und Flur, Wald und Wiese, Bach und Berg.

Die Südtiroler Landschaft ist uns keine bloße Vedute, sie ist ein Gemütszustand. Wenn beim Verlassen des letzten Tunnels vor Bozen wiederum zum ersten Male die graue Kirche von Kampill in einem weißen Traum von blühenden Bäumen stand, hatten wir nicht stets das Gefühl, in eine Heimat zu kommen, der wir auf geheimnisvolle Weise verbunden und verschrieben waren, wie einer wundertätigen Wallfahrt, wo man jedes Jahr zum mindesten einmal hin muß, es zieht einen, es läßt nicht nach, bis man dort ist? Und schon rannte man auf der Wassermauer, da war die alte Maretsch mit den fünf Türmen, und drüben die Haselburg, und in der Ferne Sigmundskron, schon stand man atemschöpfend, beglückt, entrückt im efeuumsponnenen Burghof von Runkelstein ... endlich wieder! endlich wieder! ...

Ein Burgenland wahrhaftig, wie am Rhein, wie die bajuwarische Wachau, der alemannische Hegau, von einer Burg sieht man schon die nächste, mit Burgen empfing das Land den Wanderer, Sprechenstein und Reifenstein oberhalb desselben Sterzing, wo die Kommende des Deutschen Ordens steht; da war Velturns, die geistliche Burg von Brixen, Branzoll ob Klausen, wo der Minnesänger Leuthold von Säben sang, da standen mit gelben Strähnen die Weiden an der Brücke und darüber dräuend die Trostburg, schon blinkte Karneid, und dann kam das glorreiche Burgengeschmeide von Sigmundskron bis Schloß Tirol: Festenstein, Winkel und wie sie alle heißen, Knillenberg, Rottenstein, Planta und Rubein, Rametz, Labers, Schenna, die Fragsburg, Lebenberg, Tarantsberg, die weinumduftete Wanderung Kaltern, Eppan, Girlan, Andrian, Terlan, – haben wir uns nicht überall in einem noch deutscheren Deutschland gefühlt, als jenes war, aus dem wir kamen? ...

Dantes Standbild in Trient weist nach Norden: Warum? Aber Dante sagt es ja selbst (Inferno 20, 63): Sovra Tiralli! Was oberhalb liegt, ist Tirol! Bei Dante steht das ominöse Wort, breit, unantastbar, unverrückbar, seit 600 Jahren: Tiralli! Der Dichter ist der älteste Kronzeuge für den Namen Tirol: Tiralli! Da hilft kein Drehen und Deuteln, es steht da! Wie kindisch und lächerlich, mit den Mitteln des vormärzlichen Österreich einem Volke das Stammesbewußtsein aus der Seele reißen wollen, den Unmündigen die Muttersprache von den Lippen, den Gläubigen den Trost Gottes in der Zunge ihrer Urväter vorzuenthalten, den ehrwürdigen Namen der Heimat sogar mit Polizeimitteln verbieten wollen, mit Knüppel und Säbel, mit Kette und Gefängnis! Da steht der eherne Unsterbliche und deutet unnachgiebig: »Tirol!« Das Tirol Goethes, das Tirol Montaignes, das Tirol Dantes. Tirol seit tausend Jahren, heute und immerdar: Tirol!


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