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Geschlechtshunger

Man erinnere sich jener unglücklichen Madame Weiler in Paris. Ihr Mann hielt sie zur Unzucht an, obgleich er begütert war. Er zwang sie, Bordelle aufzusuchen, und ergötzte sich an der Hingabe seiner eigenen Frau an fremde Männer. Sie lebte in einem steten Cocain-Rausch. Sie war so sehr das willenlose Werkzeug dieses Mannes, daß sie, als sie einmal plötzlich erwachte, nichts begriff als die Tatsache ihrer nackten, entsetzlichen, fast unbegreiflichen Hörigkeit. Da schoß sie den Mann nieder. Die Pariser Presse hat während des Prozesses gegen die Gattenmörderin Einzelheiten veröffentlicht, denen gegenüber die letzte Hafendirne erröten müßte. Jeanne Weilers kleine »partouges« waren Ausschweifungen in Kloaken. Und heute, im Gefängnis, versteht sie sich selbst nicht. Aber man versteht ja beinahe ihre Zeit nicht und versteht die Umwelt kaum.

Der Richter, der Jeanne verurteilte, verhörte die zweite Frau des Toten (Jeanne war seine vierte).

»Hat Ihnen Robert Weiler auch dergleichen Vorschläge gemacht?«

»Was für Vorschläge?«

»In ein Bordell zu gehen und sich dort vor ihm zu amüsieren, dabei ein kleines Taschengeld zu verdienen?«

»Muß ich darauf antworten?«

»Ja, Sie müssen ...«

»Nun denn, er hat mir die gleichen Vorschläge gemacht.«

»Mit ihm ein Bordell aufzusuchen?«

»Ja.«

»Sind Sie gegangen?«

Die Zeugin, jetzt die Gattin eines Großindustriellen, schweigt.

»Ob Sie gegangen sind ...«

»...«

»Ihr Schweigen ist ein Bekenntnis.«

Hunderte von Journalisten, Rechtsanwälte, Publikum hörten zu.

Also dieser Robert Weiler hatte auch früher Frauen in diese entsetzliche Lage gebracht. Es gab – und gibt – Ehefrauen, die freiwillig, soweit der Mann es wünscht, Bordelle aufsuchen. Gibt es einen höheren Grad von Hörigkeit? Gibt es einen schärferen Beweis für den Masochismus des Weibes?

Dieser Masochismus treibt das Weib in die Arme des Verbrechers, des Lüstlings, des Wahnsinnigen und – des Farbigen.

Der Apache ist der Herr seines Geschöpfes. Der Zuhälter, der Weiberhändler – sie sind die anerkannten Gebieter ihrer Sklavinnen.

Viele Bände ließen sich füllen mit der Schilderung der sexuellen Hörigkeit, unter der das Weib weitaus schwerer leidet als der Mann. Aber nur in seltenen Fällen, unter ganz bestimmten Zuständen (Revolutionen, Krieg usw.) läßt sich die Hingabe der Frau als erzwungene nachweisen. Im gewöhnlichen Leben sind die Grenzen verwischt. Freiwild ist das Weib, Opfer seines Geschlechts, der Mißstände seiner Zeit und seiner sozialen (und seiner unsozialen) Gesetzgebung. Dieses Gesetz kann nicht zugeben, daß Hingabe ohne Gewaltanwendung des Mannes, nur durch Not erzwungen, Notzucht genannt wird. Schlummernder Sexualtrieb überbrückt die »Schande«. »Dirne« sagt leichthin der Spießer nach genossener Nutznießung.

Hier die Geschichte einer Offizierstochter. Fangen wir beim Ende an: Amtsgericht Charlottenburg. Angeklagt wegen Betrug. Ein Frauenantlitz aus dem jetzt noch Güte und innere Reinheit grüßt. In den Augen lauert Hunger nach Rauschgift.

Mit fünfzehn Jahren verführt. Man hatte ja schon vor dem Krieg das Recht auf Ausleben gepredigt. Das Schlagwort von der Sexualnot der Jugend war bis zu dieser Haushaltungsschülerin nach Tilsit gedrungen. – Bei einem Manne bleibt es nicht. Wir sind ja so modern. – Der Hexentanz begann. Krieg – Krankenpflege – Etappe – Wanderung von Bett zu Bett – Entsetzen – Scham – Rauschgifte. –

Viermal Selbstmordversuch! Welch ein Ekel muß dieses Weib vor der sexuellen Gleichberechtigung erfaßt haben!

siehe Bildunterschrift

»Jugend«
Die Jagd nach dem Mann
Fidus

Ein Lehrer in einer Kleinstadt heiratet die »Gefallene«, läßt sie merken, daß er sie erst »sittlich« erziehen muß. Und steckt die Frau mit einer galanten Krankheit an. Ein Kind. Es stirbt, kaum geboren. Scheidung!

Berlin! »Das Paradies der Dame!« Die Offizierstochter ist jetzt Bardame »Klassefrau«, wie es so schön heißt. Sie sucht nach einem Halt. Aber den gibt es für Bardamen nicht. Sie flüchtet zurück ins bürgerliche Leben, als Hausdame bei einem Regierungsrat. »Aber ich fand keine Rettung. Auch dieser wollte eben nur das, was sie alle wollen –«

Jetzt ist sie so weit: Stiehlt Silberzeug, Wäsche und flüchtet. Unstet wird ihr Leben. Eine Weile ist sie »Reisebegleiterin« bei einem älteren Herrn – dann kommt sie nach Reichenhall. Hier begegnet ihr der eine – und läßt sie wieder stehen. »Dich allein habe ich geliebt – nur dich allein!« schreibt sie ihm nach München. »Wer war das?« fragt der Vorsitzende. In dem bleichen von Kokain und Morphium zerstörten Gesicht flackert Helle auf. »Das sage ich nicht. Das sage ich niemals.«

Aber sie hat den Kampf nicht aufgegeben. Erst sperrt man sie mal, weil sie einem Liebhaber lästig wird, ins Irrenhaus. Das ist für solche Fälle der geeignete Ausweg. Dann gründet sie ein kleines Geschäft. »Ich wollte mich ehrlich durchbringen.« Es kam aber wieder zu neuen Betrügereien. Der ärztliche Sachverständige sagt:

»Die Angeklagte ist wie ein unreifes Kind, das weder zu sich noch zu anderen »nein« sagen kann. Ein vernünftiger Mann, der sie zu nehmen weiß, kann sie an Ordnung gewöhnen, eine Nachreife bei ihr möglich machen.«

Ob sie den Mann gefunden hat? Sie ist wieder verheiratet, die Frau, die nicht »nein« sagen kann.

Arme Hörige!

Hörige der Liebe, des Staates und der Rauschgifte!


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