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2

Sie saßen in der Halle, aus deren hohen, vorhanglosen Fenstern der Blick über das weite, mondbeschienene Bergland schweifte, über das weiß schimmernde Gewoge von Tälern und Höhen. Als ob sie aus einem Adlerhorst lugten in die majestätische Einsamkeit.

Der Stimmaufwand, mit dem die Einführung Wegherrs begleitet worden war, hatte sich in ein lustig durcheinanderschwirrendes Geplauder gelöst. Zu beiden Seiten der langen Tafel saßen sich die Männer gegenüber, und die Tafel war geschmückt mit bunten Herbstblumen und zahllosen Fähnchen, die das Schwarzweißrot der alten Heimat zeigten und die Streifen und Sterne der neuen. Offenen Auges überschaute Wegherr die Versammlung und suchte in den Mienen der einzelnen zu lesen, was bedeutsam war.

Wuppermann saß ihm zur Linken. Er folgte aufmerksam den Blicken des Freundes und gab, während Wirt und Aufwärter die schweren Schüsseln herumreichten und die braunen Rheinweinflaschen auf die Tischplatte setzten, Erklärungen und Beschreibungen.

»Es ist eine alte Sitte,« sagte er, »daß wir uns hier versammeln. Jedesmal am Monatsende. Sozusagen, um uns für den kommenden Monat wieder das Rückgrat zu steifen. Das tat damals, als wir den Kreis gründeten, noch ganz besonders not. Wir waren ungefähr in denselben Jahren in Neuyork an Land gespien worden, Leute von mehr oder weniger Bildung, mit schwererem oder leichterem Herzen, aber alle in einem sich gleich: keinen Dollar in der Hosentasche, verdeubelt knurrende Mägen und den einzigen Wunsch: Durch! Der eine lernte den anderen kennen, ließ sich trösten oder anpumpen, und daraus wurde so eine Art Gemeinschaft. Es ist merkwürdig, wie die Menschen der bedrängten Lagen eine Witterung füreinander haben.«

»Und der Herr dort mit dem glattrasierten, kräftigen Gesicht und den leuchtenden Augen?« fragte Wegherr. »Gehört er auch eurer Brüderschaft an?«

Wuppermann blickte hinüber. »Ich sagte ja schon, du hast noch deinen scharfen Blick. Das ist Frank Willart, den du meinst. In Amerika geboren, aber von deutschen Eltern. Eine Sehenswürdigkeit, wenn du willst. Denn ob er auch als Amerikaner geboren ist und als echter vollwichtig gilt, glaubt er so stark an die Sendung des Deutschtums, wie du es unter den Eingewanderten wenig und in der nächsten Geschlechtsfolge überhaupt nicht mehr findest.«

»Ein fesselnder Kopf. Was will der Mann bei euch?«

»Er kommt schon seit Jahren. Ziemlich regelmäßig. Das Bild wechselt hier nämlich oft und bringt immer neue Gesichter aufs Tapet. Die alten Gründer sind längst über alle Staaten verstreut, finden sich aber immer ein, wenn sie zufällig in der Nähe sind. ›In der Nähe‹ nennt man in Amerika so einige hundert Meilen. Dazu kommen die Neuankömmlinge, die an den einen oder anderen von uns empfohlen sind. Zuerst war es uns heiliger Ernst mit dem Monatsabend. Zusammenhalt und Kräftigung des Deutschtums stand auf unserer Fahne. Na, und dann ging's, wie es immer geht, wenn ein paar Dutzend Deutsche sich zusammenfinden zu löblichem Tun: es wurde ein prachtvoller Kommers daraus.«

Wegherr lachte. »Und deshalb steigt auch Herr Willart auf den Berg?«

Wuppermann legte ihm beschwichtigend die Hand aufs Knie. »Er sieht herüber. Er trinkt dir zu. So ist's recht. Mr. Willart ist jemand, von dem man in der Geschichte dieses Landes noch einmal sprechen wird. Er sammelt einen Bund der Deutschen. Aus höheren Gesichtspunkten und zum Besten Amerikas. Das ist der Grund, weshalb er öfter von Philadelphia herüberkommt.«

»Der Mann gefällt mir,« murmelte Wegherr. »Und der Dicke dort? Neben dem kräftigen jungen?«

»Vater und Sohn Unkelbach. Sie nennen sich ›die letzten Rheinländer›. Erstens, weil sie allein noch weiterkneipen, wenn die sämtlichen Heerscharen um sie herum längst erledigt sind, zweitens, weil sie in guten und bösen Tagen immer gleich fidel bleiben, und drittens, weil Vater und Sohn aneinanderhängen wie Pech und Schwefel. Der Alte kam vor dreißig Jahren ins Land. Weshalb, weiß keiner. Man munkelt, er habe mal einen Freund seiner Frau kurzerhand durch das Fenster geworfen, weil ihm die Haustür für den Kerl zu anständig erschien. Jedenfalls kam er mit nichts anderem als seinem Jungen auf dem Arm vom Schiff heruntergeschritten und hat dann in Amerika so ziemlich alle Arbeiten verrichtet, die einer mit Muskelkraft verrichten kann. Nur für seinen Jung. Und die beiden sind sich wirklich alles: Heimat, Familie, Erinnerung und Hoffnung.«

Ernst Wegherr nickte. Dann nahm er sein Glas und trank dem Alten zu.

»Prosit!« donnerte der herüber. »Scheinen vernünftiger Mensch! Trink mit, Jupp!« Und der Junge schwenkte mit dem Alten zugleich sein Glas.

»Könnt ihr mich nicht auch auffordern, ihr Sackermenters?« schrie ein Hagerer, Sehniger, mit grauem Schnurrbart im ledergegerbten Gesicht, den beiden zu. »Ist das die rheinische Nachbarschaft übers Meer verpflanzt? Jawoll, Nachbarschaft! Wenn ich aus meinen Kleveschen Wäldern herausspuckte, flog's in den Rhein.«

»Aber über die holländische Grenze,« rief der Alte, »und das war Ihr Glück. Trinken wir's herunter, Baron. Prosit! Der Rhein!«

»Das ist eine Figur für sich,« erklärte Wuppermann vergnügt. »Ein Baron von Dachsberg. Woher er stammt, hast du ja gehört. War bodenlos reich und verjuxte so wild sein Geld wie der berühmte Graf von Luxemburg. Mit dem Rest kam er hier an, verjubelte ihn in Neuyork, ging nach Jahresfrist rein abgebrannt nach Virginien als Pferdehüter, von dort mit einigem Ersparten nach Neu-Mexiko und – ist ein großer Pferdezüchter geworden. Eine ganz famose Haut. Und Nummer Eins in seinem Fach.«

Wuppermann sah sich im Kreise um. »Wen nenn' ich dir schnell noch. Der Große dort, früherer preußischer Offizier, nach Amerika abgeschoben und jetzt ein Ingenieur von Ruf. Neben ihm, der mit dem versonnenen Blick, Inhaber einer chemischen Fabrik, vor Jahren Musikdirektor in Sachsen. Sein Nachbar, der Lange, hatte in Württemberg schon seine erste Probepredigt gehalten, mußte jahrelang auf Anstellung warten, ging nach Amerika, verkaufte auf den Straßen Zuckerzeug und fabriziert es nun im großen. Der mit dem Zeuskopf ist ein Professor aus Neuyork, dem in Deutschland das Pedantentum nicht mehr paßte und der hierzuland als Muster eines Schulmeisters wirklich Bedeutendes gewirkt hat. Die anderen Herren kamen meist herüber, um als Kaufleute ihr Glück zu machen oder als Farmer auf billigem Regierungsland schneller zur Selbständigkeit zu gelangen als drüben. Bleibt noch der Aufgeregte übrig, am Tischende. Ein Zeitungsverleger aus einer kleinen pennsylvanischen Stadt, die menschgewordene Empörung, daß sein Käseblatt – nun, meistens für Käse Verwendung findet. Damit könnten wir schließen.«

Wegherr dankte ihm. Doch immer wieder ging sein Blick von einem der Männer zu dem anderen, die sich willensstark aus dem Nichts emporgearbeitet hatten oder daran gingen, sich die Heimstätte zu schaffen. Und es zog ihm durch den Sinn, welche Unsumme an Kräften dem Vaterlande verloren ginge, gewönne man das Beste in ihnen nicht zurück zum Festhalten an deutscher Art.

Die Mahlzeit war zu Ende, die Tafel abgeräumt. Nur Flaschen und Gläser bedeckten noch den Tisch. Und jetzt erst erhob sich der erste Tischredner. Es war der Ingenieur, der vor langen Jahren als junger Mensch abgedankte preußische Offizier.

»Meine Herren,« sagte er, und lautlose Stille trat ein. »Wir haben die Freude, einen deutschen Landsmann unter uns zu sehen, einen Mann dazu, der den Ruhm deutscher Wissenschaft über die Meere trägt. Wir wollen ihn ehren, indem wir Deutschland ehren, wir wollen Deutschland ehren, indem wir unsere Gläser füllen und ausrufen: Es lebe der Kaiser!«

Aufrechtstehend leerten die Versammelten ihr Glas. Und setzten sich nieder.

Seltsam bewegt stand Wegherr am Tische. Ob dieses Hoch von der einsamen Bergkuppe des pennsylvanischen Waldes das Ohr des Kaisers erreichte? Das Hoch seines ehemaligen Offiziers, der sich zu neuer Stellung emporgearbeitet hatte? Geschah es, so müßte es Landesvatergedanken in ihm wecken, Vatergedanken, die den Söhnen gelten, und unter ihnen denen, die der stärksten Liebe teilhaftig werden müssen, den Söhnen, die in der Welt verstreut sind und nicht verloren gehen dürfen, sich nicht verlieren sollen.

»Meine Herren,« begann Wegherr, und die Blicke all der Männer, die nach zäher Arbeit hierherkamen, um allmonatlich sich für ein paar Stunden in die alte Heimat zurückzuversetzen, hingen an seinem Munde. »Ihr hochverehrter Redner hat mir eine doppelte Ehre erwiesen. Indem er mich willkommen hieß, widmete er sein Glas der Heimat, aus der ich komme, und dem Abbild unserer Heimat, dem Kaiser. Ich danke Ihnen für diesen starken Willkommengruß. Durch ein Weltmeer von Deutschland getrennt, darf ich dennoch unter Ihnen sitzen, als säße ich im wärmsten Winkel des deutschen Landes, und wieder einmal erfahren, daß Blut dicker als Wasser ist. Wir sind, was wir schaffen! Und mit Stolz sehe ich mich unter Männern, die trotz Schicksalsschlägen und Wetterstürzen, ja gerade durch sie, Männer geworden sind, die als Vorbilder dienen können, wie man das Leben meistert, willensstark und ohne Bangen, lachend und zähe. Das ist die alte deutsche Art, die sich nicht kümmert um das Achselzucken der Daheimgebliebenen und nicht um das Stirnrunzeln der neuen Umgebung. Männer, die sich durchsetzten, ohne den Humor am Leben zu verlieren, sind vom allerbesten Stoff, selbst wenn in der Jugend der Becher überschäumte. Nie und nimmer ist aus einem Duckmäuser ein Lebensbezwinger geworden.«

Der alte Unkelbach sprang auf. Seine Augen lachten. Seine Kinnbacken arbeiteten, als ob sie ein Wort herausstoßen wollten. Es ging nicht. Und er schlug mit der Hand durch die Luft, trank sein Glas aus und setzte sich.

»Sehen Sie, meine Herren,« fuhr Wegherr fort, »das ist es, was mich unter Ihnen erregt und bewegt. Ich weiß sehr wohl, daß der, der nach Amerika geht, sich nicht in eine deutsche Kolonie begibt. Aber den deutschen Namen tragen sie mit sich und die deutsche Art und bleiben dadurch, wohin sie auch in der Fremde kommen und welches Land das neue Heimatland wird, des alten Vaterlandes Verbündete von Blutes wegen. Mehr als je schieben sich in der Welt die Rassen gegeneinander und aufeinander. Kommt der Tag der großen Auseinandersetzung, den wir sicher nicht herbeiwünschen wollen, kommt er aber, so möge er die germanischen Elemente einig und stark an allen Ecken und Enden der Welt finden, damit das Wort von der Vereinsamung Deutschlands ein Wahn wird. Dann, ja dann, wird der Deutsche unbezwingbar sein. Meine Herren, ich trinke auf das Wohl von Deutschlands Söhnen in der Fremde, deren Liebe stärker ist als jedes Schicksal. Ich trinke Ihr Wohl!«

Er leerte sein Glas und setzte sich.

Es blieb still in der Halle. Keine Hand rührte sich zum Beifall, kein Mund öffnete sich zu einem Bravoruf. Aber der ehemalige preußische Offizier und der wilde Baron, der württembergische Theologe und der sächsische Musikant, die wettergebräunten Farmer und die nervösen Kaufleute, sie alle, die an der Tafel saßen, erhoben sich still, als schäme sich einer vor dem andern, von ihren Stühlen, gingen um den Tisch, schüttelten Wegherr fest die Hand und suchten still ihre Plätze wieder auf. Hinter seinem Sohn kam als letzter der alte Unkelbach. Er ergriff wie die anderen Wegherrs Hand, schüttelte dann den Kopf und zog den Überraschten an die breite Brust.

»Alles, wat recht is,« sagte er, und sein schallender Kuß löste den Bann.

»Gesangbücher her!« schmetterte der ehemalige Musikdirektor in den Jubel hinein. Der versonnene Blick war gewichen. Aus seinen Augen leuchtete die alte Musikantenfreudigkeit. »Wir singen: Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust und lauter Liederklang!«

»Herr Kapellmeister, wie wär's mit: ›Der Graf von Luxemburg hat all sein Geld verjuxt, trallera›?«

»Kommt auch noch an die Reihe. Ehre, wem Ehre gebührt, Herr Baron. Siewünschen, Herr Unkelbach?«

»›Trinke nie ein Glas zu wenig,‹ Herr Kapellmeister.«

»Bereits vorgemerkt. Die anderen Herren brauchen sich nicht zu bemühen. Jedem das seine. Nun? Woran hapert's denn noch?«

Der Zeitungsverleger hatte das Wort verlangt. Der aufgeregte Mann drehte so lange und heftig sein Glas auf der Tischplatte, bis der Kelch vom Stengel sprang.

»Meine Herren,« rief er und tupfte mit der Serviette den Wein von der Weste, »die seltene Erhabenheit der Stunde verlangt doch wohl etwas anderes von uns als die Übungen eines Gesangvereins. Ich will bei Gott nichts gegen Gesangvereine sagen. Die edle Pflege des Gesanges –«

»Ja, was wollen Sie denn sagen?« rief der Baron.

»Herr Baron!«

»Hier!«

»Meine Herren, wir haben soeben beredte Worte gehört. Sie haben gehört –«

»Ja, wenn wir et doch schon mal gehört haben ...«

»Herr Unkelbach senior, mein Prinzip ist, eine gute Sache –«

»Kann man auch zweimal hören. Dat is doch nix Neues. Darum steht ja auch alles zweimal in Ihrer Zeitung.«

»Herr Unkelbach senior« – der aufgeregte Mann nahm das Glas seines Nachbarn und leerte es. »Schön, schön. Da Sie gerade von meiner Zeitung sprechen –«

»Gott sei Dank, et war et Stichwort.«

»Und es soll es bleiben. Kein wahres Deutschtum, keine wahre Kultur, kein – kein – rein gar nichts kann erhalten bleiben, wenn die wahren Träger dieses Deutschtums, dieser Kultur, dieser – dieser – um es kurz zu sagen: nicht die hinreichende und verständnisvolle Unterstützung finden. Ja, ich spreche von der Zeitung. Jeder kann hier mit geringfügigen Mitteln mithelfen, am großen Werk, jeder kann durch ein Abonnement –«

»Wir tun es ja doch nicht.«

»Herr Baron!«

»Wieso denn? Sie kaufen mir ja auch keine Pferde ab.«

Da gab der Kapellmeister das Zeichen.

Und aus den Kehlen der Männer, die sich das Leben um die Ohren geschlagen hatten und den Kampf suchten, wenn er nicht zu ihnen kam, denen nur wohl war in grimmer Schaffenslust, um den letzten Hauch von Heimweh zu betäuben, schallte es jugendselig durch die Halle:

»Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust
Und lauter Liederklang ...«

Ernst Wegherr sang es mit. Wie oft hatte er es als junger Student gesungen. In Deutschland – dazumal. So sorgenlos und heiter, wie wohl der Professor einst, der jetzt seinen Bariton schwelgen ließ, wie der Theologe und Zuckerzeugfabrikant, dem die Erinnerung inbrünstig die Stimme hob, wie der Leutnant, der es einst auf dem Marsch ins Manöverfeld gesungen und gepfiffen hatte, und die anderen alle, die mit roten Köpfen dem Liede ihre Stimme liehen. Der Baron hatte seine Umgebung vergessen. Seine Stimme schrillte. Sie tat keinem weh. Vater und Sohn Unkelbach aber saßen und sangen Auge in Auge:

»Herein, herein, du lieber Gast,
Du, Freude, komm zum Mahl,
Würz uns, was du bescheret hast.
Kredenze den Pokal!«

Und nach jeder Strophe stießen sie kräftig miteinander an.

Und nun folgte Lied auf Lied.

»Wie gefällt es dir?« fragte Wuppermann schmunzelnd den Freund.

»Es tut mir gut.«

»Ja, siehst du, den anderen tut's auch gut. Das ist das große Vergessen im Erinnern. Schau sie dir an. Jeder glaubt, er wär' daheim.«

»Ah, es tut mir so unendlich gut, Georg.«

»Nimm dich vor der Heimatstimmung in acht. Herz in die Hand, feste, du Herzbachstraßensohn. Augen auf. Alles halb so schlimm, wenn man die andere Hälfte abzieht. Hörst du? Da jubiliert selbst der pennsylvanische Zeitungsverleger wie eine Lerche.«

Wegherr lachte schon wieder. »Unsinn,« sagte er. »Wo steckt denn unser guter Wilhelm Finkler?«

»Mr. Will Finkler läßt im Nebenzimmer gerad' einen Drahtbericht über den ›prominenten‹ Besuch des ›prominenten‹ deutschen Historikers Doktor Ernst Wegherr an seine Neuyorker Zeitung vom Stapel. Wir haben hier nämlich Telegraphenverbindung. Bis in die ödeste Einöde. Und Wilhelm Finkler von der Herzbachstraße müßte in Amerika nicht Mister Will Finkler geworden sein, wenn er nicht aus jedem Telegraphendraht Kapital schlüge. Da kommt er. Hallo, Finkler!«

»Hallo, gentlemen. What's the matter

»Sprich Deutsch, Mensch. Du bist hier nicht unter Botokuden.«

»Mein lieber Wuppermann,« erwiderte Finkler und zog sich gemächlich einen Stuhl heran, »die Fabrikation von seidenen Strümpfen scheint mir kein hinreichender Entschuldigungsgrund für sonstige gänzliche Unkenntnis. Die Botokuden, mein Lieber, treiben ihr freundlich Wesen mit allerlei Schießgewehr in den Urwäldern Brasiliens, haben weder von englischer Sprache noch von seidenen Strümpfen die entfernteste Ahnung und radebrechen höchstens ein wenig Portugiesisch. Stimmt's, Doktor?«

»Es stimmt geradezu bewundernswert, Finkler.«

»Ja,« meinte der Journalist gelassen und füllte sich ein Glas, »da redet man von den großen menschlichen Errungenschaften. Es gibt nur eine: das Konversationslexikon. Man braucht nur halbwegs des Lesens kundig zu sein und wird über die staunende Masse der Menschheit emporgehoben. Prosit, Doktor.«

»Und nach der Herzbachstraße erkundigst du dich gar nicht?«

»Sie ist sechzig Schritt lang und zehn Schritt breit. Anzahl der Häuser: vier. Sollte sich das geändert haben? Vielleicht stinkt's nicht mehr so grauenhaft nach dem alten Bach.«

»Riecht's in Amerika besser?«

»Wird nicht behauptet. Aber hier kann ich umziehen, wenn's mir zu toll wird, ohne an meinen Erinnerungen zum Rabenvater zu werden.«

»Wir haben ihn!« schrie Wuppermann und schlug auf den Tisch.

»Mir ist auch so,« meinte Wegherr lächelnd. »Da kam unter dem amerikanischen Dreß ein Stückchen von der alten Haut zum Vorschein. Er hat von Erinnerungen gesprochen. Weißt du noch, Georg, wie er mit der kleinen Marie aus dem ersten Hause jeden Samstagnachmittag zum Botanisieren in die Wälder zog?«

»Donnerwetter,« fuhr Finkler auf, ließ das Einglas aus dem Auge fallen und war ganz bei der Sache. »Die kleine Marie. Das liebe, süße, mollige Ding. Herrgott nochmal, haben wir uns in allen Torbogen abgeküßt. Noch, als ich Student war und sie damals achtzehn. Bis meine in der guten Universitätsstadt Bonn angebundenen Bären so furchtbar brüllten, daß ich als Zwischendecker einem sogenannten ehrenvollen Rufe nach Amerika folgte. Ach Gott, Kinder, die Marie. Was wird sie in all den Jahren ohne mich angefangen haben?«

»Vier reizende kleine Mädels hat sie,« sagte Wegherr, »ich habe sie gesehen.«

»Wa–as?« Finkler hob das Einglas und befestigte es im Auge. »So eine Gemeinheit.«

»Erlaube, lieber Freund, das kleine lustige Mädel hat als Frau ihre Mutterpflichten hervorragend erfüllt.«

Finkler schüttelte den Kopf. »Verstehst du das denn nicht? Diese vier Rangen führen nun die Sammelnamen Müller oder Schulze, und sie hatten die glänzende Aussicht, Finkler zu heißen. Das ist doch wohl ein himmelweiter Unterschied. Und im nächsten Jahre wollte ich hinüber und mir das Mädel holen. Aber hat je ein Mensch gehört, daß Frauenzimmer abwarten können?«

»Lieber Wilhelm, sie ist unterdes Vierzig geworden, geht ganz gewiß nicht mehr botanisieren und liebt die Torbogen nur noch, weil sie für stattliche Personen einen bequemeren Hauseingang darstellen. Sie ist sehr stattlich geworden, wenn es dich tröstet.«

»Gerechter Himmel,« sagte Will Finkler und griff sich an die Stirn. »Vierzig Jahre? Du kannst beschwören, daß sie nicht mehr achtzehn ist? Dann wäre ich ja schon zweiundzwanzig Jahre im Lande Onkel Sams? Wo ist die Zeit geblieben?«

»Nun, nun,« beruhigte Wuppermann, »es gibt ja auch Mädchen in Amerika.«

Finkler sah den Tröster von unten herauf an. »Mein Liebster, vorläufig bin ich noch durchaus nicht unterstützungsbedürftig. Ich bin noch sehr wacker auf den Beinen. So wacker, daß ich immer noch einen prachtvollen Hechtsprung machen kann, wenn das Netz heranschwirrt, um mich zu fischen. Und nun, Gentlemen, eine Bitte: wir wollen den Gegenstand wechseln.«

Quer durch die Halle kam sporenklirrend der Baron. Ein paar der jüngeren Deutschen drängten ihm nach. Nun hatte er die Freunde erreicht. »Erlauben Sie, meine Herren?« Und er setzte sich breitbeinig an den Tisch. »Auf ein Wort, Mister Finkler.«

»Es kommt mir auf eine Handvoll nicht an, Baron.«

»Hören Sie, diese Betbrüder da« – und er wies auf seine Begleiter – »wollen von dannen, weil morgen Sonntag ist. Die Bangebüxen fürchten sich vor ihren frömmelnden Nachbarn im Städtchen. Als ob nicht grad der Sonntag zur Freud' geschaffen wär'! Aber diese tapferen Teutschen müssen natürlich noch amerikanischer sein als die Yankees. Schön. Sind meinethalben Gewissenssachen. Und wenn nicht, geht's mich auch nix an. Aber haste nich gesehen, wie sie sich drücken wollen, setzen sie mir voll christlicher Nächstenliebe einen Floh ins Ohr.«

»Das ist kein Floh, Herr Baron,« verwahrten sich die Angegriffenen. »Der Ex-Präsident hat sich tatsächlich unvorteilhaft über die Regierenden Europas geäußert. Er hat sie doch besucht. Er muß es doch wissen.«

»Ruhe!« donnerte der Baron. »Nix muß er wissen. Natürlich, ihr Grünhörner glaubt, nur den geheiligten Boden Amerikas betreten zu brauchen, um waschechte Republikaner zu sein. Feixt nicht. Das ist die Stelle, wo ich sterblich bin. Bitte, Mister Finkler, Sie sind als Neuyorker Journalist verpflichtet, alleszu wissen.«

Finkler lehnte sich im Stuhl zurück. Mit dem Gesicht eines Diplomaten.

»Da haben Sie nicht unrichtig kalkuliert, Baron. Mein Freund Roosevelt, der Ex-Präsident, war erst kürzlich mit mir zum Lunch. Und zwischen Suppe und Pudding ließ er in seiner bekannten scharfsichtigen Weise die Häupter Europas vorbeimarschieren.«

»Ließ er. Hm. Vor drei Monaten erst war er Gast bei diesen Häuptern. Scharfsichtig beliebten Sie diese Weise zu nennen. Nun, wir wollen über den Ausdruck nicht streiten, obwohl ich einen besseren dafür wüßte.« Und er trommelte kurz und drohend auf der Tischplatte.

Finkler lächelte nur.

»Belieben Sie, mich ausreden zu lassen, Baron. Ich kalkuliere, Sie werden dann anders über den Fall denken. Es ist wahr, der Ex-Präsident nahm kein Blatt vor den Mund. Aber das tun Sie ja auch im vertrautesten Kreise nicht, Baron. Und die Hauptsache war: die Stimmung wurde sehr vergnügt. Da erzählte er zum Beispiel von der Königin von ...«

»Herr, ich verzichte darauf. Alle fremden Könige und Königinnen gehen mich den Deubel an. Was hat er über den Kaiser gesagt?«

Seine Hände ballten sich. In seinem ledergegerbten Gesicht zuckte es ein paarmal auf. Doch Finkler nahm nicht die geringste Notiz davon.

»Mr. Roosevelt meinte« – er sann nach – »richtig, der Ex-Präsident meinte, lediglich Wilhelm II., Deutscher Kaiser, wäre imstande, auch als Präsident von Amerika seinen Mann zu stehen.«

Die Fäuste des Barons schlugen auf die Tischplatte.

»Verdammt, das war Roosevelts Glück.«

Und dann lachte er schallend auf.

»Das ist Roosevelt, ganz Roosevelt, ganz Yankee. Merkt ihr denn nicht, wie er sich selber durch seine ›scharfsichtige› Charakterisierung den Platz Nummer I offen hält? Wie er mit beiden Zeigefingern auf sich selber zeigt und es doch dabei so fingert, als ob er dem ganzen erleuchteten Amerika eine Bombenschmeichelei sagte? Ach, er ist ein Schlauberger, euer Mr. Roosevelt, und ich hab' meine helle Freud' an ihm, weil er euch so niederträchtig richtig einschätzt.«

»Der Kaiser hat auch seine Fehler,« widersprach der eine von des Barons Begleitern.

»Nee,« trumpfte der andere auf, »ein Engel ist er auch nicht, Baron. Das möchten Sie wohl.«

Der Baron klatschte vor Vergnügen auf seine Schenkel.

»Muß es denn gleich in den Himmel gehen? Engel? Cherubim? Und seid ihr verjankisierten Misters Miller und Piper himmlische Heerscharen, ihr Rhinozerosse? Werdet zunächst Deutsche, ihr amerikanischen Betbrüder, das genügt dem Herrgott vollständig!«

»Wir entschuldigen Sie, Baron.«

»Bitte, bitte. Gern geschehen. Na, kommen Sie gut nach Hause.«

»Ach, Doktor,« seufzte er und nahm dankend ein Glas Wein entgegen, »wie schön muß es jetzt in Deutschland sein. So unter dem lieben vierbeinigen Rindvieh oder im Wald oder so ganz glückselig auf gestrecktem Pferderücken hinter der Meute her. Mußte da dieser Nirgendzuhaus Kolumbus Amerika entdecken. Nun soll er's gar nicht mal gewesen sein. Das gönn' ich ihm.«

»Ja,« sagte Wegherr, »Sie haben Recht, es ist nirgendwo schöner. Und Sie könnten das Glück doch haben.«

»Kann ich auch, Doktor, werde ich auch. Als ich vor zwanzig Jahren herüberwechselte, stach mir vor allem die Freiheit und Gleichheit in die Augen. Das, glaubte ich, liegt deinem Temperament am besten. Prost die Mahlzeit. Als ich an dem Freiheitsstandbild vorüberdampfte, in den Neuyorker Hafen hinein, klopft mir so ein alter Wetterkundiger auf die Schulter. ›Da, sehen Sie sich das Ding an, das ist das letzte Stück Freiheit, was Sie hierzulande zu sehen kriegen.‹ Der Mann sprach die Wahrheit. Das ist hier keine Gesetzgebung, das ist eine Gesetzgebungsseuche, in jedem Staat, in jedem Städtchen, die Weiber voran, und wo die nicht wollen, kriegen Sie als ausgewachsener Mann nicht mal 'nen Tropfen Whisky auf die Zunge. Die Gleichheit aber – Herr, verzeih's ihnen – die Gleichheit besteht in der Hauptsache darin, daß jeder Rüpel neben Ihnen seine gottverfluchten Beine über Ihren Tisch legen darf, ohne daß Sie sich nur wundern dürfen. Doktor, ich habe meinem alten Deutschland viel abgebeten.«

»Und haben es doch zwanzig Jahre ausgehalten?« fragte Wegherr.

»Da lag der Knüppel beim Hund. Der Bien' mußte. Rechnen war immer meine schwache Seite. Meine hochgeborene Vetterschaft behauptete sogar: meine schwachsinnige Seite, und versuchte darob, mich unter Vormundschaft zu stellen. Das gelang ihnen nun bös daneben. Tja, und in meiner Vergnügtheit machte ich dann einen Streich, der meine Börse – amerikasüchtig werden ließ. Man hatte Dachsbergschen Familientag angesetzt, im einzigen feudalen Hotel der Stadt, die allen am bequemsten lag. Mich hatte man als räudiges Schaf ausgeschlossen. Ich erhielt tags zuvor Witterung, reiste in der Nacht noch hinüber, lasse mir den Wirt kommen, kaufe ihm innerhalb einer Stunde den ganzen Hotelkram ab, mit gewaltigem Aufgeld notabene, und lasse durch den Hausknecht die ganze Vettern- und Basenschaft, wie sie nacheinander angerollt kommt, hinausweisen. So gelacht hab' ich mein Lebtag nicht. Ich verkaufte dann für die Hälfte, suchte die indianischen Jagdgründe auf, kriegte Geschmack an der Arbeit, spürte langsam den Segen in meine Kasse träufeln, unterhandle nun wegen Rückkaufs meines Gutes im Kleveschen, schlage dann meine Zuchtfarm los und hoffe, in Jahresfrist wieder« – er atmete tief auf, und sein helles Organ war plötzlich wie verschleiert – »daheim zu sein.«

Wegherr reichte ihm wortlos die Hand. Sie wurde mit festem Griff gepackt und geschüttelt. Dann erhob sich der Baron. Er sah älter aus.

»Mr. Finkler,« sagte er und lächelte, »ich appelliere an Ihre deutsche Kameradschaft. Unterschlagen Sie Ihrer Zeitung meine Beichte. Damit mir der Geschäftsabschluß nicht verdorben wird. Der Doktor hier hat so etwas Urheimatliches. Das brachte mich zum Schwätzen. Ich hab' Ihr Wort, meine Herren. Auf Wiedersehen.«

Und er stelzte aufrecht von dannen, suchte seinen Freund Unkelbach auf und rief bald mit Kommandostimme nach einer neuen Flasche.

»Ist und bleibt der alte Husar,« brach Wuppermann endlich das Schweigen. »Schade, daß er geht. Wird uns sehr fehlen. War hier der Sauerteig unter den Selbstzufriedenen.«

»Einseitig, aber vorwärtstreibend,« sagte eine ruhige Stimme.

»Ah, Mr. Willart.« Wuppermann war aufgesprungen. »Schön von Ihnen, daß Sie auch unsere Ecke mal beehren. Sie kennen meinen Freund Doktor Ernst Wegherr?«

»O, ich kenne ihn nicht erst seit heute abend. Und ich rechne mich in aller Bescheidenheit schon seit Jahren zu seinen Freunden. Herr Doktor, nehmen Sie es bitte nicht als eine der landläufigen Artigkeiten. Ich habe mit aufrichtiger Bewunderung Ihre historischen Forschungen verfolgt und mir zunutze gemacht.«

Wegherr hatte sich erhoben. Und Wuppermann gab Finkler einen Wink, die beiden Herren allein zu lassen.

»Es freut auch mich, Sie näher kennen zu lernen, Herr Willart,« sagte Wegherr herzlich. »Mein alter Freund Wuppermann spricht mit ganz besonderer Wärme von Ihnen. Und wenn ich meinen Augen nicht trauen dürfte, dürfte ich seinem Verstand trauen. Würden Sie mir erklären, weshalb Sie den Baron einseitig nannten?«

»Recht gern, Herr Doktor. Ich bitte, Platz zu behalten. So, jetzt plaudert es sich gemütlicher. Sehen Sie, ich habe mir im Laufe der Zeit und meiner Beobachtungen angewöhnt, die deutschen Einwanderer in drei Klassen einzuteilen: die einseitigen, die doppelseitigen und die vielseitigen. Die Vielseitigen verschmelzen sich auf der Stelle. Sobald sie an Land kommen, nehmen sie mit dem Volkstum Sprache, Ausdrucksweise, gute und schlechte Gewohnheiten – besonders aber die letzteren – der eingeborenen Bevölkerung an, um sofort für echt gehalten zu werden. Würden sie nach Afrika gehen, so würden sie sich keine Minute besinnen, Neger zu werden. Menschen ohne Vaterlandsgefühl, ohne Rassestolz, kurz: Abhub der Menschheit. Wenden wir uns von diesen Jammergestalten ab, die jedem Lande, aus dem sie stammen, zur Schande gereichen, obwohl sie sich Kosmopoliten dünken. Die Doppelseitigen sind bemerkenswerter. Sie stellen die Mehrzahl. Sie kommen herüber mit dem festen Willen, gute Bürger der Vereinigten Staaten zu werden, wünschen aber trotzdem ihr Deutschtum aufrechtzuerhalten. Das fangen sie nun meist an der verkehrten Seite an. Sie zersplittern sich in hundert deutsche Vereine und machen, wenn's darauf ankommt, vor dem eingeborenen Amerikaner eine tiefe Verbeugung. Das ist die tiefeingewurzelte deutsche Ehrfurcht vor allem Fremdländischen. Und gerade diese Ehrfurcht weiß der Anglo-Amerikaner überhaupt nicht zu würdigen. Er nimmt sie als Unterwürfigkeit, als Mangel an männlichem Selbstbewußtsein, dünkt sich turmhoch höher, und gerade er, der so stolz auf seine Stammesart pocht, hegt eine stille Verachtung gegenüber jedem Lakaientum. Unter den Doppelseitigen gibt es Ausnahmen, Männer, die den Kopf hoch tragen, die sich die neue Heimat gründeten in dem Bewußtsein, deutsche Kulturträger zu sein. Mit ihnen und den Unzähligen, die sich zu sich selber bekehren werden, wird dieses Land eines Tages rechnen müssen.«

Aufmerksam hörte Wegherr zu. »Und die Einseitigen?« fragte er.

»Die Einseitigen? Ja, wie soll ich sagen, um ihnen gerecht zu werden? Sie finden kein gutes Haar an Amerika, sie bleiben nach zwanzigjährigem Aufenthalt dieselben noch, die sie waren, als sie sich in Hamburg oder Bremen einschifften, sie sehen nur alles das, was dem Amerikaner noch fehlt, um ein eigenes Kulturvolk zu werden, und übersehen das Großartige, was der Amerikaner für die Zivilisation aus dem Nichts geschaffen hat. Da sie aber vor allem ihren eigenen Landsleuten scharf auf die Finger sehen und jede Anbeterei und Nachbeterei mit Hohn und Spott übergießen, so möchte ich sie das kritische Gewissen der Deutschamerikaner nennen. Leider treibt es sie nach Jahren in die alte Heimat zurück. Leider! Denn es fehlt an Sauerteig, wie Freund Wuppermann es soeben richtig benannte.«

»Wie hoch schätzen Sie die Gesamtzahl der Deutschen?« fragte Wegherr aus seinen Gedanken heraus.

»Wenn Sie deutsches Blut meinen, Eingewanderte und im Lande geborene Kinder deutscher Eltern: 15 Millionen und mehr.«

»Welch eine Macht in der Hand eines Führers!«

»Ich denke wie Sie, Doktor Wegherr.«

Beide hatten sie den Blick erhoben. Und klar und ruhig sahen sie sich in die Augen.

»Der Weg, Herr Doktor,« begann Willart nach einer Pause, »kann nur durch deutsche Kultur gewonnen werden.«

»Kultur kann nur von Selbstbewußtsein kommen, Herr Willart.«

»Also gilt es, die deutschen Elemente dieses Landes selbstbewußt zu machen, selbstbewußt im Hinblick auf ihre Rasse, auf die Kulturhöhe dieser Rasse und ihren Weltberuf. Dann erst können sie daran gehen, Hand in Hand mit den germanischen Geschwisterrassen die große Aufgabe dieses Landes zu lösen, mit den englischen, holländischen, skandinavischen Elementen vereint. Erst muß der Yankee Hochachtung lernen, und die gewinnt er nur vor unbeugsamem Willen und ziffermäßigen Tatsachen. Ein politisch Lied. Ich möchte Ihnen den schönen Abend nicht verderben.«

»Nein,« sagte Wegherr, »wie könnten Sie das! Sie, der Sie voller Hoffnung auf eine große Zukunft sind.«

»Das bin ich, Herr Doktor. Und die Tatsachen werden mir einst Recht geben. Werfen Sie einen Blick auf die Einwandererlisten. Wer nicht blind sein will, muß zur Vernunft kommen. Deutschland behält seine Söhne jetzt daheim, bis auf eine nicht mehr in Betracht kommende Zahl. Was uns heute überschwemmt, sind die minderwertigen Bestandteile osteuropäischer und südeuropäischer Völker: Russen, armselige russische Juden, Balkanleute, Italiener. Lassen Sie das noch eine Geschlechtsfolge so fortgehen, bis die Kinder sich mit unseren mischen – was für eine Rasse wird aus den Amerikanern werden? Wie weit wird sich ihre Kultur zurückgeworfen sehen? Wann wird es zu einer eigenen kommen, die mit Stolz die amerikanische heißt? Es stehen uns schwerere Aufgaben bevor, als nur das Land zu erschließen.«

Wegherr nickte. Dann fuhr er auf. Man hatte an der Tafel ein Abschiedslied begonnen. Die letzten Flaschen polterten eilig auf den Tisch.

»Glückliche Menschen,« sagte Willart mit leisem Lächeln. »Die machen sich keine Gedanken über das, was für die Söhne und Enkel sein wird.«

»Und wir sitzen hier wie die Verschwörer,« lachte Wegherr. »Kommen Sie, wir wollen heute zu den anderen gehören. Eine Mondnacht lang, eine Mondnacht auf pennsylvanischen Bergen, weg mit den Grillen und Sorgen.«

Eine Stunde noch saßen sie in der überlustigen Runde, jungen Studenten gleich. Bis sich der Zeitungsmann aus der pennsylvanischen Kleinstadt noch einmal vom Stuhl erhob.

»Meine Herren,« begann er, »meine Herren, Sie lassen die Dollars rollen. Wofür? Ich sehe scharf, für geistige Getränke. Was der Kehle recht ist, ist der Seele billig. Ein Abonnement auf meine Zeitung, ein Probeabonnement –«

Der Baron hieb auf den Tisch.

»Und ich tu's nicht, und wenn Sie mir 'nen Dahler zulegen.«

Und was noch zu reiten vermochte, stieg unter brausendem Gelächter in die Sättel.


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