Josef Hofmiller
Versuche
Josef Hofmiller

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Im Chiemgau

(1927)

Der Chiemgau ist ungemein malerisch, und wenn sich immer mehr Maler in ihm dauernd ansiedeln, so ist das nur natürlich. Sein Zauber beginnt schon in Rosenheim mit der einzig schönen Lücke des Inntals, das die Reihe der Berge nach beiden Seiten mit südlicher Anmut gliedert wie gescheitelte Wellen eines Frauenhaares. Die Bergformen scheinen sanftbewegt ineinander überzufließen, ihre Gipfel haben nichts Starres, sie sind so abwechslungsreich, daß man ihrer nicht müde wird. In schmälerem Maßstab, aber nicht minder formschön, wiederholt sich diese leidenschaftliche Zäsur am Chiemsee durch den Blick ins Marquartsteiner Tal. Die Farben erhalten besonders gegen Abend etwas magisch Durchscheinendes. Die Berge scheinen körperlos aus Leuchten und Farbe zu bestehen mit unendlich zarten Abstufungen zwischen dem flammendsten Rot und dem kühlsten Blau. Die Luft bleibt selbst an bedeckten Tagen, selbst bei Regen, eigenartig weich und verändert sich fortwährend. Bei sogenanntem schlechtem Wetter von gedeckter Veranda aus dem ununterbrochenen Spiel von Licht, Luft und Wasser zuzusehen, gewährt stundenlangen Genuß. Man begreift, daß sich Maler gerade hier niederlassen, daß sie aus der Landschaft überhaupt nicht mehr fort mögen. Und wer die Ausstellung der »Welle« am Priener Landungsplatz in Stock seit Jahren verfolgt hat,begreiftauch, daß sie nirgends lieber ausstellen als in dem kleinen gelben Kunsttempel, den sie sich selber erbaut haben,zehn Schritt vom See, und daß die Gilde der Aussteller von Jahr zu Jahr mehr andere Maler als Gäste an sich zieht. Es wäre ein Wunder, wenn das alles anders wäre. Aber Prien hat seit kurzem einen neuen künstlerischen Anziehungspunkt, der nicht weit abseits liegt, fast auf dem Wege zur »Welle«, die evangelische Christuskirche German Bestelmeyers. Sie schmiegt sich mit Friedhof und Pfarrhaus unaufdringlich fein in die letzte Falte des Herrenberges und könnte nicht glücklicher im Raum der Landschaft stehen: von links nach rechts zuerst das gestreckte, niedrige Pfarrhaus, dann der Würfel der Sakristei, hierauf ansteigend das helle Achteck der Kirche mit dem dunklen Lärchendach, zuletzt übereck gestellt der Turm, bis auf je zwei halbrunde Schallöcher übereinander ganz oben eine völlig ungegliederte Mauer mit einfachem Helmabschluß, aus dessen vier Dreiecken eine schindelgedeckte Zwiebel reizend herauswächst. Im Turm kommt die architektonische Bewegung der Gesamtanlage sinnvoll zur Ruhe, weil nach ihm wieder die Natur das Wort ergreift in Gestalt eines Ausläufers schöner Laubbäume, deren dunkles Grün zusammen mit den helleren der Wiesenhange des Herrenbergs den farbigen Hintergrund bilden, in den das Schwarz-Weiß von Architektur hineingestellt ist, als hätte er von jeher auf nichts anderes gewartet als auf diese Gebäudegruppe mit der weißen Mauer, die den heiligen Bezirk kennzeichnet und umschließt. Auf der Südwestecke dieser Mauer steht als vermittelnde und gliedernde Vertikale eine schöne Gruppe aus hellem Stein, die Jesu-Taufe durch Johannes, die, von allen Seiten gesehen, durch ihre Geschlossenheit erfreut. Der Zugang zur Kirche erfolgt durch eine originelle Verbindung von Treppe mit gedeckter Vorhalle, die wiederum die gegebenen Unebenheiten der Bodenverhältnisse ungezwungen in künstlerische Werte umsetzt.

Das Innere ist vollkommen einfach. Der achteckige Raum erhält durch mäßig große Fenster genügend Licht. Türen, Gestühl und Orgelempore aus dem seltenen naturfarbenen Lärchenholz, wie die durch Längs- und Querbalken in neun Felder gegliederte kassettierte Decke. Der Boden kleine quadratische Ziegelfliesen, deren dunkles Braunrot gut zu dem Grau des Mauerwerks und dem gedämpften Weißgelb des Holzes stimmt. Alles, was leuchtet und durch Farbe wirkt, konzentriert sich auf die nebeneinanderstehende Dreiheit: Taufstein, etwas höher Altar – unmittelbar daneben – und Kanzel. Der goldene Glanz des Taufsteindeckels leitet nach oben zu dem Goldgrunde der vier Altarflügelbilder aus dem Heilandsleben, zwischen denen wieder das strenge Blau des Schreinhintergrunds die drei weißen geschnitzten Gestalten Jesus am Kreuze zwischen Maria und Johannes umso eindrucksvoller hervortreten läßt. Die Schöpfer des figürlichen Teils des Altars, Professor Friedrich Lommel und Paul Roloff, stehen mit diesem Werke bei aller Modernität doch fest in der kirchlichen Tradition. Die Schreinform mit Seitenflügeln erinnert an andere Altäre des Inn-Salzach-Gaues wie Sondermoning, Sankt Koloman bei Taching und vor allem Rabenden, bei Lommels edler Kreuzgruppe denkt man an die des Doms zu Halberstadt, bei Roloffs vier Flügelbildern (Flucht nach Ägypten, Heiland am Brunnen, Einzug in Jerusalem, Jesus und Magdalena) möchten allerlei Erinnerungsbilder aufsteigen von ottonischer Buchmalerei an bis zu Duccios Altar in Siena, aber sie sind genau so originell und modern wie Lommels Gruppe, keine Spur von Anlehnung, nur in der Phantasie schwingen Obertöne mit: bei aller künstlerischen Freiheit die Tradition der Jahrhunderte. In der anstoßenden Sakristei mit der einfacheren, aber ebenfalls sehr feinen Holzdecke steht auf dem Tisch ein schöner Gnadenstuhl in Form eines Hausaltarschrankes. Bis auf den geringsten Türgriff durchwegs eine anheimelnde Redlichkeit des Handwerklichen.

Ein paar Schritt nur vom Seeufer steht der helle Bau der »Welle«, deren Mitglieder das vielumstrittene Problem der Ausstellung von Kunstwerken ebenso einfach wie glücklich gelöst haben. Sie gehören jeder irgendeiner der großen Münchner Künstlervereinigungen an. Aber in München geben sie sozusagen nur ihre Besuchskarte ab; wer sie kennenlernen will, muß schon nach Prien fahren und ihre Werke an Ort und Stelle ansehen. »An Ort und Stelle« will besagen: in der Landschaft, in der sie entstanden sind, in der ihre Urheber jahraus, jahrein leben; die sie kennen in jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter. Die Häuser, in denen sie wohnen, die Werkstätten, in denen sie schaffen, stehen in einem Umkreis so nahe beisammen, daß man sie an einem Tage besuchen könnte, und doch wieder eins vom andern so weit entfernt, daß man dazu ein guter Geher sein müßte. Die »Welle« ist keine Künstlerkolonie, wie Dachau oder Worpswede, sondern eine durch künstlerisches Wollen und gegenseitige Freundschaft zusammengehaltene Gilde. Ihre Mitglieder lachen über alles, was an Richtung, Programm, Manifest erinnern könnte. Jeder schafft, weil und wie es ihn freut, und dann verlosen sie die Wände, und jeder hängt seine Sachen, wie es ihm am besten dünkt. Die Gemälde laufen den Leuten nicht nach in die Großstadt, die Leute sollen zu ihnen kommen und sich vorher durch einen Gang in der freien Natur die Augen ausputzen. Das machen diese Künstler nun schon im sechsten Jahr. Es hat verregnete Sommer gegeben, in denen sie drauf gezahlt haben, – macht nichts: im nächsten stellten sie wieder aus. Der letzte Hagelschauer hat ihnen das Dach bös demoliert, – macht nichts: sie haben es ausgebessert und stellen trotzdem aus. Viele Besucher des Sees wissen gar nichts von der »Welle«, rennen nur den Allerweltstrab, aus dem Zug ins Zügle und vom Zügle aufs Schiff und umgekehrt – aber es gibt doch auch andere Besucher des Chiemsees, für die eine Stunde in der »Welle« den künstlerischen Abschluß ihres Ausflugs bedeutet, ohne den ihnen etwas fehlen würde. In diesen vier Räumen ist ein Dutzend Künstler vertreten, von denen jeder sehr ausgeprägt seine eigene Art hat, und deren Bilder dennoch sonderbar gut zusammenpassen wie eine Tafelrunde, wo auch keiner das große Wort führt, keiner den anderen überschreit oder ihm ins Wort fällt und jeder seinen Teil zum harmonischen Verlauf beiträgt. Jeder Raum hat seine Atmosphäre, und die vier Räume insgesamt haben dieselbe: Atmosphäre ohne Eintönigkeit oder, wie es auf dem grünen Seidenbanner des »Fähnleins der sieben Aufrechten« zu lesen ist: »Freundschaft in der Freiheit.« Kein fremder Ton stört; die Bilder vertragen sich so gut wie ihre Urheber. Hier ist alles Störende ausgeschaltet, was bei großen Ausstellungen nicht zu vermeiden ist: Masse, Buntheit, Gegensätze. Der bloße Gang von Prien bis Stock wirkt als Vorbereitung, und wenn man die Ausstellung genossen hat, noch beim Westernacher zu sitzen mit dem Blick über das herrliche Wasser ins Marquartsteiner Tal, – es ist doch etwas anderes, als wenn man gleich wieder nach den Armbewegungen eines Verkehrsschutzmannes über die Straße muß. So etwas sechs Jahre lang zu machen, durch keinen Mißerfolg sich entmutigen zu lassen, sich nicht als eine G.&nbsp;m.&nbsp;b.&nbsp;H. gegen »Konkurrenten« abzuschließen, im Gegenteil, Kunstgenossen von ähnlichem Streben immer wieder herzlich aufzunehmen und ihnen den Raum, den sie für ihre Bilder brauchen, gerne zur Verfügung zu stellen: das ist an sich schon eine kameradschaftliche Leistung, wie man sie selten findet. Nannte man das nicht früher Idealismus?


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