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Um neun Uhr früh gingen sie in Hoboken an Bord.
Nebeneinander lehnten sie an der Reling und blickten auf den Pier, der von Menschen wimmelte, lachenden und weinenden, einsamen, die harten Schrittes über die Laufbretter eilten, und den vielen, die mit dem großen Troß der Abschiednehmenden den Zugang sperrten. Wie ein Uhrwerk schnurrte die Kette der Stewards ab, die auf Schultern und Handkarren das Gepäck der Reisenden an Bord beförderten, während ein Ladekran noch emsig bei der Arbeit war, größere Güter im Schwunge vom Land in den Laderaum zu heben. Immer toller wurde der Wirrwarr, unentwirrbar schien er im letzten Augenblick. Da ertönte hell und schneidend der Befehlsruf: »Fremde von Bord!« Die Laufbretter bogen sich unter den eilenden Füßen, wurden im Ruck eingezogen, und das Schiff hatte seine Verbindung mit dem Land aufgegeben.
Unwillkürlich faßte Wegherr Gertruds Hand. Und sie hielt die seine fest wie er die ihre.
Das Schiff war los. Ein Beben lief durch seine Glieder. Der Renner witterte die freie Bahn.
Schmetternd setzte die Bordmusik ein. Ihre Klänge erfüllten das ganze Schiff, brausten zum Ufer hinüber, gaben vom deutschen Schiffsboden Kunde ins fremde Land hinein von Deutschlands unermüdlicher Bereitschaft in der Welt.
»Fest steht und treu die Wacht,
Die Wacht am Rhein!«
»Lebe wohl, Amerika,« sagte Ernst Wegherr, und seine Blicke nahmen noch einmal das Bild des jungen Riesen in sich aus, der, im letzten Zeichen der Jugend des Herakles, seine muskelfesten Arme gen Himmel reckte.
»Lebe wohl, Amerika,« sprach Gertrud Wegherr es ihm nach.
Auf Liberty Island ragte das Riesenstandbild der Freiheit fackelschwingend über dem Hafen, den Millionen ersehnt hatten als das Tor in das Paradies, und dicht neben Liberty Island schwamm wie ein grausames Widerspiel Ellis Island, und statt der Freiheitsgöttin trug es die langgestreckten Hallen armseliger und doch heimatbegehrender Einwanderer auf seinem Rücken, die hungernd und frostzitternd des Donnerwortes harrten: »Zurück! Euch wird nicht aufgetan! Die Freiheit ist nicht für Menschen, die nichts als einen Buckel mit sich tragen und ein lahmes Bein und in Sorgen ergrautes Haar. Die Freiheit ist nur für Menschen, die Dollars mitbringen ins Land. Was denkt ihr euch unter Freiheit ihr Schwärmer und Toren und vom Leben Geknechteten? Sie ist ein Standbild auf Liberty Island, das prachtvoll den Hafen schmückt und aus Fragen keine Antwort gibt. Wir tun desgleichen und rufen: Zurück!«
Die Freiheit ...
Das Hafenbild verschwamm. Vom Ozean kroch ein Nebel heran, und die Wellen sprangen wie leckende Jagdhunde um den Bug des Schiffes.
»Wir wollen unsere Kabine besichtigen,« sagte Wegherr, und sie gingen über Deck und die Treppen hinab, und der Steward wies ihnen die geräumige Doppelkabine, die Wegherr sich zeitig gesichert hatte.
Ein Duft von Rosen und Nelken strömte ihnen entgegen. Der ganze Tisch war geschmückt mit den duftenden Blumen, und sie standen überrascht wie unerwartet beschenkte Kinder. Eine Karte blickte hervor. Wegherr nahm sie und las sie laut: »Mit Freundesgrüßen zur Fahrt ins Glück. Georg Wuppermann. Frank Willart.« Und schnell griff er die schönste Rose heraus und steckte sie an seiner Gefährtin Brust.
»Es ist nicht nötig, o nein, es ist nicht nötig. Ich tu' es nur aus Dankbarkeit gegen die Spender.«
»Ach du – ich ertrag' das bald nicht mehr. So widerspruchslos nicht mehr.«
»Das brauchst du ja auch gar nicht. Ich warte.«
Und sie nahm seinen Kopf und drückte ihn ganz fest an sich und sagte über sein Haar hinweg: »Hier fängt unser zu Hause an ...«
An der Speisetafel saßen sie unter den hundert Menschen wie Leute, die seit Jahren aneinander gewöhnt sind. Und doch waren sie, seit er sie getroffen hatte in dem Blizzard von Colorado Springs und sie mit sich genommen hatte, bis zum Tage von Boston neue Menschen geworden.
Als sie am späten Abend noch ihren Rundgang an Deck machten, war ein Wind aufgesprungen, der die See erregte und sie seltsam singen machte.
Wegherr zog den Arm fester um seine Begleiterin.
»Hörst du? Die Musikanten üben schon. Für unsere Hochzeitsnacht.«
»Ja,« sagte sie und blickte mit ihm hinaus.
Und plötzlich kam die Nacht. »Juhu!« schrie der Sturm, sauste um das Schiff und fauchte mit den stürmenden Wellen vereint um die Außenkajüten, als ob sie die Schiffswand zertrümmern wollten. Zu den Menschen wollten sie, die sich in ihrer Kabine umschlungen hielten.
»Hörst du den Sturm?« fragte Wegherr. »Himmel und Meer rasen vor Neid.«
»Ich höre nur deine Stimme.«
»Wenn du deine Lippen auf meinen Mund legst, kann ich dein Herz lachen hören.«
»Es lacht so glückselig über deine Freude.«
»Und über die deine? Über deine Freude?«
»Ich hör' ja das deine lachen.«
Und sie vernahmen den Sturm nicht mehr und das Kreischen der See und die wilde Hochzeitsmusik, die im irren Taumel über die Wogen geigte, und sie hörten nichts, als ihre Herzen lachen.
Immer toller heulte der Sturm, donnerten die Wellen, klirrte das Eisen des Schiffes und ächzten seine Balken. Längst mußte es Morgen sein, aber die Dunkelheit wich nicht aus der wogendurchsprühten Luft und hielt die Nacht mit umklammernden Armen.
»Unser Hochzeitsgeschenk.«
»Unser Hochzeitsgeschenk.« – – –
Dann standen sie hoch oben auf dem stürmischen Sonnendeck und schrien vor Entzücken. Kein Mensch hatte sich hervorgewagt. Nur der erste Ingenieur machte seine Runde.
»Nicht seekrank?« fragte er, trat hinzu und grüßte.
»Seefeste Leute, Herr Oberingenieur.«
»Wie sich das gehört,« meinte der Wetterharte. »Der Mensch ist nicht allein für das Land erschaffen. Man muß sich alle Winde um die Nase wehen lassen, wenn man Feierabends ein gewichtig Wort mitreden will.«
»Die Reisenden auf diesem Schiff scheinen nicht alle Ihrer Ansicht zu sein, Herr Oberingenieur. Wenigstens sehe ich keinen, der seine Nase in den Wind steckt.«
»Ach du lieber Gott! Die Angst vor dem bißchen Rumoren! Eine hat sogar vor Schreck die Nacht ein Kind bekommen. Ich bitte um Entschuldigung, gnädige Frau, aber es ist nun mal da.«
»Ein Kind?« fragte Gertrud Wegherr. »Hat denn die Mutter ihre Pflege?«
»Der Schiffsarzt war bei ihr. Das andere muß sich wohl von selber finden.«
»Es ist aber doch eine Krankenpflegerin an Bord. Ich habe sie doch gestern gesehen.«
»Tja,« sagte der biedere Seemann und kraulte seinen Bart, »mit den Krankenschwestern ist das oft so eine Sache. Da meinen manche von den jungen Damen, die schönen Fahrten zwischen Hamburg und Neuyork wären eigens als Vergnügungsfahrten für sie eingerichtet. Höchstens mal so 'n bißchen Streicheln bei 'nem verstauchten Arm oder einen heißen Wasserbeutel auf die Magengrube, wenn's da meutert. Aber ins Zwischendeck kriegen Sie sie partout nicht. Unsere behauptet, sie wäre nur für erste Klasse verpflichtet, allerhöchstens noch für die zweite. Da muß denn unser Medizinmann allein sehen, wie er mit dem Zuwachs fertig wird.«
»Im Zwischendeck ist das Kind geboren?« fragte Gertrud Wegherr.
»Nur so ein lütt' Mädchen, gnädige Frau.«
»Und die Eltern?«
»Eltern?« Er kraulte sich aufs neue den Bart. »Ja, wenn Sie danach fragen, muß ich wohl antworten und Ihnen eingestehen, daß Eltern nicht vorhanden sind.«
»Wer ist denn die Mutter?« fragte sie kurz.
»Die Mutter? Ja, das ist etwas anderes. Die Mutter ist ein polackisch Mädchen und auf dem Rückschub von Amerika.«
»Weshalb, um Gottes willen, durfte denn das arme Geschöpf nicht landen?«
»Weil die Gesundheitsbehörde es untersagte. Weil die Gesundheitsbehörde nämlich nicht nur auf die Gesundheit des Leibes, sondern auch auf die Gesundheit des Geldbeutels guckt. Und da sagte sie: das Mädchen ist für das Land ungesund, denn das Kind wird der Armenpflege zur Last fallen.«
»Herr Oberingenieur,« bat Gertrud Wegherr und faßte des Mannes Hand, »würden Sie mich wohl ins Zwischendeck führen?«
Der bärtige Schiffsoffizier blickte die schöne Dame verwundert an. Dann zog ein breites Lachen über sein gutmütiges Gesicht.
»Sie sind eine famose Deern, gnädige Frau. Verdammt noch mal, und alle Achtung. Das werd' ich unserer pikfeinen Krankenschwester mal brühwarm unter die Nase reiben. Na, dann kommen Sie nur. Riechen tut's zwar nicht schön da unten. Geht der Herr Gemahl mit?«
»Und ob der mitgeht,« lachte sie und hing sich bei einem neuen Sturmstoß fest in Wegherrs Arm.
»Nimm Leinen- und Wollenzeug mit,« sagte er ihr, als sie an ihrer Kabine vorüberkamen, und sie schlüpfte hinein, kramte und kam mit einem Paket unter dem Wettermantel wieder zum Vorschein.
Sie gingen Achterdeck, bis sie hinunter zur Schraube kamen. Jetzt erst blickten sie dem Aufruhr der Elemente ganz ins Herz. Die Seen schlugen über ihren Köpfen zusammen, zerbogen Eisenstangen, rissen Stücke der Holzbrüstung von der Reling herunter und drückten gerade krachend ein Bullenauge ein. Der Ingenieur rief ein paar Mann heran. Kurz klang sein Befehl.
»Nichts von Bedeutung,« meinte er im Weiterschreiten zu seinen Begleitern. »Ist in wenigen Minuten wieder wie neu. So – hier geht die Treppe in die Unterwelt. Nun sind Sie im Zwischendeck. Der Doktor hat für die Kleine mit ihrem Kleinchen einen Verschlag machen lassen. Das liegt da nun wie im Stalle zu Bethlehem.«
Eine dicke Luft quoll ihnen entgegen. Ein Duft nach Menschen, alten Kleidern und Lebensmitteln. Und die stürmische See hatte das ihre dazu getan, den Duft unerträglich zu machen.
»Hier riecht's nicht nach Rosen und Vergißmeinnicht,« stellte der Schiffsingenieur schnüffelnd fest. »Kann kein Mensch behaupten. Teufel noch mal. Hier gleich linker Hand, gnädige Frau.«
Durch einen Holzverschlag war ein kleiner Raum abgeteilt. Aber die Neugier der Zwischendeckler wäre auch ohnedies nicht erregt worden. Sie kauerten auf ihren Schlafsäcken in den absonderlichsten Stellungen und mühten sich, den heftigen Erregungen des Schiffes und der immer stärker auftretenden Seekrankheit standzuhalten. Andere lagen stumpfsinnig lang hingestreckt, schnarchten in den untergeschobenen Arm hinein und kümmerten sich nicht um Weiber und Kinder.
In dem abgetrennten Raum ruhte auf einer Matratze, die der Schiffsarzt besorgt hatte, ein derbes, zwanzigjähriges Mädchen. An der Brust hielt sie ein Bündel. Ihre Augen funkelten wie glühende Kohlen aus dem Dunkel hervor.
»Hier ist eine Dame, die Sie zu sprechen wünscht,« sagte der Schiffsingenieur. »Na, nun bin ich hier wohl überflüssig, meine Herrschaften. Hat mich ausnehmend gefreut. Auf Wiedersehen.«
Er machte, daß er davonkam, und Gertrud Wegherr beugte sich über die glühenden Augen.
»Haben Sie Schmerzen?«
»Hab' ich nicht.«
»Ist ganz gesund.«
»Ich habe Ihnen ein Paket Leinen und Wollzeug mitgebracht. Passen Sie mal auf, daraus werden wir jetzt Windeln und Wickel machen. Für den Notbehelf. Nachher soll das Kleinchen schon seine Ordnung kriegen.« Und sie begann, ein Hemd in Streifen zu reißen und mit der Schere ein wollenes Umschlagetuch in breite Bänder zu zerteilen.
»Nun geben Sie mir, bitte das Kind mal her.«
»Trinkt g'rade.«
Sie nahm Wegherrs Hand, und sie harrten aus, bis das Kind den Kopf auf die Seite neigte. Mißtrauisch funkelten die Augen noch immer aus dem Dunkel herüber. Aber Gertrud Wegherr strich dem Mädchen mit der Hand über das Gesicht, griff vorsichtig nach dem Bündel und hob es hoch. Ein alter Unterrock hatte als Umhüllung gedient. Er löste sich, und ein kleines, nacktes Körperchen blieb ihr in den Händen. Sie setzte sich auf die Ecke der Matratze und begann ohne weiteres, das Kind in die Leinenstreifen einzuschlagen und fest mit den wollenen Bändern zu umwickeln.
Wegherr stand und blickte auf sie hinab. Und er sah den Schein der jungen Frauenwürde, der sie umfloß und den er gestern noch nicht an ihr bemerkt hatte.
»So,« sagte sie und reichte dem scharf herüberlugenden Mädchen das Kind zurück. »Sehen Sie nur, wie wohl es sich fühlt. Nun sagen Sie mir mal, was Sie jetzt wünschen.«
»Gar nichts.«
»Dann werde ich mal für Sie wünschen. Ich komme in einer halben Stunde zurück. Machen Sie ruhig die Augen zu.«
Sie nickte ihr zu und verließ mit Wegherr das Zwischendeck. »Ernst,« bat sie draußen und griff nach seinen Händen, »Ernst, würdest du mir wohl einen Wunsch erfüllen? Ich möchte ein Hochzeitsgeschenk von dir. Darf ich es sagen?«
»Es ist bereits erfüllt,« erwiderte er. »Komm nur mit zum Kapitän.«
»Dafür habe ich dich jetzt doppelt lieb,« murmelte sie. »Aber das ist nicht mehr möglich.«
Der Kapitän war in seiner Kajüte. Gerade hatte er sich für einen Augenblick auf der Kommandobrücke ablösen lassen, um einen Bissen herunterzuschlingen. Sein sturmgerötetes Gesicht lachte, als er Wegherrs Bitte vernahm, die junge Wöchnerin in eine leere Kabine der dritten Klasse schaffen zu lassen und dem Zahlmeister Auftrag zu geben, die Mehrkosten der Überfahrt auf Wegherrs Rechnung zu stellen.
»Das hat sicher die junge, schöne Frau hier mit dem lieben Gesicht ausgeheckt,« lachte er vergnügt. »Ich bin zwar weder jung noch schön, aber ein liebes Gesicht können wir auch noch machen. Nee, meine gnädige Frau, die Kabine können Sie nicht kriegen, weil ich sie selber brauche. Und zwar ausgerechnet für dasselbe polnische Frauenzimmerchen, das es sicher noch nie so gut im Leben gehabt hat, und für den überzähligen Passagier. Meine gnädige Frau, die Linie, die ich zu vertreten die Ehre habe, möchte sich in der Christenpflicht nicht gern beschämen lassen. Der Doktor hat mir bereits Meldung erstattet. Wär' dies grobschichtige Wetter nicht, lägen die beiden schon längst mollig in den Federn. Aber in einer halben Stunde soll's geschehen sein.«
»Ich danke Ihnen herzlich,« sagte Gertrud Wegherr und reichte ihm die Hand.
Der Kapitän zwinkerte vergnügt zu Wegherr auf.
»Donnerwetter! So was Hübsches hab' ich schon lange nicht hier oben gehabt. Das müssen Sie mir häufiger heraufbringen. So nachmittags, zur gemütlichen Teestunde. Aber erst müssen wir durch die hundsmiserable neufundländische Wetterbank hindurch sein.«
Und er stülpte die Mütze über, grüßte und riß die Tür zur Kommandobrücke auf, daß die Winde heulend durch alle Ecken jagten.
Das polnische Mädchen lag in einer luftigen Kabine der dritten Kajüte. Der wilde, misstrauische Blick war geschwunden. Sie rekelte sich heimlich unter dem Deckbett, und nach einer Weile summte sie dem Kind ein polnisches Liedchen vor.
»Sie sollen sich schonen,« sagte Gertrud Wegherr, die an ihrem Bette sah und Leinenzeug schnitt und nähte. »Es bekommt dem Kind besser.«
»Ich bin stark, und das Kind ist auch stark.«
»Was wollten Sie denn so allein in Amerika? Die Reise hätten Sie besser aufgeschoben.«
»Mein Schatz ist hinüber. Wollt' ihn suchen.«
»Und nun weiß er gar nicht, daß Sie drüben waren?«
»Wollt's gar nicht wissen. War gar nicht am Schiff. Hab' vierzehn Tage in der Baracke gewartet. Dann kam Rückschub. O der, der hat längst eine andere. Wär' der Sturm nicht gewesen, ich hätt's ausgehalten bis nach Haus.«
Vierzehn Tage hat sie in der Baracke auf Ellis Island auf ihn gewartet, dachte Gertrud Wegherr, unter lauter Elenden und Heimatlosen. In der Zeit, die für eine Mutter ganz voll von Sonne sein soll. Die vierzehn Tage müssen ihr mit den langen Nächten wie vierzehn Jahre gewesen sein. Und gedacht hat sie sicher an die Tage, die ihr mit ihrem Schatz viel zu kurz erschienen ... Und das Kind hat nicht Vater noch Heimat, nur das Meer und die Mutter. Und ist doch ein süßes Kind.
Sie hatte den letzten Stich getan und breitete die Sachen auf der Bettdecke aus.
»So – da haben Sie den Staat. Und da kommt Ihr Essen. Nun, der Appetit ist gesund. Und dann wird nichts getan als geschlafen.«
Auf dem Promenadendeck traf sie Wegherr. Sie hing sich in seinen Arm, und sie machten trotz des stürmischen Wetters ihren Rundgang.
»Wo habt ihr Frauen nur die Übung in der Kinderpflege her?« fragte er lachend.
»Ach, du – zuerst lernt man's an den Puppen, nachher in den Nachbarhäusern. Wenigstens in den kleinen Städten. Und der eine hat mehr Begabung dafür und der andere weniger.«
»Du hast sie,« sagte er.
Sie schritt kräftig neben ihm aus. Als sie über Vorderdeck bogen, wollte der Sturm sie nicht durchlassen und warf sich gegen sie, daß sie sich den Durchgang erzwingen mußten.
»Ob ich sie habe?« nahm sie das Gespräch wieder auf, als sie die Wetterseite überwunden hatten. »Vielleicht ist es gar keine Gabe, sondern nur ein wenig Einsicht. Da kommen täglich hunderttausend Menschen zur Welt, wie wir geboren worden sind und unsere Mütter geboren worden sind, und von dem Fröhlichsten, das es auf der Welt gibt, schämt man sich fröhlich zu sprechen und fröhlich mit Hand anzulegen, wo's not tut. Weißt du, Ernst, ich bin doch gar nicht böse, daß ich die Jahre in der Wildnis zugebracht habe. Man lernt doch wieder tiefer die Natur verstehen und kommt sich mit all seinem Englisch, Französisch und Spanisch unendlich nichtig vor.«
»Ich hab' dich lieb,« antwortete er.
»Ich dich,« sagte sie und suchte seine Augen.
Fünf Tage noch jagte das Schiff durch den Sturm. Der ganze Atlantische Ozean schien vom Frühlingstaumel besessen und die Sonne aus dem Himmel holen zu wollen. Dann schimmerte in der Ferne die Westküste Englands, und über Nacht wurde die See spiegelglatt.
»Sie hat das Rennen aufgegeben,« sagte Wegherr. »Sie konnte gegen unser Glück nicht an.«
»Du?« fragte sie und blickte nach der Küste.
»Sag' es.«
»Hab' ich dich wirklich – wirklich ein wenig glücklich gemacht?«
Da preßte er sie in den Arm, daß sie aufschreien wollte und doch den Schrei verbiß.
In Plymouth waren die englischen Reisenden ausgeschifft, vor Cherbourg lag der Dampfer eine halbe Stunde zum Ein- und Ausbooten auf der Außenreede. Und als wieder Tag und Nacht vergangen war, durchfurchte der Schiffskiel deutsche Gewässer.
Sie hatten sich vom Kapitän genau den Zeitpunkt bestimmen lassen und standen Hand in Hand, und die grauen Wasser trugen für sie den Sonnenschimmer der Heimat. Ohne zu sprechen, standen sie und spürten die Heimatfreude bis in die Kehle quellen.
Auf dem unteren Deck saß die junge polnische Mutter und wiegte ihr Kind in den Sonnenstreifen. Jetzt erblickte sie Gertrud Wegherr, die Tag um Tag an ihrem Bette die Wartung übernommen hatte, nickte ihr zu und hob ihr lachend das Kind entgegen.
»Solch ein Leichtsinn,« schalt Gertrud Wegherr. »Aber es ist ein schöner Gruß.«
Vom Land her flimmerte es grün. Der Frühlingswind strich schon verstohlen durch die Wiesen. Ein Kirchturm reckte die Nasenspitze. Noch ein paar Stöße der Schiffsmaschine, und da lag das Dorf, das erste deutsche Dorf mit Schindeldächern und bemalten Balkenköpfen.
Am Nachmittag kam die ›Alte Liebe‹ von Cuxhaven in Sicht. Und wieder blickten sie hinaus, als sähen sie nur mit demselben Blick.
»Heimatland,« sagte er aus tiefster Brust. »Jetzt gilt es, die Erfahrungen der Fremde für dich nutzbar zu machen nach meinem Teil.«
Und zum erstenmal begann er, ihr von seinen Zukunftsplänen zu sprechen.
»Ich möchte mein Buch schreiben über den Wert der deutschen Auswanderung nach Amerika, geschichtlich begründet von den ersten deutschen Einwanderern an. Und über die Bedeutung neuer Abflußländer für deutschen Fleiß und deutsche Kraft, die vaterländische Werte bleiben, deutsche Kolonien unter dem schwarz-weiß-roten Fahnentuch. Das möchte ich, und das will ich, und dich brauche ich dazu. Dann aber will ich wieder eine Universitätsprofessur übernehmen und die Jugend lehren, daß es nicht auf vaterländische Lieder, sondern auf vaterländische Taten ankommt und kein Mensch in der Welt dem sagenhaften deutschen Michel am Barte zausen darf.«
»Wir haben denselben Willen,« sagte sie. »Wo wird unser erstes Haus stehen, Ernst?«
»Am Rhein.«
»Am Rhein ...,« wiederholte sie, und ihre Gedanken irrten in die rheinische Niederung tief unten an der holländischen Grenze, in der sie als Kind gespielt und mit Jan auf langen Wiesenwegen ihre ersten Sprachübungen getrieben hatte. »Am Rhein ...«
»Ob deine Eltern noch in der kleinen Stadt wohnen?«
»Weshalb fragst du, Ernst?«
»Weil wir sie morgen aufsuchen wollen. Sieh, da haben sie Pfennig um Pfennig berechnet, um sich ein paar Jahre früher als andere ein sorgenloses Alter, wie sie es meinen, gewinnen zu können, und haben für die paar Jahre ihr bestes Leben drangegeben, das Leben mit ihren Kindern und in ihren Kindern. Heute, wo wir selbst daran gegangen sind, einen Hausstand zu gründen, wissen wir, daß sich jeder Mensch, der nur an sich denkt, um den Widerhall seines Lebens betrügt.«
»Ich danke dir, Ernst. Das war der letzte Schatten.«
»Wenn wir selber einmal Kinder haben,« meinte er, und seine Augen blickten froh hinaus, als sähe er schon die Schar mit den klaren, lachenden Kinderaugen, »wollen wir keine Musterkinder aus ihnen machen, die sich innerlich überheben, und auch keine Schüchterlinge, die aus Scheu vor den Eltern an den Wänden kriechen und den queren Blick bekommen. Wir wollen sie so ganz mit unserer ernsten und heiteren Liebe erfüllen, daß sie gar nicht anders können, als in diesem Zeichen siegen. Alles übrige wird vom Leben zerzaust oder zerbrochen.«
»Ja,« sagte sie, »denn Liebe ist Kraft und Wahrhaftigkeit.«
Die Stewards hatten sich mit ihren Musikinstrumenten aufgestellt. Der Dampfer stoppte ab und glitt in majestätischem Bogen an die Landungsbrücke. Und heimatselig und feierlich erklang die Weise der Schiffskapelle, daß es die Menschen packte wie Weihnachtsschauer:
»Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt!«
Deutsche Erde unter den Füßen! Heilige deutsche Erde.
In Hamburg war das polnische Mädchen mit ihrem Kind auf den Zug nach Posen gesetzt worden. Sie jubelte über das Geldgeschenk, als hätte sich die Hin- und Herreise über den Ozean dreifach gelohnt. Und am Abend noch fuhren Wegherr und seine stillgewordene Frau über Bremen weiter und erreichten spät in der Nacht die holländische Grenzstation. Sie suchten ein Hotel auf und lagen noch lange wach. Ihre Hände tasteten zueinander.
Das Häuschen des früheren Steuerbeamten van Weert war am anderen Morgen bald gefunden. Sie gingen hinein und fanden zwei alte Leute am Kaffeetisch. Der Mann hatte die Zeitung vor den kurzsichtigen Augen, und die Frau strickte wortlos an einem großen, blauen Strumpf. Es war früher Morgen, und schon wußten sich die beiden Alten nichts mehr zu sagen.
»Guten Morgen,« grüßte Ernst Wegherr.
Die Alten blickten auf und gaben den Gruß zurück.
»Mich muß ich wohl vorstellen,« fuhr Wegherr lächelnd fort und nannte seinen Namen. »Aber meine Frau ist Ihnen länger bekannt als mir.«
Die alte Frau fühlte sich umschlungen, daß ihr die Maschen von den Stricknadeln rutschten.
»Jesus – die Gertrud.«
»Die Gertrud?« fragte der Alte und schob die Brille auf die Stirn. »Du bist wohl –?«
Da fühlte auch er den Arm der Tochter um den Hals.
Die Frau blickte wirr von der Dame auf den Herrn.
»Herrgott, wie das hier aussieht,« murmelte sie und begann, auf dem Tisch das Kaffeegeschirr zusammenzuschieben.
»Ist das dein Mann?« fragte der Alte und faltete die Zeitung zusammen.
»Ja, Vater, das ist mein Mann.«
»Darf ich auch wissen, welchen Beruf er hat?«
»Er ist der Universitätsprofessor Doktor Ernst Wegherr. Man kennt ihn in der ganzen Welt und doch nicht so gut, wie ich ihn kenne.«
»Du hast Glück gehabt. Das muß man sagen. So gut konnten wir es dir natürlich nicht bieten.«
»Vater van Weert,« nahm Wegherr in der beklemmenden Stille das Wort und ergriff des Alten Hand, »ich habe Glück gehabt. Daran können Sie ruhig festhalten als an dem schönsten Gedanken Ihres Lebensabends. Ich habe das Glück gehabt, daß Ihre vor Gott und den Menschen gleich ausgezeichnete Tochter meine Frau wurde. Mutter van Weert, ich sage es auch Ihnen. Und nun wollen wir der Vergangenheit nicht mehr gedenken. Die Wege der Eltern und Kinder laufen auseinander, seitdem die ersten Menschen waren, und schließen später von selber wieder den Kreis. Wir sind gekommen, um uns mit Ihnen der Gegenwart zu freuen. Wir kommen von drüben, und Ihnen gilt unser erster Gruß, wie es sich für die Kinder ziemt.«
Der Alte rückte an seiner Brille. Er faltete die Zeitung auseinander und legte sie wieder in die Falten zurück. Der Herr da flößte ihm eine Ehrerbietung ein, die ihm unbequem war. »Gut, gut, es soll gut sein,« knurrte er. »Ich hoffe, Sie erleben an Ihren Kindern mal mehr Gehorsam.«
»Ich werde versuchen,« sagte Wegherr freundlich, »mich auch später noch an die Gedankengänge der Jugend zu gewöhnen. Das ist nun einmal die Pflicht von uns allen, die wir älter werden, und dann kann es uns an der Anhänglichkeit der Kinder nicht fehlen.«
»Möglich, daß Sie – daß Sie – als Universitätsprofessor das besser wissen.«
»Ich habe aber schon das Mittagessen auf dem Feuer,« klagte die alte Frau. »Nun muß ich schnell zum Metzger laufen.«
Gertrud Wegherr legte ihr den Arm um die Schulter, und die Frau fand sich in der schlichten Liebkosung nicht zurecht.
»Nein, Mutter, das brauchst du nicht. Wir wollen euch doch nicht aus eurer Gewohnheit bringen. Ihr seid noch so gar nicht an uns gewöhnt, und ihr wollt euch doch sicher erst miteinander besprechen und euch in der Stille mit dem Gedanken an uns vertraut machen. Wenn es euch paßt, bleiben wir jetzt noch ein Stündchen mit euch zusammen, bis unser Zug fährt. Und dann schreiben wir euch, wo wir uns am Rhein angesiedelt haben, und ihr besucht uns, wann euch die Zeit recht ist.«
Die Alten schwiegen. Aber es war eine Last von ihnen gewichen. Und Gertrud Wegherr ging mit der Mutter umher und ließ sich die Einrichtung zeigen und das Gartenland und fand alles so freundlich und zweckdienlich, daß der Alte endlich aufhorchte, aufstand und zum Wandschrank ging, dem er eine Flasche Johannisbeerwein und vier Gläser entnahm.
Er goß die Gläser voll und stieß mit den Heimgekehrten an.
»Auf Wiedersehen,« sagte er kurz.
Und Gertrud Wegherr saß in dem Eisenbahnwagen, der sie durch die Rheinniederung führte, träumerisch an die Schulter ihres Mannes gelehnt, und es war ihr frei und leicht ums Herz.
»Es war viel, viel besser, als ich dachte, Ernst, und du hast es zustande gebracht.«
»Es ist das alte Geheimnis aller Familienzerwürfnisse,« entgegnete Wegherr, »daß das Herrengefühl der Alten die Jungen für sich fordert und die Jugend das schmerzliche Verständnis der Alten. Wir aber, wir haben noch den freien Baugrund vor uns.
»Halt,« unterbrach er sich. »Wie heißt die Station?«
»Schnell hinaus. Dort sitzt der Baron von Dachsberg auf seinem Jagdwagen. Hallo, Baron!«
Der Baron spitzte die Ohren, war wie der Teufel vom Bock und im Schwung über das Eisengitter.
»Doktor! Doktor! An mein Herz, alter Mitverschwörer! Haben Sie's nun endlich auch dick gekriegt? Was hab' ich Ihnen gepredigt! Gott, riechen Sie denn eigentlich den niederrheinischen Frühling nicht? O um Vergebung, Sie haben sich ja verdoppelt. Baron Dachsberg, meine Allergnädigste.«
»Wir überschlagen einen Zug,« rief Wegherr. »Entschuldigen Sie, daß ich nur einem Teil Ihrer Lehre gefolgt bin, nämlich dem, beizeiten heimzukehren. Aber leider, leider konnte ich dem Teil nicht folgen, der mir die Freuden des Junggesellenlebens pries.«
»Ich wüßte nicht,« sagte der Baron mit Haltung, »daß ich Ihnen je etwas so Unsittliches vorgeschlagen hätte.«
Er wandte sich der Dame zu, die ihn lachend ansah.
»Meine Allergnädigste, ich befinde mich hier gerade vor dem rechten Forum. Sie haben so ein Gesicht – so ein Gesicht – na! So etwas unter Glas und Rahmen zu bringen, das gebietet geradezu die Moral. Aber einer Xanthippe, die einem immer mit dem Besen nachläuft, die Möglichkeit zu geben, daß in zwanzig Jahren ein ganzes Nest voll Xanthippen die Männerwelt bedroht – nun, nun, wir wollen uns über einen so unmoralischen Gegenstand nicht weiter auslassen, sondern lieber im Hotel einer Witwe Cliquot das schöne Hälschen brechen.«
Er reichte ihr mit vollendeter Ritterlichkeit den Arm und geleitete sie zur Bahnsteigsperre. Der Mann am Schalter forderte ihm die Karte ab.
»Wieso? Ich habe den Eingang nicht benutzt. Und auch den Ausgang nicht.« Und im Schwunge setzte er über das Eisengitter zurück. »So, das können Sie auf Ihren Diensteid nehmen. Bitte nochmals um Ihren Arm, meine Allergnädigste.«
»Nun sagen Sie mir zuerst ein Wort von Unkelbach Vater und Sohn,« bat Wegherr, als sie im Hotelzimmer saßen.
»Unnötige Frage, Doktor. Wir hausen zusammen wie die Kletten und gehen auf Freiersfüßen. Für den Unkelbach Sohn natürlich. Wir tun nur mit, damit er sich bei der Auswahl nicht so ›scheniert‹ fühlt. Hm – die alte wilde Sache scheint übrigens niedergeschlagen.«
Gertrud Wegherr blickte strahlend auf ihren Mann.
»Wissen Sie, Doktor, da soll nämlich ein Mann seine Hand im Spiel gehabt haben, mit dem ich vor meinem seligen Absterben noch mal Brüderschaft trinken muß. Wo wohnen Sie doch demnächst? Am Rhein? Na, da haben Sie den Wein ja selber, Herr Nachbar, und ich brauche nur die Gläser mitzubringen.«
Und noch einmal verließen Wegherr und seine Gefährtin den Zug und schritten durch die Straße einer alten Stadt, und er nannte ihr den Namen und sagte ihr, daß es die Herzbachstraße sei, die Straße seiner Jugendspiele und -gespielen.
Ganz langsam gingen sie die wenigen Häuser entlang, aus denen verwunderte Frauenköpfe schauten und zu fragen schienen, was es denn hier wohl zu sehen gäbe, und gingen durch das Tal den Berghang hinauf, an dem der Friedhof lag.
»Das ist die Gertrud,« sagte Wegherr, als sie vor dem Hügel der Mutter standen, »und sie will nun dort fortfahren, wo du aufgehört hast.«
Am Abend hatten sie Köln erreicht und standen, in Andacht versunken, vor dem Wunderwerk des Domes.
»Nehmt alle himmelanstrebenden Gebäude Amerikas zusammen,« sagte Wegherr. »Das habt ihr nicht und nie.«
Und er ließ sich packen und erschüttern von dem gewaltigen Zeugen alter deutscher Kultur.
Am Rheinufer, nahe Bonn, fanden sie ein lichtes Haus in einem alten, üppigen Garten. Die Veilchen blühten und dufteten zu Tausenden in den knospenden Weißdornhecken, und die Vögel übten wie im Rausch ihre Frühlingslieder.
Gertrud Wegherr streckte die Hände aus, daß ihre Brust vorwärts drängte wie ihr Mund, und sie schloß den Mann in beide Arme.
»Nun sind wir zu Hause,« sagte sie. »Nun sind wir zu Hause.«