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Das Leben einer Dirne

1929 wurde Léonie Cohen, ein dreiundzwanzigjähriges Straßenmädchen, in Nizza wegen Meuchelmordes zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.

Die zweitägige Gerichtsverhandlung war sehr stürmisch verlaufen. Ein Richter trat vor die Schranken und erklärte, ein wichtiges Aktenstück fehle. Der Staatsanwalt drohte ihm mit Verwaltungsmaßnahmen. Der Richter erwiderte, er stelle sein Gewissen höher, als seine Beförderung. In dem Sturm, der sich im Gerichtssaal erhob und durch die Reihen der Geschworenen, der Zeugen, der Justizbeamten ging und auch den Staatsanwalt erfaßte, schien Léonie Cohen, die sich verzweifelt, fassungslos an die Brüstung der Anklagebank klammerte, verloren und vergessen zu sein.

Als sie hörte, daß sie zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden war, drehte sie sich zu den beiden Beamten um, die sie in ihrer Mitte hielten, und streckte ihnen wie hilfeflehend die Hände entgegen. Dann stieß sie einen Schrei aus und sank zu Boden.

Die Geschworenen wandten die Köpfe ab. In ihrer Unsicherheit und Verwirrung hatten sie auf Mord mit der Entschuldigung der Herausforderung erkannt. Das hätte vielleicht sechs Monate Gefängnis bedeutet. Der Gerichtshof entschloß sich zu fünf Jahren, weil er an Meuchelmord glaubte.

siehe Bildunterschrift

Die Lauernde
E. v. Uechtritz

Léonie Cohen selbst hatte den Hergang der Tat so geschildert:

Am 13. Dezember war sie gegen 10 Uhr morgens in Nizza auf der Promenade des Anglais dem Reisenden in Seidenwaren, Henri Parizot, begegnet. Léonie mit ihren samtdunklen Augen und ihrem schönen Teint gefiel ihm. Er nahm sie mit sich nach Cannes. Im Fonds des Wagens lagen die Kartons mit den eleganten Seidenkleidern, die er in Cannes vorzeigen wollte.

Léonie übte ihr Handwerk aus und ließ sich 200 Francs bezahlen.

Um drei Uhr nachmittags kamen Léonie Cohen und Parizot in Cannes an. Sie trennten sich, Parizot eilte zu seinen Kunden, um seine neuesten Kleidermodelle vorzuzeigen, während Léonie zum Bahnhof ging, um nach Nizza zurückzufahren. Da merkte sie, daß Parizot die zweihundert Francs wieder in seine Brieftasche gesteckt hatte.

Um sieben Uhr abends erblickte sie Parizot auf dem Rathausplatz. Sie sprach ihn an und fuhr mit ihm im Auto nach Nizza zurück. Die Nacht war finster. Zur Rechten schlug das Meer gegen die Felsen. Parizot war schweigsam, er schien nervös. Zwei Kilometer vor Cagnes fuhr er plötzlich seinen Wagen auf einen Seitenweg und hielt im Schutze einer Hecke. Er löschte die Lichter des Autos. Es war eine einsame Stelle, die selbst ein Landstreicher gemieden hätte.

Der genossene Alkohol war ihm zu Kopfe gestiegen. Er verlangte, daß Léonie sich ihm von neuem hingab. Das Mädchen wehrte sich und verweigerte sich ihm. Sie verlangte, daß er ihr vor allem die zweihundert Francs wiedergab. Aber der Mann beharrte auf seinen Wünschen und wandte Gewalt an. Die Hand Léonies stieß zufällig an den Revolver in der Tasche des Mannes. Sie feuerte zweimal.

Eine Viertelstunde später wurde Parizot blutend, tödlich getroffen, auf der Straße gefunden. »Eine Frau hat geschossen,« erklärte er, »es stecken noch zwei Kugeln in dem Revolver!« Wenige Stunden später starb er im Krankenhaus. Ein anonymer Brief, der besagte, daß Léonie Cohen am Tage der Tat in Cannes gesehen worden war, lieferte das Mädchen dem Untersuchungsrichter aus.

siehe Bildunterschrift

Die Sünderin
Scherenschnitt

Man glaubte ihrem Bericht. Die Rekonstruierung der Tat brachte keine Widersprüche. Der Revolver wurde in der Nähe der Hecke gefunden. Es handelte sich also nur darum, festzustellen, ob Léonie Cohen in Notwehr gehandelt hatte.

Die Anklage lautete bei Eröffnung des Prozesses auf Meuchelmord. Man nahm an, daß Parizot das Opfer eines Raubüberfalles gewesen sei. Um diese These zu unterstützen, die Léonie Cohen mit dem Revolver in der Hand darstellte, wie sie den Automobilisten auf der Straße von Antibes auflauerte, wurden Zeugen der Zivilpartei und Madame Parizot geladen.

Frau Parizot erklärte, daß ihr Gatte niemals einen Revolver in der Hand gehabt hätte, und daß er nie mit Straßenmädchen verkehrt hätte.

Trotzdem mußte der Staatsanwalt die Anklage auf Meuchelmord fallen lassen und sich an den Bericht der Angeklagten halten.

Die Geschworenen sprachen die Dirne schuldig. Und nun zeigten sich seltsame Änderungen im Charakter Léonies, Veränderungen, die nicht plötzlich aufgetreten sein können, die offenbar latent schon seit vielen Jahren vorhanden waren.

Okkulte Einflüsse bewogen sie, ihren Verteidiger zu wechseln. Nach und nach stellten sich Halluzinationen ein. Zuerst böse Träume. Léonie wachte nachts in ihrer Zelle auf und hörte einen Zug pfeifen. Sie schrie: »Ich will auch verreisen!« und schluchzte herzzerbrechend. Am nächsten Morgen weigerte sie sich, aufzustehen und zu essen. An den Wänden ihrer Zelle las sie nicht vorhandene Schriften, es erschienen ihr Gesichter, die sie liebkoste. Und in einem visionären Zustand erlebte sie die Szenen der Tat noch einmal. Ihr armer Verstand, den der Irrenarzt während des Prozesses für sehr schwach erklärt hatte, dämmerte in quälenden Träumen. Sie sah den Himmel, das Meer, dann einen grünenden Wald in ihre Zelle treten ...

siehe Bildunterschrift siehe Bildunterschrift

Prostituierte aus Simla
Eine der besten Sängerinnen von Delhi

In den ersten Februartagen ließ Léonie den Staatsanwalt zu sich rufen. Sie hatte durch ihre Mutter erfahren, daß ihr früherer Geliebter sich verheirate.

»Ich habe gelogen,« schrie sie, während eine nervöse Krise ihren Kopf nach hinten warf und sie die Arme ringen ließ. »Gilbert, mein Geliebter, hat Parizot getötet, um ihn zu berauben. Er hat mir versprochen, auf mich zu warten. Nun er mich verraten hat, liefere ich ihn hiermit dem Gericht aus.«

Am Tage nach seiner Hochzeit wurde Gilbert vor Gericht geführt. Er hatte eine junge vermögende Spanierin geheiratet, das Ehepaar war im Begriff gewesen, die Hochzeitsreise nach den italienischen Seen anzutreten. Gilbert gehörte zu der Kategorie junger Männer, die sich bei einem Schneider der Avenue kleiden, die Dancings besuchen, in den Nachtlokalen Champagner trinken. Er sagte von den Mädchen, »sie seien billiger als eine Krawatte«.

Als Gilbert in das Sprechzimmer des Gefängnisses eintrat, warf sich Léonie auf ihn, umarmte ihn, versuchte ihn zu beißen und sein Gesicht mit ihren Fingernägeln zu zerkratzen.

»Gestehe,« schrie sie, »gestehe, daß du Parizot ermordet hast! Du hast mich zur Dirne gemacht! Du hast mich genommen, als ich noch eine arme unschuldige Midinette war ...«

»Du solltest dich um meine Wäsche kümmern,« lautete Gilberts Antwort.

» Ich liebte dich! Aber jeden Abend wiederholtest du: › Du verstehst dich auf nichts! Du bist nicht einmal fähig, einen Klienten zu finden, der dir fünf Banknoten einbringt!‹ Du hast mich geschlagen, weil ich nicht auf die Straße ging!«

»Du bist zu dumm dazu gewesen!«

»Du sagtest mir: ›Mach' einen Coup ausfindig, ich werde dir helfen!‹ Und weil du mir drohtest, mich zu verlassen, dachte ich an Parizot. Ich hatte ihn am Tage vorher getroffen. Wir hatten ein paar Stunden miteinander verbracht, er sagte mir, ich hätte schöne Augen. Er verabredete sich mit mir für den nächsten Vormittag auf dem Magenta-Platz. Er fuhr nach Cannes. Ich erklärte ihm, daß ich ihn nicht begleiten könne, aber daß er mich abends um 7 Uhr im Gasthaus Pont du Loup finden könne. Du und ich, wir sind zusammen fortgefahren, im Taxi du, Gilbert, und ich spät am Nachmittag. Wir haben auf dem Wege nach Cannes haltgemacht, in einem Café, um einen Apéritif zu trinken. Dann nahmen wir die Straßenbahn. Es war Nacht. Wir sind im Pont du Loup ausgestiegen. Ich habe auf der Straße auf Parizot gewartet. Ich habe ihn erkannt. Er hielt, und ich zog ihn auf den kleinen Weg, wo du auf ihn lauertest. Als er aus dem Auto stieg, hast du auf ihn geschossen. Da bin ich geflüchtet ...

Du bist gegen Mitternacht heimgekehrt. Du hast mir gesagt: ›Du mußt sagen, daß du geschossen hast. Man wird an ein Verbrechen aus Leidenschaft glauben, und du wirst freigesprochen werden.‹

siehe Bildunterschrift

Der Gehörnte
M. Fingesten

Seit ich im Gefängnis bin, hast du mir nur einmal geschrieben. Ich will nicht, daß du mit einer anderen Frau lebst. Du wirst mit mir ins Gefängnis kommen. Ich liebe dich unfaßbar.«

Gilbert wandte sich an den Staatsanwalt und Untersuchungsrichter und sagte: »Das arme Mädchen ist verrückt!«

Er leugnete in aller Ruhe seine Teilnahme an dem Verbrechen. Er wies sein Alibi für den Tag des Mordes nach. Bis um 7 Uhr hatte er in dem Geschäft des Hutmachers, bei dem er angestellt war, Hüte verkauft, er hatte in Nizza zu abend gegessen, dann Karten gespielt. Er schlief bereits, als Léonie Cohen heimkehrte.

*

Einen Tag nach dieser tragischen Zusammenkunft fuhren Gilbert und seine Frau nach Italien. Léonie Cohen lag im Gefängnis-Krankenhaus in schweren Delirien. Ihre rechte Seite war gelähmt.

Man hat diese Hörige also ins Krankenhaus gebracht. Nach dem Asyl Saint-Pons in der Nähe von Nizza. Sie ist eine ruhige Kranke, sie hilft den Krankenwärterinnen, macht Schneiderarbeiten und bittet, täglich zur Messe gehen zu dürfen.

Sie hat alles, was früher war, vergessen.

Der Arzt sagt: »Eine schwere Hysterikerin!«

Arme, bemitleidenswerte Léonie. Ein wenig Mitleid hätte genügt, sie zu retten – sie ist ja erst dreiundzwanzig Jahre alt! Man hat ihr dieses Mitleid versagt, weil sie eine jener Verkäuferinnen der Liebe war, denen die Männer die Schwäche nicht vergeben, die sie selbst ausnützen.

(Detektive, Paris.)


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