Josef Hofmiller
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Josef Hofmiller

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Kloster Au und Gars

(1921)

Das südliche Bayern ist reich an wenig gekannten Aussichtswarten, die in ihrer Art neben den berühmteren des Gebirges bestehen, wofern sie sie nicht an jener feineren landschaftlichen Schönheit, die man vorzugsweise »malerisch« nennt, übertreffen. Aber der Mühlberg bei Waging ist so wenig überlaufen wie der Kolomanshügel ob Tengling, beide mit schönstem Blick auf den friedsamen Waginger See; und nicht viel besuchter sind die Aussichten des Alztales: die Höhe über Altenmarkt, die Kirche von Baumburg, die Siegertshöhe über dem reizenden Trostberg und Schloß Wald. Am unbekanntesten verhältnismäßig ist das landschaftlich herrliche Inntal zwischen Rosenheim und Passau. Seine schönste Sehwarte, der Stampfl über Kloster Au, wird am seltensten aufgesucht und ist doch von all den genannten Höhen die herrschendste.

Denn wenn die Isarweite bei Wolfratshausen der ideale Willroider ist, so ist die riesige und einsame Innlandschaft vom Stampfl aus mit dem Namen eines Malers überhaupt nicht mehr zu bezeichnen, nicht einmal mit dem Hans Thoma. Sie steht, solange nicht einer den Beweis des Gegenteils erbringt, mit ihrer auf Details verzichtenden Größe jenseits des Malbaren, als Ganzes nicht mehr zu fassen und noch als Ausschnitt jedes Bild sprengend. So weit das Auge reicht, schwarzgrüner Wald und lichtgrüne Auen und dazwischen immer wieder eine blinkende Krümme der zahllosen, fast seeartigen Windungen des Inns mit gelben Steinwänden oder flaschengrünen Randspiegelungen, darüber ein Himmel, der in seiner unspannbaren Tiefe und Wolkenpracht dem Maler ein Entzücken und eine Verzweiflung zugleich ist, höher als der höchste Toni Stadler und breiter, unsagbar breiter, als die spätesten Haider.

Zu Füßen des Stampfl liegt das Kloster Au mit seiner Kirche; gegen Norden stießen Wald, Strom und Auen in den dunklen MühIdorfer Hardt, südlich schieben sich Hügel vor, die dem unendlichen Bild Halt verleihen und hinter denen das zweite der eingezogenen Augustiner-Chorherrenstifte liegt, von denen hier die Rede ist, Gars, nach Nord und West zu durch Steilhänge vor Wind und Kälte, nach Osten durch den Strom vor unerwünschter Annäherung geschützt wie Au, durch ähnliche Lage zu ähnlichen Geschicken vorherbestimmt, beide aus Anfängen sagenhafter Einsiedelei zu mönchischen Gütern und Ansehen gelangend, durch die Jahrhunderte wiederholt zerstört, zu neuem Glanze erhoben, vom Staat enteignet, jahrzehntelang öde, um dieselbe Zeit, wenn auch nicht ihrer ursprünglichen Bestimmung, so doch ähnlichen Aufgaben zurückgegeben und heute im Nachsommer ihrer tausendjährigen Schicksale ausruhend.

Beide sind die Gründungen jenes verschollenen Tassilo, dessen Gestalt, gleich derjenigen der Welfen, durch eine einseitig auf die Wittelsbacher eingestellte Geschichtsdarstellung uns nie recht sichtbar wurde, und Schöpfungen des Benediktinerordens, dessen Bedeutung für alles, was wir im wörtlichen und übertragenen Sinne Kultur nennen, nicht zu ermessen ist. Nicht weniger als sechzig größere und kleinere Mönchssiedlungen unterstellt Tassilo dem Stifte St. Peter in Salzburg, wie denn überhaupt von Anfang an in diesen Grenzlanden zwischen Mönchsberg und der Feste Oberhaus bayerische und ostmärkische Geschicke, aller zeitweiligen Trennung zum Trutz, immer wieder in eins stießen, weil es in der Tat derselbe Schlag und Stamm ist, der hüben und drüben wohnt, das gleiche Haus baut, die gleiche Sprache redet, die nämliche Tracht trägt, dieselben Lieder singt und dieselben Schicksale duldet.

Ungarneinfälle heißt der erste Markstein. Au wird von den Ungarn vor dem Jahre 1000 zerstört, und Gars verliert sich um dieselbe Zeit im Dunkel der Zeiten. Ende des 11. Jahrhunderts ersteht Gars, Mitte des dreizehnten Au in größeren Umfängen, beide geschützt von dem mächtigen Geschlecht der Grafen von Mögling-Frontenhausen, die, in verschiedene Zweige geteilt, über alles Land zwischen Alz und Inn gebieten. Der geistliche Gründer beider jedoch ist Conrad I., Graf von Abensberg, Erzbischof von Salzburg, auf dessen Wink damals auch Naumburg und Chiemsee, Berchtesgaden, Sankt Zeno und Höglwörth erstehen oder neu erstehen. Aus dieser Zeit stammen in Au und Gars die romanischen Untergeschosse der Türme, aus den folgenden Jahrhunderten die herrlichen Grabplatten der Pröpste aus rotem Salzburger Marmor, heute noch künstlerisch das edelste Erbe beider Kirchen. Sie sind in der ganzen Gegend zu finden, diese großartigen Propst-Epitaphien, bis hinüber in den Rupertiwinkel; die schönsten aber, neben denen des alten Zisterzienserstiftes Raithenhaslach bei Burghausen, sind die von Au und Gars, gemeißelte Bildnisse von einer Kraft und Feinheit der Köpfe, einer großflächigen Schönheit der Gewandung, einer handwerklichen Beherrschung des Steins, angesichts deren man über die Phrase: den Deutschen fehle der plastische Sinn, nur lachen kann.

Der nächste Markstein heißt Schwedeneinfall. Im allerletzten Jahre des 30jährigen Krieges werden Kirche und Markt Gars durch die Schweden noch völlig verheert und verbrannt, während sich der Feind in Au mit dem begnügt, was man scherzweise »moderiert verwüsten« nannte, weil ihm der Boden zu heiß geworden war und der Rückzug gegen Mühldorf zu eilig. Aber, als hätte es nicht sein dürfen, daß Au um ein Erlebnis günstiger gestellt wäre als Gars, brannte 1668 die Kirche von Au so aus, daß sie neu aufgebaut werden mußte. In Gars stellte der eifrige Propst Athanasius Peutelhauser, in Au der nicht minder tatkräftige Franz Millauer ein neues Gotteshaus hin, beide im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts, beide beraten durch den Graubündner Zuccali, der in Gars, wie es scheint, den ganzen Bau leitend beeinflußte, in Au hingegen den Trostberger und Waginger Maurern nur allgemeine Unterstützung lieh und sich auf Angliederung des runden Hochaltarraums mit seiner guten Seiten- und magischen Höhenlichtzuführung beschränkte.

Der dritte Unglücksmarkstein aber heißt Säkularisation: 1803 werden, wie alle andern, auch die Klöster Gars und Au aufgehoben. Die zum Abbruch verurteilte Kirche von Au konnte nur gerettet werden dadurch, daß der letzte Prälat Florian Eichschmid kurz entschlossen die viel kleinere und künstlerisch belanglose Pfarrkirche St. Nikolaus preisgab, kaufte und abbrach, womit dem Buchstaben des kurfürstlichen Dekrets genügt war. Mehr als 50 Jahre stehen Au und Gars leer, bis, abermals fast gleichzeitig, Au durch eine Schenkung des Brauereibesitzers Gaßner, Gars durch Stiftungen und Sammlungen Privater, das erste den Franziskanerinnen, das zweite den Redemptoristen übergeben wird, welche Orden heute noch dort hausen und wirken (die Redemptoristen waren 1873, vom Jesuitengesetze mitbetroffen, auf zwei Jahrzehnte ausgewiesen worden).

Was nun den Raumeindruck von Au bestimmt und zu einem ganz anderen macht als den von Gars, sind die Reste des ausgebrannten gotischen Baues mit seinen Kapellenanlagen, die auch dem Neubau wieder zugrundegelegt wurden. Die Langhausmauern gehören noch dem mittelalterlichen Bau an; dadurch erscheint der Raum im Verhältnis zur Länge etwas gedrückt. Rechts und links werden durch eingezogene Streben je sieben Kapellen gebildet, über jeder ein Oratorium mit Balustrade (das Grün dieser Balustraden und der Gitter auf der Südseite läßt die Oratorien zu niedrig erscheinen; sie sollten so weiß sein wie die gemalten im Presbyteriumsrand). Die Beleuchtung ist wirkungsvoll; wenn man unter der Sängertribüne steht, sieht man nur die beiden Fenster rechts und links vom Hochaltar. Die sechs Stichkappen des Gewölbes streben gegeneinander, dazwischen die größeren Fresken, Rosafresken in den Gewölbezwickeln, gelbbraun an den Decken der Kapellen, bläulich-graugrün an denen der Oratorien, zusammen mit dem weißen und marmornen Schmuck des Stukko malerisch fein im Ton. An der Westwand eine ins Bäuerliche übersetzte gemalte Verkündigung, mit Blick in die Küche der Jungfrau: Pfannen, Tiegel, Reibeisen, Teller, Häfen auf Gestellen, kleine Eimer, nicht einmal der Hühnerstall darunter fehlt. Die beiden mittleren Seitenkapellen sind derbes, aber malerisch höchst wirkungsvolles Rokoko, alles strotzt von Gold und Purpur; dadurch wird in die sonst zu einförmige Kapellenreihe eine glänzende Gliederung gebracht. Ausgezeichnet ist das Presbyterium angefügt, fast kreisrund mit Kuppel und lichtzuführender Laterne, im Kuppelbild ein helles Gewimmel jubilierender und musizierender Engel und Heiliger. Zu dem vielen Weiß mit Lichtgrün und Rosa des Langhauses steht der Hochaltar mit dem schweren goldenen Rahmen und Aufsatz malerisch ausgezeichnet; besonders wirkt der dunklere leere Raum, der zwischen den Kirchenstühlen und dem Altargitter gelassen ist und den hellen Rundtempel des Hochaltaranbaues magisch zurücktreten läßt und isoliert: bei günstiger Morgenbeleuchtung ein Gralstempelblick.

In der ganzen Kirche steht ein schweres, dunkles Barockgestühl verteilt: im Langhaus, im Presbyterium, in den Kapellen, sogar noch hinter der Orgel, Leistungen einer handwerklichen Tüchtigkeit von hohem Range. Man erkennt eine ähnliche Hand in der vertäfelten und mit Stuck und Fresken gezierten Sakristei, die neben denen von Niederalteich, Ettal und Ottobeuren genannt werden kann. Sie ist rechteckig, empfängt ihr Licht von Osten durch die Fenster, an den übrigen drei Seiten in der Mitte je eine reich geschnitzte Tür. Die gesamte Wandverkleidung wird durch die Schränke für kirchliche Gewänder und Geräte eingenommen. Die Schnitzerei kraftvoll bis zur Derbheit: Engelsköpfe, Früchtenkränze, Masken, Muscheln, Blumenkörbe, Schilde, Füllhörner, Akanthusblätter, Giebel, alles späteste deutsche Renaissance, ins tüchtigst Handwerkliche übersetzt von einem Meister, der offenbar viel konnte. Die Gesamtstimmung, Stuckierung der Decken, weiß auf blauem Grunde, in den Zwickeln Trauben auf weißem, Vasen auf grünlichem, zusammen mit dem vielfach abgetönten Braun der Holzschränke, ist malerisch von ungemeinem Reiz.

Der Bau steht famos in der grünen Landschaft. Die sieben Joche treten klar hervor, jedes erhält sein Licht durch zwei übereinanderstehende Fenster mit gelben Rahmen, als senkrechte Gliederung zwischen den Jochen rote Pfeilerbänder mit toskanischen Kopfstücken.

Die Kirche von Gars wirkt mehr wie ein einziger Raum, weil die Kapellen im Verhältnis zur Höhe und Breite lang nicht so tief sind; die drüberstehenden Oratorien sind wesentlich höher angesetzt, überhaupt hat die Kirche ausgezeichnete Verhältnisse. Sie ist leicht und frei, vor allem ist sie breit und weit genug und hoch genug. Die von Au hat noch die mittelalterliche Schmalbrüstigkeit. Es ist der Gegensatz etwa wie zwischen der Peters- und Michaelskirche in München. Auch der Grund: Beibehaltung des gotischen Mauerwerks, ist der nämliche. Fast alles rein Architektonische ist in Gars großzügiger, hingegen ist die Auer Kirche farbig unvergleichlich reizvoller. Die Ausstattung in Gars ist nicht mehr zur beabsichtigten Stuckierung gediehen, sondern nur, und zwar ziemlich schematisch und stumpf, gemalt. Die grauen Gurten, Rahmen und Zwickelrippen wirken nüchtern. So fein die leichte Einziehung des Presbyteriums wirkt, sein gerader Abschluß hat etwas Hauskapellenartiges, wie denn überhaupt kaum ein einziger frühbarocker Chorabschluß entweder architektonisch oder der Lichtwirkung nach ganz befriedigt; die Brüder Assam wußten genau, warum sie in ihren Kirchen so oft gelbe Glasscheiben anwendeten. Ein wirklich effektvoller Chorabschluß läßt sich nur durch Seitenkulissenlicht herstellen, weil die Fenster nicht wie in der Gotik das Licht filtrieren, sondern es in Massen hereindirigieren. Die Deckengemälde sind eleganter als in Au. Der Hochaltar, ein Prachtstück, steht vorzüglich im Raum, er füllt fast die ganze Wand, auch die Größenverhältnisse von Figuren, Mittelbild und darüber stehendem Bild sind ausgezeichnet; eine der hervorragendsten Leistungen des südbayerischen Altarbaues.

Auch in Gars steht ein schweres altes Chorgestühl, von einem sehr tüchtigen Meister, angesichts dessen man ein Loblied auf die kunstakademienlose alte Zeit singen möchte, die uns so glänzende Schreiner und Steinmetzen schenkte. Die neuere Zeit hat mehr theoretisches Wissen und weniger künstlerische Bildung. Was man in vielen unserer besten Kirchen an Geschmacklosigkeit antrifft, ist unglaublich. In Au stört nicht viel; lediglich der Kreuzweg wäre besser in den Kapellen, wo er offenbar schon einmal hing (die Nägel sind noch da), und die kleinen Täfelchen auf dem Marmorstuck gehören an eine rückwärtige Wand. In Gars hingegen stört das Novecento empfindlich: Heiligenbildchengestalten mit rührselig himmelndem Ausdruck; unmittelbar neben der wundervollen Grabplatte des Propsts Hinderkircher eine Lourdes-Madonna mit geschmacklosen modernen Votivtäfelchen usw. In Au läßt sich mit ein paar Umhängungen in einer Stunde ein stilistisch einheitliches Innere von prickelnd lockerer farbiger Wirkung herstellen. In Gars müßte manches entfernt, vieles erst geschaffen werden.

In Au und Gars ist so viel zu sehen, daß ich absichtlich Einzelheiten kaum genannt habe. Wer solche sucht, wird reichlich auf seine Kosten kommen. Hier kam es nur auf den räumlichen und malerischen Gesamteindruck an. Wer die Wanderung nach Süden fortsetzt, von Gars nach Wasserburg, von da über Attel nach Rott, lernt eine der schönsten und zugleich unbekanntesten Landschaften Altbayerns kennen. Schon den Krümmungen des Inns nachzugehen, ist zwar zeitraubend, aber köstlich. Gott sei Dank, ist dies Südbayern schön!


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