Josef Hofmiller
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Josef Hofmiller

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Das Idyll Oberberghausen

(1915)

Anderthalb Bahnstunden von München liegt die geistliche Stadt Freising, und anderthalb Gehstunden von der geistlichen Stadt Freising liegt das Idyll Oberberghausen. Man geht in Freising bei der oberen Hauptstraße hinaus und folgt der Thalhauser Landstraße, bis beim fünften Kilometerstein eine gefurchte schmale Forststraße nach links abzweigt, durch eine schöne Reihe alter Bäume auf einen erhöhten Platz zu. Drei Pappeln stehen um ein Wegkreuz, moosige Holzstufen leiten zu einem kleinen verwilderten Friedhof mit einer hellen Dorfkirche, eine zerbröckelnde Ziegelmauer führt herum, in rostigen Angeln knarrt eine rostige Gitterpforte, geschmiedete Grabkreuze zerblättern über Gräbern, deren Namen bis zur Unleserlichkeit verwittert sind. Es ist ein einsamer Fleck zum Ausruhen und zum Träumen. Ringsum breiten sich dunkle Nadelwälder, weiße Birkenstämme leuchten, Rehe wechseln über die Lichtung und äsen.

Das ist das Idyll Oberberghausen, und der es geschaffen hat, ist kein Geringerer als der Staat.

Jetzt läuten die alten Glocken dieses Kirchleins einmal im Jahr, am Klementitag, wenn dem Kirchenpatron zu Ehren eine stille Messe gelesen wird. Vor fünfzig Jahren haben sie noch täglich geläutet. Sie läuteten, wann in Oberberghausen ein Bub auf die Welt kam oder ein Mädel. Sie läuteten, wann ein alter Austragvater seine müden Glieder in der kühlen Erde des Gottesackers ausstreckte, der damals auch nicht verwildert war, sondern von den buntesten Bauernblumen leuchtete. Sie läuteten jeden Tag zu den heiligen drei Zeiten, wann die Christenheit daran denkt, daß der Heiland eine Mutter gehabt hat. Läuteten über Äcker, die schwarz und glänzend dalagen im nassen Frühjahr, über weiche Wiesen, auf denen Kühe weideten in glasklaren Herbsttagen, über die Kirschbäume mit ihrer dunkeln, schönen Rinde, über Brunnen mit fließendem Wasser und den Abendfrieden eines kleinen Dorfes.

Denn ein kleines Dorf war es, wenn auch nur vier Höfe: der Kelhammerhof, der Mayerhof, der Meßnerhof und noch einer, dessen Name – vierzig Jahre sind eine lange Zeit – schon in der Erinnerung verwittert ist wie Friedhofsmauer und Friedhofskreuze. Bauern haben da gehaust mit ihren Bäuerinnen und der lustigen Schar ihrer Kinder, mit Knecht und Mägden, Ochsen und Rössern, Kühen und Schweinen und allerlei Hühnervolk. Bloß vier Bauern, wenngleich Platz dagewesen wäre für mehr. Vielleicht wären mehr gekommen und wäre Oberberghausen ein richtiges Dorf geworden, sauber und freundlich, wie die Dörfer in der Gegend allesamt sind. Aber es scheint, sogar bloß die vier Bauern waren dem Forstamt schon zu viel, denn auf einmal wurden die vier Höfe dem Erdboden gleichgemacht, als ob der umgebende Wald sie immer enger umkreist hätte, wie die Schafe des alten Schäfers Galli einen Hasen. Es muß einer schon einen Blick für so etwas haben, um aus der Reihe Obstbäume, am Jungholz oder der geraden dunklen Narbe des Grases zu erkennen, wie die Häuser gestanden sind.

Es war im Jahre 1883, da fiel dem Forstmeister Bierdimpfl auf einmal ein, hier ließe sich eine Weidenkultur anlegen. Es war ein Einfall, wie er einem Menschen kommen kann, der nicht übermäßig viel zu tun hat: harmlos, so lange er nicht ausgeführt wird. Aber je größer die Dummheit, desto gewisser wird sie gemacht. Die Bauern mußten weg auf Knall und Fall. Es ist immer ein kleines Königreich, wenn man sagt Bauernhof, und wenn ein Hof verschwindet müssen mehr Menschen und Vieh dran glauben, als sich der Städter vorstellt. Der Bauer zählt seine Taler und meint wunder was er hat; zieht in die Stadt Freising und schaut wie ein Schwalberl, wann er hört, wieviel der Wohnungszins von dem bissel Gerstl wegreißt. Er und sie gehen in die Meß, und am Nachmittag in den Rosenkranz oder in den Kreuzweg. Zu mehr langt das Gerstl nimmer. Die erwachsenen Kinder schauen sich um einen Dienst, die kleinen gehen in die Schule, bis sie alt genug sind für die Fabrik. Die Ehhalten müssen sich einen anderen Platz suchen, und das Vieh kauft der Jud. Wenn der Bauer alt genug wird, kann man ihn mit einem irdenen Haferl an der Klerikalseminarpforte stehen sehen: ob nichts übriggeblieben sei von Mittag her.

Abgebrochen war geschwind. Abgebrochen ist immer geschwind, und wenn der Staat abbricht, schon gleich gar. Die Weidensetzlinge kamen aus der Rheinpfalz. Weil bekanntlich das Klima der Rheinpfalz und das Klima von Oberberghausen so ähnlich sind. Die Pflanzung wurde Weidenbusch getauft, und ist der Champagner nicht gespart worden bei der Taufe. Ein Scheibenschießen war auch, und auf der Festscheibe war der Forstmeister Bierdimpfl gemalt und der Assessor Striegl von Kranzberg, wie sie im Schweiß ihres Angesichtes Körbe flochten; ihre Gewehre lehnten daneben und ihre Hunde weinten Bäche. Alle, die es sahen, haben lachen müssen, und alle, die dabeisaßen, haben es ordentlich gefühlt, wie nützlich sie seien, weil zuerst bloß vier Bauern da waren und jetzt gleich ein paar tausend Weidenstöcklinge. Sie hatten auch allerhand dunkle Vorstellungen von Heimarbeit und fröhlicher Konkurrenz gegen die Lichtenfelser Korbweidenindustrie.

Leider war die pfälzische Weide ein rechtes Luder und mochte nicht gedeihen. Der Hintergrund war schlecht, und das Oberberghauser Klima scheint's für Bauernhöfe geeigneter als für dem Forstmeister Bierdimpfl seine Weiden. Die Luder entarteten. Das hätte man schließlich vorher, wenn man die Sache in kleinem Umfang ausprobiert hätte, auch herauskriegen können, aber dann hätte ja die Geschichte dem Staat kein Geld gekostet, und die vier Bauern wären dageblieben, und der Forstmeister Bierdimpfl hätte nicht zeigen können, wie ein gescheiter Beamter den Karren aus dem Dreck wieder herauszieht: er baute Exportnadelhölzer an und sonstiges Koniferenzeug. Weil in der Gegend ohnehin nicht genug Nadelwald ist: bloß fünf Stunden lang. Von der ganzen Weidenkultur verblieb nur ein einziger Hektar mit verschiedenen Weidensorten, dreihundert an der Zahl, japanesische, chinesische, australische, was nur an Weiden da ist, damit alle Jahre einmal die Hochschulstudenten herfahren und sehen, wie sich dreihundert verschiedene Weidensorten auf einem Boden entwickeln, der für Weiden nicht paßt. Das gehört nämlich auch zur Forstwissenschaft.

Die anderen Weiden wurden alle wieder herausgerissen und an die Stelle Nadelholz gepflanzt. Der Wald steht jetzt dreißig Jahre. Die Ertragfähigkeit eines Waldes beginnt nach fünfzig Jahren. Wer's nicht glaubt, soll den Grafen Törring fragen. Aber was will der Einwand besagen gegenüber dem Fortschritt, daß ein Dorf zerstört worden ist, um Weiden zu pflanzen, die herausgerissen werden mußten, um Nadelbäume zu pflanzen, die sich erst in zwanzig Jahren rentieren, zwar nicht so gut wie Bauernhöfe, aber doch besser als japanesische Weiden. Einen Profit hat von der Geschichte kein Mensch gehabt. Der Staat nicht, das Forstamt nicht und die Bauern nicht. Doch, einer hat einen Profit gehabt, nämlich mein alter Freund, der Kohlhuber Xaverl. Der Forstmeister Striegl war nämlich damals Assessor in Kranzberg und hat eigens nach England fahren müssen, damit er hinter die Finessen mit der Weidenkultur kommt. Natürlich, wenn ein königlich bayerischer Assessor nach England fährt, läßt er sich zuvor einen echt englischen Anzug machen beim Schneider Meyer in Freising, damit er auch ausschaut wie ein echter Engländer. Der Assessor Striegl hat so echt ausgeschaut wie ein Engländer, daß sie ihn beim Furtner elend derbleckt haben, wie er zum erstenmal als echter Engländer zum Tarock gekommen ist. Da hat er aus lauter Zorn den echt englischen Anzug dem Kohlhuber Xaverl geschenkt. »Das war ein guter Anzug, den hab i lang tragen«, sagt der Xaverl heut noch und lacht.

Solche Oberberghausen liegen hunderte und aberhunderte im schönen Land Bayern und anderswo: Wald, wo vorher ein Dorf war. Rehe und Hasen, wo vorher Kühe waren und Rösser. Kirchhofstille, wo vorher Kinder in der Sonne spielten, aus denen Bauern und Bäuerinnen geworden wären, die wieder Kinder gehabt hätten.

Das ist die Geschichte des Idylls Oberberghausen.


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