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Die Hausfrau hatte sich beim Eintritt der beiden Herren erhoben.
»Wir haben liebe Gäste,« sagte sie mit dem warmen Ton der Stimme. »Darf ich unsern Freund bekannt machen? Ach, ich vergaß, die Herren kennen sich ja schon von der Bergfahrt her. Aber meiner lieben Freundin Fräulein van Weert muß ich Sie vorstellen. Doktor Wegherr, Professor aus Deutschland.«
Ernst Wegherr reichte Fräulein van Weert die Hand. Sie sahen sich an und nickten sich freundlich zu. Dann beurlaubten sich die Herren auf eine Viertelstunde, um den Fabrikstaub abzuschütteln.
Als sie in Abendkleidung zurückkehrten, erscholl der Gong, der zum Dinner lud. Die Kinder speisten heute auf ihrem Zimmer. So wurde es etwas feierlicher. Aber diese Feierlichkeit verlor sich sofort, als der kleine Kreis Platz genommen hatte und die Unterhaltung lebhafter wurde. Wegherr hatte zwischen der Hausfrau und Fräulein van Weert seinen Platz gefunden. Das war ihm lieb und verscheuchte schnell die Abspannung, die der rasselnde Fabriktag hinterlassen hatte.
»Meine Freundin Gertrud van Weert,« sagte die Hausfrau, »ist nun auch schon ein Dutzend Jahre im Land. Leider haben wir davon erst drei Jährchen mitbekommen.«
»Erst drei Jährchen?« wiederholte Fräulein van Weert. »Mir schienen es, an den ersten neun Jahren gemessen, drei recht lange Jahre.«
Ihr Gesicht war schmal, und die Stubenluft hatte ihrer brünetten Haut einen elfenbeinfarbigen Hauch gegeben. Das dunkle Haar lag in einer schweren Flechte um die Stirn gewunden. Das Köpfchen hing ein wenig müde auf dem schlanken Hals, als ob es Erinnerungen nachträumte. Erhob es sich aber in der Erregung des Gesprächs, so ging ein spannkräftiger Zug durch die ganze Gestalt, daß die Brust vorwärts drängte und Schultern und Arme sich strafften. Bis das leise Hinträumen wieder Macht gewann.
»Ich entnehme aus Frau Wuppermanns Worten,« wandte sich Wegherr an seine Nachbarin, »daß Sie Ihren Aufenthalt hier in der Nähe genommen haben.«
»Ich bin als Lehrerin an dem großen Damen-College angestellt, das nur ein paar kleine Meilen von hier in der Nähe der Stadt liegt, eine Art Mädchenuniversität mit Internat.«
»Sie sagen das nicht sonderlich fröhlich, Fräulein van Weert.«
»O,« erwiderte sie hastig und errötend, »ich bitte um Entschuldigung, wenn ich mich gehen ließ. Nein, nein, es war nicht recht. Besonders nicht in diesem Kreise, der jeden Menschen fröhlich machen muß.«
»Lieben Sie die Lehrtätigkeit nicht?« beharrte Wegherr. »Ich meine, es wäre etwas Wunderbares, die heiligen Feuer in den Seelen der Jugend zu entzünden.«
Da trat ein schalkhafter Glanz in ihre Augen.
»Geben Sie mir in Amerika die Jugend und die heiligen Feuerstellen der Seele, und ich will sie entzünden. Was aber, wenn beides nicht vorhanden ist? Keine Jugend und kein Idealismus? Dann brennt Ihr Lichtlein ganz alleine, und zuletzt halten Sie die Hand darüber, damit es keiner sieht.«
Ernst Wegherr lachte, und die übrigen stimmten ein.
»Gilt das,« fragte er, »nur für die jungen Damen oder auch für die jungen Herren?«
Fräulein van Weert sann nach. »Ich maße mir über die jungen Herren kein Urteil an,« meinte sie dann, »und die jungen Damen haben ganz sicher auch ihre Vorzüge. Aber sie liegen auf einem Felde, das uns bei jungen Mädchen wenigstens etwas – nun, etwas ungewohnt erscheint. Sie sind eben nicht jung und nie ganz richtig jung gewesen. Sie sind fertige junge Damen in einer Zeit, in der wir daheim noch verschämt mit der Puppe spielten. Und all die süßen Mädchenschwärmereien für die großen Dichter und Helden, das Wispern und Flüstern der kleinen, törichten und vertrauten Geheimnisse – ach, alles das, was unsere Lebensfreude in einem einzigen Jauchzer ausströmen ließ, ist ihnen so unverständlich wie dem Fisch der Vogel. Sie kommen als kleine Herrinnen zur Welt und gehen als große Herrinnen durch die Welt.«
»Aber ihr großer Lerneifer ist doch anerkennenswert,« warf Wegherr ein. »Davon zeugen doch die vielen Damen-Universitäten.«
Fräulein van Weert blickte Mr. Willart an. Der winkte ihr ermutigend zu.
»Ja,« sagte sie, »das ist wahr. Und doch hat auch dieses Kapitel bald seine besondere Note bekommen. Die großen und gebildeten Frauen, an denen Amerika reich ist, haben Schule gemacht. Ihr starkes und kühnes Auftreten auf allen Gebieten des Lebens erregte Aufsehen und Bewunderung. Was aber in Amerika Aufsehen erregt, ruft gleich bei Tausenden den Nachahmungstrieb hervor. Die Frauenbildung war bald nicht mehr Vorrecht der Berufenen, sie wurde Mode. Es gehörte für eine junge Dame einfach zum guten Ton, ein Universitätszeugnis oder gar einen der unzähligen Preise, eins der ebenso unzähligen Diplome aufweisen zu können, und die Männer, die sich in ihren Geschäften abrackerten und keine Zeit für Kunst und Wissenschaft fanden, waren stolz auf ihre klugen und gebildeten Frauen. Diese Bildung aber geht bei den meisten leider nur bis dicht unter die Oberfläche, da sie sie nur als schnell zu beschaffendes Heiratsgut betrachten, und die Lehrerin ist entweder ohnmächtig gegenüber dem Selbstbewußtsein ihrer Schülerinnen, oder sie weiß es selber nicht besser. Aber jetzt« – und sie sah sich mit rotem Kopf lachend im Kreise um – »jetzt hab' ich wahrlich genug gelästert.«
Frank Willart hob die Hand.
»Das, was Fräulein van Weert so liebenswürdig war uns in ihrer klaren Art zu erläutern, trifft mit wenigen Einwendungen auch auf die männlichen Schüler zu. Gewiß, bei ihnen ist der Bildungshunger echter. Aber auch hier überwiegen die Mitläufer diejenigen, denen es ernste Gewissenssache um die wissenschaftliche Forschung ist. Der Sport regiert die Stunde. Der beste Base-Ball-Spieler zu sein, gilt mehr als der beste Grieche, und nicht der berühmteste und hinreißendste Professor vermag auch nur einen Bruchteil der Begeisterung zu erregen wie ein Spiel-Turnier in der Studentenschaft. Und betrachten Sie sich, mein lieber Doktor Wegherr, einmal unsere zahllosen und übervölkerten Universitäten bei Lichte. Viele davon würden Sie in Deutschland nur als Oberklassen eines Gymnasiums ansehen, alle aber während der ersten dreijährigen Kurse. Was in den ersten sechs Semestern gelehrt wird, ist Sekunda- und Primafach. Erst nachher wird das Studium wissenschaftlich systematischer, soweit die Lehrkräfte reichen, von denen die besten sich doch wieder in Deutschland ihre letzte und stärkste Ausbildung holen. Ach ja, Deutschland und seine Schulen!«
Wegherr hob ihm sein Glas entgegen.
»Prosit, Mr. Willart. Das war ein gutes Wort. Und ich wette, auch Sie waren in Deutschland.«
»Ich bin in Leipzig zum Doctor philosophiae promoviert. Aber man macht als Privatmann keinen Gebrauch davon, nur im Lehramt oder als Mediziner.«
»Also doppeltes Prosit. Ich freue mich des Kollegen. Und« – er ließ sein Glas gegen das Glas Fräulein van Weerts anklingen – »der warmblütigen Kollegin.«
»O," sagte Fräulein van Weert leise, »sie ist in den drei Jahren abgekühlt.«
Wuppermann drohte ihr mit dem Finger. »Das ist ein Glück für uns.« Und sofort nahm das Gespräch eine heitere Wendung.
Als im Nebenzimmer der Kaffee gereicht wurde, die Hausfrau sich für kurze Zeit entschuldigt hatte, um das Zubettgehen der Kinder zu beaufsichtigen, und Willart mit Wuppermann den Bücherschrank musterte, schob Wegherr Fräulein van Weert einen Sessel an den Kamin, auf dessen offener Feuerstelle ein paar Buchenkloben prasselten, und ließ sich im Stuhle neben ihr nieder. Eine Weile betrachtete er heimlich ihr feines Köpfchen, die schlanke Mädchengestalt, die in den Bewegungen sich so stählern zeigte. Und er malte sie sich aus, wie sie stundenlang auf dem Lehrstuhl sich müde redete vor einer Schar eingebildeter Dinger, die die Lehrerin als einen besseren Dienstboten betrachteten. Dieses feine Geschöpf.
Sie fühlte seinen Blick und wurde unruhig. Und er beeilte sich, ein Wort zu sagen.
»Zwölf Jahre sind Sie schon im Land? Zwölf Lehrerinnen-Jahre?«
Da machte sich ihre Unruhe in einem frohen Lachen Luft.
»Also so sehe ich aus, Mr. Wegherr? Da haben wir's. Die drei Jahre haben genügt, mir die Matronenwürde zu verleihen. Nein, wirklich, Mr. Wegherr, vor zwölf Jahren war ich wirklich noch zu jung dazu.«
Ernst Wegherr lachte fröhlich mit.
»Das seh' ich selber, Fräulein van Weert. Ich war so in Gedanken, daß ich eine Gedankenlosigkeit beging. Verzeihen Sie mir.«
»Übrigens,« half sie ihm ein, »ist der Unterschied auch nicht so groß. Ich kam mit sechzehn Jahren nach Amerika. Als Begleiterin meines Bruders, der als junger Eisenbahningenieur herübergerufen worden war. Gott, waren das noch Zeiten.«
Ihre dunklen Augen bekamen einen helleren Glanz, und über ihr Gesicht huschte ein Schein wie ein Aufleuchten vergangener Tage. Vornübergebeugt sah sie und blickte starr in das Kaminfeuer.
»Darf ich danach fragen, Fräulein van Weert?«
»Es ist nichts Bedeutendes,« sagte sie vor sich hin, ohne sich zu rühren. »Nur für mein Leben war es das Bedeutendste. Mein Bruder Jan – wir stammen von der holländischen Grenze – mein Bruder und ich hingen in zärtlicher Geschwisterliebe aneinander. Er war ein glänzend begabter Techniker, und als er die Berufung der amerikanischen Eisenbahngesellschaft erhielt, im fernen Westen eine Eisenbahnstrecke anzulegen, nahm er mich mit. Mit in die Freiheit, mit in die Wildnis, mit in das Forschen, Lernen und Gestalten hinein. Ich durfte als Schülerin sofort vor die Größe der Natur.
Mit sechzehn Jahren. Und durfte dem Bruder helfen, als wenn ich ein Jüngling gewesen wäre. Durfte ihm in seinen Arbeiten zur Hand gehen und alles miterleben, seine kühnen Entwürfe und sein sicheres Vollbringen, den Kampf mit den Naturkräften und der zusammengewürfelten Menschenkolonne, die unter seinem Befehle stand, gute und schlimme Tage, Niederlagen und Siege. Wir führten ein Nomadenleben, fern in den westlichen, nord- und südwestlichen Staaten. Mit jedem Kilometer Eisenbahn rückten wir unsere Zelte vor. Hatte ich unseren kleinen Haushalt besorgt, was schnell geschah, da für die Arbeitskolonne ein Kantinenkoch sorgte, so schwang ich mich aufs Pferd und jagte dem Bruder nach. Die wilden Kerle mochten mich, wie man ein Töchterchen mag. Sie riefen mir die Richtung zu, hierhin, dorthin, und jeder schrie dem anderen die Weisung zu, auf mich acht zu geben. Von Denver an, von Colorado Springs in den Rocky Mountains bis zum Süden Kaliforniens ging's durch die starrenden Gebirge, die endlosen, immer endloseren Prärien. Und hinter meinem Bruder her, der oft eine Tagreise weit vorritt, um die Punkte für den Unterbau zu untersuchen und zu bestimmen, jagte ich durch Berge und Prärien, immer den Himmel über mir, durch Sommersonne und Winterschnee, oft durch ausbrechende Stürme und Gewitter. Dann packte mein Bruder vom Sattel herüber in meinen Zügel hinein, wie er es auch oft tat, wenn wir über die grauen, sonnenverbrannten Prärien sausten, atemlos, aber Auge und Hand eins, damit die dahinstürmenden Gäule nicht in die Maulwurfshügel der Präriehunde einbrächen und einen Kopfsprung täten. Neun Jahre waren es, und sie scheinen mir heute wie neun Wochen. Wer durfte Frühling, Sommer, Herbst und Winter erleben wie ich. Wer durfte der Natur so ins Gesicht sehen, ob sie gütig lächelte oder Teufelsfratzen schnitt. Wer durfte einem anderen dienen, wie ich dem Bruder, und wurde im Dienen so über sich hinausgehoben. Kein Mensch durfte so lieben und so weinen.«
Ihre Augenbrauen zogen sich schmerzhaft zusammen. Und die Lippen lagen fest aufeinander gepreßt, als ob sie einem Schluchzen wehrten.
Ernst Wegherr saß still neben ihr und wartete.
»Es ist nicht mehr viel, Herr Professor. Wir waren die Küste des Stillen Ozeans entlang nach Norden gezogen. Ein neuer Vertrag rief dann den Bruder hinauf nach dem Alaska-Gebiet, wo Eisenbahnen geplant wurden. Irgendwo lagen wir mit der Kolonne in der Wildnis. Es war Abend, und Jan saß vor mir und erklärte mir ein paar neue kühne Baupläne mit weiten Brückenspannungen und Tunnelierungen, daß es mir heiß zu Sinn und stolz zu Mute wurde, als ihm plötzlich die Lippen bebten und er lautlos hintenübersank. Die Arbeit hatte seine Nerven ausgepumpt. Ich schrie nach den Leuten. Auf der Dräsine fuhr einer mit der Fackel zur nächsten Ansiedlung, in der ein Arzt wohnte und ein Gasthof lag. Ich zu Pferde hinterher, immer zwischen den Notgleisen, dem Fackelschein nach. Vor mir im Sattel der Bruder, den ich mit dem linken Arm an mich geklammert hielt. Aber meine Blutwärme konnte ihn nicht erretten.«
Und wieder saß sie mit schmerzhaft zusammengezogenen Augenbrauen und fest aufeinandergepreßten Lippen.
»Ohne seinen nahen Tod auch nur zu ahnen,« schloß sie dann, »ohne für seine heißgeliebte Arbeit Vorsorge treffen zu können, mußte er hinweg. Das war das Furchtbare.«
Ernst Wegherr nahm leise ihre Hand. Und leise sagte er:
»Fräulein van Weert, Sie irren. Ein solcher Tod ist nicht furchtbar. Es ist der Tod, den ein gütiges Schicksal seinen Lieblingen schickt. Glauben Sie mir, das ist kein Trost, das ist die Wahrheit. Ja, Fräulein van Weert, es ist ein Glück, daß wir unsere Todesstunde nicht im voraus kennen, denn mancher große Weg, manche große Tat würde ungeschehen bleiben, weil wir das Augenmaß verlören und achselzuckend sagten: Es reicht nicht, oder es lohnt nicht. Es lohnt aber immer, Fräulein van Weert. Und Ihr Bruder Jan bewies es.«
Da drückte sie ihm die Hand. »Ich danke Ihnen. Vielleicht haben Sie Recht. Vielleicht habe ich in der Freiheit selber so gedacht. Aber der eingegitterte Vogel läßt schnell die Flügel hängen.«
»Weshalb ließen Sie sich eingittern?«
»Weshalb? O, Sie sind noch nicht lange in Amerika. Die Bank unterschlug Jans Ersparnisse und behauptete, sie seien in einer Spekulation zugrunde gegangen, die mein Bruder unternommen habe. Und die Eisenbahngesellschaft zahlte keinen Dollar über den verdienten Gehalt. Ich ging nach dem Osten zurück und durfte froh sein, als Lehrerin für Deutsch und Französisch hier am College unterzukommen. Aber es ist alles nicht so schlimm, wie es scheint. Man muß sich nur bescheiden lernen. Ob man auf dem Gaul oder auf dem Katheder sitzt, das Leben geht darum keinen anderen Gang. Und nun genug von mir. So wichtig,« und sie lachte aus klargewordenen Augen, »so wichtig bin ich mir schon lange nicht mehr vorgekommen.«
Die Hausfrau war zurückgekehrt und brachte die Herren mit an den Kamin. Der Kreis wurde wieder geschlossen.
»Brauchen wir nicht ins Rauchzimmer, Mary?«
»O nein, wir geben euch nicht frei. Wenn es Fräulein Gertrud erlaubt, dürft ihr rauchen.«
»O, ich habe jedenfalls schlechteren Knaster zu riechen bekommen.«
»Dann machen wir Ihnen mit unseren guten Zigarren also geradezu ein Vergnügen, Fräulein van Weert?« neckte Wuppermann.
»Umgekehrt, Herr Wuppermann. Die Zigarren mit Ihnen! Mir geht es wie Frau Mary.«
Da verbeugte er sich tief, holte hinter dem Rücken die Zigarrenkiste hervor und bot den Herren an. »Was die Frau will, will Gott.«
»Wie stehen die Fabriken?« fragte Willart aus seinem Sessel heraus.
»Danke für Nachfrage,« meinte Wuppermann. »Es geht zwar gut, aber noch mehr Arbeit schändet nicht.«
»Da braucht man Sie nur anzusehen. Hat Ihr Freund die Fabriken besichtigt? Ja? Und Gefallen daran gefunden?«
»Lieber Mr. Willart, Sie dürfen ruhig geradeaus fragen. Denn Sie meinen doch, ob ich ihn mir zum Teilhaber ausersehen habe.«
»Ausersehen ist ja noch nicht angenommen.«
»Sie sagen das so freudig bewegt, daß ich fast einen anderen Plan bei Ihnen vermute.«
Wegherr hob den Kopf. »Ich glaube wahrhaftig, da wird über mich verhandelt.«
»Merkst du was, lieber Ernst? Alle Hunde sind hinter dir her. Wir spielen Kesseltreiben.«
»Wenn Sie es nicht für überheblich halten, Herr Professor,« wandte sich Willart ihm zu, »daß wir nach Ihren amerikanischen Plänen fragen, so werden Sie sicherlich nirgendwo dankbarere Zuhörer finden und aufrichtigere Freunde.«
Wegherr verneigte sich leicht. Dann sagte er, und seine Stimme wurde ernst:
»Ich möchte das Land studieren. Ich möchte Land und Leute beobachten und daraus meine Schlüsse ziehen. Ein Geschichtsforscher hat viele Wege zu gehen. Er muß auf den Höhen schwindelfrei sein und sich nicht weniger unter den Massen zu Hause fühlen. Erst aus der Völkerpsychologie heraus kann er den Aufstieg des einzelnen verstehen und ihm gerecht werden, wie der Forscher es soll, und die Volksseele ist abhängig von dem Boden, aus dem sie geworden, von den Wirtschaftsbedingungen, von ihrer nächsten Umgebung und von den Nachbarn, an denen sie sich reibt. Wer Geschichte erforschen will, zu dem Zwecke, die Kultur zu fördern, darf nicht hinter dem Schreibtisch bleiben. Deshalb will ich mich in Bälde auf die Wanderschaft begeben.«
»Sie sprachen von Kulturförderung,« griff Willart das Wort heraus. »Sie würden es kaum gesagt haben, wenn Sie nicht damit eine ganz bestimmte Kultur ins Auge gefaßt hätten.«
»So ist es, Mr. Willart. Die Kultur richtet sich nach den Rassen. Unter Mischrassen nach der, die das moralische Schwergewicht bedeutet. So wenigstens sollte es sein, wenn das Land nicht den Schaden davontragen soll.«
»Sie sprechen von der deutschen Kultur?«
»Erweitern Sie für Amerika das Wort. Ich spreche von der Kultur, die alle Stämme germanischen Blutes umfaßt.«
»Und das Ergebnis Ihrer Forschungen gedachten Sie von Ihrem Lehrstuhl aus vorzutragen? Bedenken Sie, daß der Amerikaner, den es angehen und fördern soll, wenig von dem erfährt, was in Deutschland gelehrt wird, oder es entstellt erfährt.«
»Ich denke für die nächsten Jahre an keinen deutschen Lehrstuhl.«
»Ah – an eine Universitätsprofessur in Amerika! Das sieht ganz anders aus, und wir könnten uns beglückwünschen. Sie würden mit offenen Armen aufgenommen werden, und dennoch –«
»Und dennoch?« fragte Wegherr lächelnd.
Willart überlegte. Sein kluges Gesicht zog unwillkürlich die Blicke an.
»Als Mann, der die amerikanische Geisteswelt zu kennen glaubt,« sagte er dann ruhig, »rate ich Ihnen ab. Eine Professur hierzulande ist nicht das, was einem auf dem Felde der Wissenschaft so hoch verdienten und mit Recht berühmten Mann auf die Dauer Genüge geben könnte. Nicht nur, weil bei uns alle Verhältnisse noch zu unfertig sind und der Widerhall fehlt, den Sie suchen. Das ändert sich mit den Jahren, und die Entwicklungszeit hat sicher etwas Anreizendes. Auch an Lehr- und Lernmitteln, an Bibliotheken, Anschauungs- und Übungsbedarf finden Sie dank der riesigen Schenkungen einen Reichtum, wie vielleicht nirgendwo in der alten Welt, und die Anstelligkeit des amerikanischen Hörers, dem es ernsthaft um sein Studium zu tun ist, steht hinter keiner anderen Begabung zurück. Und dennoch« –
»Und dennoch?« wiederholte Wegherr noch einmal, aber seine Augen blickten gespannt.
»Der Hinweis, daß in Amerika Geistesarbeit am schlechtesten entlohnt wird, würde bei Ihnen nicht verfangen, Herr Professor.«
»Nein, das würde er nicht.«
»Ich dachte es mir, und es freut mich von Herzen. Sie sind ein Eigener. Und gerade darum sollte es bei keinem wie bei Ihnen heißen: In eigener Sache – in eigener Firma. Was halten Sie davon, Mr. Wuppermann?«
Der Fabrikant nickte gewichtig mit dem Kopf. »Ein Wort nach meinem Geschmack, Mr. Willart.«
»Ich höre Ihnen aufmerksam zu, meine Herren. Obwohl ich vom Lehrstuhl aus ebensogut in eigener Sache und eigener Firma handeln würde.«
»Das würden Sie,« bestätigte Willart ohne weiteres. »Die Frage ist nur, wie lange Sie es tun würden, wie lange Sie in der Lage sein würden. Amerika ist noch so jung, daß auch seine Empfindlichkeit die eines Kindes ist. Es will nur gestreichelt, es will nur immer schön gefunden werden. Was der Amerikaner in diesem ungeheuren Landgebiet in der kurzen Zeit nach der zivilisatorischen Richtung hin geleistet hat, ist ja auch einfach staunenswert. Zivilisation ist aber nicht Kultur, ist nur Erschließung und nicht Erhöhung eines Landes. Das ist des Amerikaners wunde Stelle, darin ist er empfindlich wie ein verwöhnter Junge, und wenn ein von ihm angestellter Universitätsprofessor nachdrücklich den Finger in diese Wunde legt, so schreit er auf und läßt die Meute los. Vergessen Sie nicht,« fügte er hinzu, »daß es sich um eine Nation aller Völker und Rassen handelt, von denen jede an die Spitze drängen möchte. Wird aber ein anderer als sie selber von der Universität aus ›bescheinigt›, so entdecken alle übrigen ihren gemeinsamen ›Amerikanismus›.«
»Das heißt,« folgerte Wegherr, »sie schlagen so lange Lärm, bis dem Unbequemen der Lehrfaden abgeschnitten wird.«
»Ganz recht, und vielleicht nur ein bißchen zu freundlich ausgedrückt. Deshalb bleibe ich dabei: in eigener Sache – in eigener Firma. Denn das Grundmotiv ihrer Forscherwanderungen wäre und bliebe« –
»Sammlung des Deutschtums auf fremder Erde,« sagte Wegherr ernst. »Seine Stärkung in sich selber, die bedingen wird: den kraftvollen Einfluß im neuen Heimatland und die Aufrechterhaltung der verwandtschaftlichen Beziehungen zum alten Vaterland. Das wäre ein Band, das keines tintenbeschriebenen Pergamentes bedürfte. Und unsere Söhne wären sich und uns nicht mehr verloren, ob sie auch amerikanische Bürger würden.«
In einer seltsamen Bewegung blickte Willart den Sprechenden an.
»Auch ich bin deutsch, Mr. Wegherr. Nicht nur dem Blute nach. Sondern weil ich deutsch fühle.«
»So sind wir eines Glaubens, Mr. Willart.«
Einer plötzlichen Aufwallung nachgebend, streckte ihm Willart die Hände hin.
»Also lassen wir uns auch Deutsch reden. Wir dürfen es im Hause Wuppermann.«
Wegherr hatte die Hände ergriffen. Die beiden Männer blickten sich in die Augen, und über den Zuschauern lag eine feierliche Stimmung. Ein Menschenschicksal, vielleicht viele Menschenschicksale sollten hier bestimmt werden.
»Sprechen wir Deutsch, Herr Willart,« sagte Wegherr, und dann gab er die Hände frei.
Willart lehnte sich tiefatmend im Sessel zurück. Er sandte seine Gedanken weit aus und holte sie wieder herein. Wie einen honigschweren Bienenschwarm.
»Wir haben denselben Glauben an die Größe und Bedeutung des deutschen Volkes, wo auch immer abgesprengte Glieder sich ansiedeln mögen. Hier aber leben fünfzehn Millionen, die höchstens in ihren Träumen den gemeinsamen Quell noch rauschen hören und dem weltgeschichtlichen Beruf des Deutschtums verloren gehen, wenn sie nicht wieder geweckt, ja – aufgerüttelt werden. Hier heißt es, mit dem Zauberstab des deutschen Wortes wie mit einer Wünschelrute die rechten Stellen treffen, damit der Quell ans Licht springt und die Seelen erfüllt.«
»Mit Heimweh,« sagte Ernst Wegherr.
»Ja, mit Heimweh. Mit dem Heimweh nach einer Heimat, die auf einem fernen Boden liegen kann und doch im Geist der alten so ähnlich. Mit dem Verlangen, sie sich zu schaffen. Mit dem Bewußtsein, sie sich schaffen zu können, wenn sie nur wollen. Mit dem Willen zur Macht.«
Er schwieg, und Wegherr merkte es kaum, denn seine Gedanken waren schon weitergezogen, in das Feld der Arbeit. Und aus seinen Gedanken heraus sagte er nach einer Weile:
»Dieser Weg lebte schon in mir, als ich herüberkam. Ich kam ja nicht unvorbereitet. Ich sah ein Arbeitsfeld, wenn auch erst dunkel. Der Weg erhellt sich, und ich sehe die Arbeitsmöglichkeiten deutlicher.«
»Wir brauchen Sie, Mr. Wegherr.«
»Und woher wissen Sie, daß Sie gerade mich gebrauchen?«
»Weil den Männern hierzulande die frische Begeisterung fehlt, die sich auch ohne winkende Reichtümer für ein Ideal einzusetzen vermag. Weil – ich Sie vorgestern in Ihrer ersten, heißen Begeisterung auf dem Berge sah und reden hörte. Weil – nun, weil Sie Sie sind.«
Wegherr sann vor sich hin. Er horchte in sich hinein. Er vernahm, wie das deutsche Blut und das Forscherblut in ihm erwachte und ihm zurief. Aber er war kein abenteuerlustiger Jüngling mehr.
»Es gibt so viele hervorragende Deutsche hier,« meinte er langsam, »Männer, die mit Land und Leuten besser vertraut sind als ich. Weshalb machen sie sich nicht auf den Weg?«
»Weshalb nicht?« wiederholte Willart. »Nun, zunächst wohl nicht, weil sich der Erfolg nicht gleich ziffernmäßig berechnen läßt, und langfristige Geschäfte pflegt man in diesem raschlebigen Lande nicht gern zu machen. Dann aber auch, weil sie sich schon so sehr an die amerikanische Beleuchtung gewöhnt haben, daß ihre Augen nicht mehr unbestechlich scharf zu unterscheiden vermögen. Zu dritt aber, und das ist der wichtigste Punkt, tragen sie nicht den Luftstrom der alten Heimat mit sich, wie Sie es tun, stehen sie nicht vor den Hörern da als ein lebendiges Zeugnis, als ein Grützebringer von drüben. Deshalb, Mr. Wegherr.«
Wegherr blieb still. Man hörte die Atemzüge der um den Kamin versammelten Menschen.
»Sehen Sie sich unsere Volksgenossen an, wie sie heute sind,« fuhr Willart lebhafter fort. »Wo sie in den Städten dichter zusammensitzen, glauben sie wunder was zur Pflege des großen deutschen Gedankens zu tun, wenn sie sich allwöchentlich in Gesangvereinen, Kriegervereinen, Kegel- und Skatvereinen zusammenfinden. Dort erzählen sie sich die neuesten Witze, trinken Bier und halten wohl auch einmal eine Festtagsrede. In der Hauptsache aber bleiben es Vergnügungsgeselligkeiten, und die Frauen und Mädchen dürfen nicht leer ausgehen. Wie können dagegen die wenigen Gesellschaften, die mit echtem Ernst den Kulturfortschritt auf ihre Fahnen geschrieben haben, aufkommen? Gehen Sie einmal hinein in die deutschen Veranstaltungen und sehen Sie es mit an, wie unsere Volksgenossen sich geschmeichelt fühlen, wenn ein Angloamerikaner sie mit seinem Besuch beehrt. Im Sinne des Wortes: beehrt! Wie der deutsche Satz abbricht und ihnen das Englisch über die Zunge gehüpft kommt. Wie ihre Mienen es ausdrücken: O, wir machen hier nur so mit, aus Geschäftsrücksichten, wissen Sie, obschon wir es eigentlich für eine Kinderei halten, Amerikaner wie wir, nicht wahr? Das ist ein Bauchrutschen, das um so empörender ist, weil nur wir Deutschen es üben; das um so lächerlicher ist, weil es uns in der Achtung des übrigen Amerikas zurückwirft. Tausend der Besten denken wie ich.«
Wegherr hob den Kopf. Seine Stirn hatte sich gerötet.
»Es wird anders werden, Mr. Willart. Ihre Deutschamerikaner tragen noch das alte Deutschland im Kopfe herum, wie es vor dem Französischen Kriege, wie es vor der Erschaffung des neuen Deutschen Reiches war. Und es mangelt ihnen am rechten Stolz auf ihr Stammland, weil sie von seinem Höhenflug als Augenzeugen nichts wissen und nur als Ohrenzeugen von den alten Eingewanderten mit den längst niedergebrochenen Weltbürgerschwärmereien zum Nachtisch gespeist wurden. Das Volk der verträumten Unwirklichkeit lebt nicht mehr, ein Volk der stahlharten Wirklichkeiten steht an seiner Stelle, das sich seiner wirtschaftlichen Höhenlage stark bewußt ist und sich nicht mehr in Verbeugungen erschöpft. Gottlob, es ist anders geworden und wird noch ganz anders werden. Man wird sich noch darum schlagen, ein Deutscher heißen zu dürfen!«
Willart war aufgesprungen. Seine klugen Augen leuchteten.
»Das ist es, was Sie den Leuten sagen sollen. Das ist es!«
»Ich gedenke ihnen noch mehr zu sagen, Mr. Willart. Ich gedenke sie zu fragen: was ist Heimat? Ist Heimat ein Wort des Stolzes oder der Feigheit? Bringt die Heimat Hammelherden hervor oder freie Männer und Führer des Volkes? Nur wenn ihr euch eures Blutes erinnert, dieses alten Kulturblutes, wenn ihr euch vor keiner anderen Rasse beugt und nicht nur fünfzehn Millionen deutschblütige Menschen, sondern die gesamte Macht mitbestimmender Männer darstellt, werdet ihr achtunggebietend bündnisfähig und kulturbringend sein. Erst dann und nur erst dann werdet ihr in Wahrheit die Heimat gefunden haben.«
Er hatte sich in heiße Begeisterung hineingeredet. Seine Augen strahlten ein jugendliches Feuer aus. Das deutsche Feuer, dachte Fräulein van Weert und hielt die Hände fest um die Knie gefaltet.
Es war still geworden. Und bei einem jeden flatterten die Gedanken wie aufgescheuchte Vögel.
Dann vernahm man Frank Willarts feste Stimme.
»Sie sind unser Mann, Mr. Wegherr.«
»Auf diesem Wege – ja.«
»Mr. Wegherr, wir haben begonnen, einen Bund der Deutschen dieses Landes ins Leben zu rufen. Der Deutschen, denen Amerika eine Heimat werden soll, wie Sie sie malten. Wollen Sie uns helfen, Mr. Wegherr?«
»Mit allen meinen Kräften.«
»Ich wußte es, Mr. Wegherr. Ich wußte es im selben Augenblick, da ich Sie auf dem Berg sah und hörte. Es wird eine anstrengende Arbeit sein und Sie auf längere Zeit dem Familienglück entfremden.«
»Ich habe keine Familie und gebe deshalb kein Glück auf.«
Wegherr sagte es ruhig. Und doch war es wie eine abweisende Gebärde.
Da ging Frank Willart zu Wuppermann und schüttelte ihm die Hand.
»Mr. Wuppermann, ich danke Ihnen, daß Sie uns Ihren Freund gebracht haben.«
»Den Teufel auch,« rief Wuppermann, »nicht im Traum habe ich daran gedacht. Sie holen ihn mir ganz einfach, ohne daß ich als sein Unternehmer überhaupt auch nur gefragt werde. Donnerwetter, da steh' ich wie der Kamerad im Volkslied: ›Ihn hat es weggerissen, als wär's ein Stück von mir!›«
»Nein, er wird der Unsere. Jetzt gerade.«
Wuppermann blickte zu dem Freunde hinüber. Ein Zweifel huschte über sein Gesicht, aber er unterdrückte ihn und meinte gelassen:
»Nun ja, ein Adler bleibt ja ein Adler, auch wenn er mal mit Bruder Lämmergeier fliegt.«
»Sie sind nicht sehr liebenswürdig in Ihren Vergleichen, Mr. Wuppermann.«
»Ich meine natürlich mit Bruder Lämmergeier die Leute außerhalb dieses Zimmers. Ein Mensch wie Wegherr wird bald genug erkennen, fürchte ich, daß er unter hageldicke Böotier geraten ist, denen hundert Cents immer einen Dollar bedeuten.«
»Und ein Mann wie Doktor Wegherr,« erwiderte Willart, »wird die Händler und Wechsler aus dem Tempel treiben.«
»Hoffentlich ist noch jemand drin, wenn die Händler und Wechsler heraus sind,« lachte Wuppermann gemütlich. »Aber es werden sich ja auch manche Heidenvölker zur Taufe bekehren. Wie wäre es im Hinblick darauf mit einem Glase ungetauften Weins?«
»Muß denn zu jeder Gelegenheit getrunken werden?«
»Es muß, Doktor Willart. Wir sind kleine Leute, wissen Sie, die aber auch leben wollen.«
Er ging, um eine seiner berühmten Flaschen zu holen. Und Frau Mary nahm Gertrud van Weerts Hand und sagte leise: »Was ist Ihnen, Kind? Sie sind so still, als ob Sturm in Ihnen wäre.« Da kam Fräulein van Weert aus weiter Ferne zu sich zurück.
Ernst Wegherr war ans Fenster getreten, um sich eine frische Zigarre anzuzünden. Frank Willart war ihm gefolgt.
»Wie lange haben Sie für Ihren Aufenthalt bei Ihrem Jugendfreund angesetzt, Herr Doktor?« fragte er.
»Ich hatte,« antwortete Wegherr, »an keine bestimmte Zeit gedacht. Jedenfalls aber sollten es nur ein paar Erholungstage werden.«
»Gut. Und ich darf Sie inzwischen sprechen?«
»So oft Sie wollen.«
»Ich nehme an, Sie sind marschbereit und, wie man in Deutschland sagt, kriegsmarschmäßig ausgerüstet?«
»Jederzeit klar zum Gefecht.«
»Dann,« meinte Willart, »wollen wir auch keinen Tag länger zögern, als zur Vorbereitung unbedingt notwendig ist. Sobald ich heimgekommen bin, in dieser Nacht noch, beginne ich mit der Organisation. Sozusagen als Ihr Generalsstabschef. Zunächst denke ich mich an die größeren deutschen Vereine und Gesellschaften in all den Städten zu wenden, die in Betracht kommen. Von diesen müssen Sie ›gewonnen‹ werden. Zu einem Vortrag, einer Vorlesung. Natürlich gegen ein entsprechendes Honorar, denn der Amerikaner wertet alles nach dem Preis, den er dafür anlegen muß. Haben Sie die ersten Vorlesungen gehalten und Fühlung genommen, so sorgt die amerikanische Presse für die beste Empfehlung, ich arbeite von hier aus weiter und sende Ihnen die Namen der neuen Städte und Gesellschaften, die sich melden, immer dorthin, wo Sie sich gerade befinden. So werden Sie nach und nach das ganze Land bereisen, von einem Ozean zum anderen, überall das Deutschtum aufsuchen, begeistern und sammeln für den neuen Bund oder doch als Forscher die Spuren dieses Deutschtums aufsuchen und verfolgen.«
»Das ist es, was ich mir wünschte,« murmelte Wegherr, »das beansprucht den ganzen Menschen und läßt keinen Gedanken eigene Wege schwirren. Und glückt es mit der Mission nicht, so soll doch der Geschichtsforscher nicht zu kurz dabei kommen.«
»Die Mission wird glücken,« sagte Willart ruhig. »Tausend führen uns Zehntausend zu. Und zwänge sie nur der Nachahmungstrieb, von dem Fräulein van Weert vorhin berichtete. Rücken Sie nur unbekümmert vor und überlassen Sie mir die Nacharbeit, das Aufräumen, Sichten und Ordnen. Daran soll es nicht fehlen.«
Der Hausherr trat mit einem Kristallteller ein, auf dem er fünf wundervolle Kelche trug. Vorsichtig stellte er sie einzeln auf den Tisch.
»Die schönsten Gläser, die Amerika hervorbringt, meine verehrten Herrschaften. Tiffany-Arbeit. Schauen Sie, wie die Farben leuchten und doch zu einem Schmelze zusammenfließen.«
»Ein Bild Amerikas und seiner Bewohner,« sagte Wegherr bewundernd.
»Und hier,« fuhr der Hausherr fort, »sehen Sie eine Flasche echten deutschen Weines. So gieße ich denn den deutschen Wein in das amerikanische Gefäß und wünsche Ihnen, daß Sie das gleiche vollbringen. Auf daß das Edelste sich dem Edelsten vermähle.«
Die beiden Frauen hatten sich von ihren Kaminplätzen erhoben und waren leisen Schritts hinzugetreten. Frau Marys Blicke hingen in stiller Liebe an den lebenssicheren Zügen des Gatten. Sie nickte ihm zu, und sie verstanden sich.
Sie hoben die schimmernden Kelche, aus denen der reife Wein duftete, vom Tische.
»Ich glaube daran. Das war der Trinkspruch eines Mannes, den die Liebe zu dem Land, in dem er das Edelste fand, zum Dichter machte.«
So tranken sie den deutschen Wein im pennsylvanischen Lande.
Dann nahm Fräulein van Weert Abschied.
»Geben Sie noch fünf Minuten zu,« bat der Hausherr, »ich lasse den Wagen kommen.« Und er ging ans Telephon und sprach hinein.
»Wenn Sie gestatten,« bat Willart, »so benutze ich denselben Wagen zur Bahn. Der Tag hat uns vieles gegeben. Nun ist die Reihe des Gebens an uns.«
Ernst Wegherr hatte sich während des Abschiednehmens an Fräulein van Weert gewandt.
»Sie sind so still geworden. Ich habe es wohl bemerkt, Fräulein van Weert. Weshalb sind Sie unter den Fröhlichen traurig?«
»Das fragen Sie? Das fragen Sie, wo das Leben mit großen Aufgaben auf Sie wartet?«
»Ob es auf mich wartet, weiß ich nicht. Aber ich gehe, es aufzusuchen.«
»Man sagt,« erwiderte Fräulein van Weert hastig, »Erinnerungen machen glücklich. Das Wort trügt. Man soll keine Erinnerungen haben, wenn man auf dem Stänglein im Käfig hockt.«
»Sie denken an Ihren Bruder Jan?«
»Ja! An ihn denke ich. Und an all' die Zeit der Arbeitsseligkeit. Aus der Stumpfheit und Abgestumpftheit heraus.«
»Sie eingefangenes deutsches Wandervögelchen,« sagte Wegherr weich. »Darf ich vor meiner Abreise kommen und nach Ihnen sehen? Oder ist es verboten, in den Frieden des Damen-Colleges einzubrechen?«
Da lachte sie schon wieder.
»Sie müssen mich für ein Trauerfähnchen halten, Herr Professor. Natürlich dürfen Sie. Es wird der ganzen Schule eine Ehre und mir endlich ein Anlaß sein, auch einmal beneidet zu werden. Vielen Dank für den genußreichen Abend.«
Sie reichten sich die Hände, und als sie sich auf der Schwelle noch einmal umwandte, nickte er ihr zu.
»Schwesterchen,« sagte er vor sich hin.
Und vom Fenster aus sah er dem Wagen nach, bis ihn die Dunkelheit aufgesogen hatte.