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Um die zehnte Morgenstunde trat Ernst Wegherr, erfrischt und erwartungsvoll, aus seinem Zimmer. Und gleich warf sich eine frohe Sonntagsstimmung auf sein Herz. Da kauerten vor seiner Tür vier junge Menschlein, die den Morgenschlaf des fremden Onkels bewacht hatten und den Freund des Vaters stumm, aber mit leuchtenden Augen begrüßten.
»Ei, das nenne ich aber einen schönen Morgengruß. Ihr seid ganz gewiß die Brüderlein und Schwesterlein Wuppermann?«
Der achtjährige Älteste übernahm die Vorstellung.
»Ich bin der Bill, und das ist der Will, und die da ist die Cary, und die da ist die Mary.«
»Das werde ich mir merken, ihr Brüderlein und Schwesterlein.«
»Eigentlich,« fügte Bill hinzu, »sind nur ich und Cary ganz richtig Bruder und Schwester.«
»Wie ist denn das möglich, mein Junge?«
»Ich und die Cary sind doch Zwillinge. Die anderen sind nur später so dazugekommen.«
»Ach,« machte Wegherr ernsthaft, »an diese feinen Unterscheidungen werde ich mich noch gewöhnen müssen. Aber sagt doch mal, wie lange sitzt ihr denn schon hier auf der Treppe?«
»Seit sieben Uhr. Wir wollten doch die ersten sein.«
»Dann kommt doch noch mal mit in mein Zimmer. Eine Ehre ist der anderen wert!« Und die Kinder drängten lachend nach. »Seht ihr, die Koffer waren schon eher da als der Onkel. Und nun hebt mal diesen Deckel auf. Aha, ihr habt Kräfte. So, da liegen vier Pakete Schokolade und Zuckerzeug. Für wen mögen die da wohl liegen?«
»Für uns!« schrien die vier Stimmchen.
»Wahrhaftig,« staunte Wegherr, »ihr könnt raten! Drauf! Holt sie heraus!«
Und vier schlanke Menschenkörperchen lagen über dem Koffer.
Dann traten die Knaben vor und reichten die Hand. »Danke, Onkel. Wie heißt du?«
»Onkel Ernst.«
»Ernst? Du bist aber doch so lustig?»
»Ein Onkel mit Schokolade ist immer lustig, auch wenn er Ernst heißt.«
Das leuchtete den Kindern ein, und nun traten die Mädchen vor, stellten sich auf die Zehen und streckten die Mäulchen zum Kuß. Ernst Wegherr küßte sie und auch die Knaben. Ihm war so wohl zumute wie seit Jahren nicht. »Wir werden gute Freunde sein, was, Kinder?«
»Das sind wir schon, Onkel,« sagte Bill und lockerte die Bindfäden seines Paketes. Und Will entnahm aus der neuen Freundschaft sofort das Vorrecht der Vertraulichkeit und fragte flüsternd: »Hat der Papa, als er klein war, auch alsmal Haue gekriegt?«
»Aber, aber!« sagte Wegherr verwundert. »Du kriegst doch sicher keine.«
Da schwieg der kleine Kerl beschämt, versicherte sich durch einen hastigen Rundblick, daß Bruder und Schwestern nichts von seiner Flüsterfrage aufgefangen hatten, und brachte im Verein mit den dreien den Onkel im Triumph die Treppe hinunter, auf die Diele. Dort stand stark und selbstsicher Georg Wuppermann, den Arm um eine junge Frau mit frohen, ernsten Augen gelegt.
»Da hast du ihn, Mary. Das ist Ernst Wegherr, mein ältester und liebster Freund.«
»Es könnte mir keiner in diesem Hause so willkommen sein, als Sie es sind, Herr Doktor.«
Sie sprach das Deutsche mit englischem Tonfall. Wegherr hörte es nicht. Er hörte nur den gütigen Klang der Stimme, sah nur den klaren Blick der Frauenaugen, der lächelnd von ihm zu dem Freunde hinüberschweifte, und spürte den festen Druck der Hand.
»Ich danke Ihnen von Herzen,« erwiderte er. »Kindheitsfreundschaften sind die festesten im Leben. Daher bin ich auch so eilig der Einladung Ihres Mannes gefolgt.«
»Sie machen ihm eine große, große Freude, Herr Doktor, und daher auch mir.«
Wuppermann trat herzu. Den Stolz darüber, daß die beiden sich gefallen hatten, las man von seinem Gesicht. »Wie hast du geschlafen, Ernst?«
»Vortrefflich. Ich wüßte nicht, wann ich je so tief geschlafen hätte.«
»Und die vier Rangen haben dich nicht gestört? Was? Onkels Koffer habt ihr schon geplündert? Frau, der Ernst Wegherr ist hier unter die Räuber gefallen. Laß das Frühstück kommen, damit wir ihn und uns beruhigen.«
Die Kinder durften in den Garten. Sie hatten ihr Frühstück schon um sieben Uhr eingenommen und mußten sich bis zum Lunch gedulden. Auch schien ihnen das Öffnen der Pakete in geschütztem Gartenwinkel augenblicklich unterhaltsamer. Sie verschwanden, ohne sich zweimal bitten zu lassen. Draußen schien hell die Sonne des indianischen Sommers.
Ein weißgekleidetes Mädchen deutscher Herkunft bediente. Es wurden frische Früchte gereicht, die den Appetit anregten. Eine Schüssel Maisbrei folgte. Eier mit gebratenem Speck, Brot, Butter und Kaffee machten den Beschluß.
Man saß beisammen, als gehöre der Gast längst der Familie an. Man besprach den vergangenen Tag und alle Erlebnisse, die Freuden und Leiden der Kinder, die Arbeiten der kommenden Woche und gab sich doch bei jedem Wort der stillen Wonne des arbeitsfreien Sonntags hin. Nach beendetem Frühstück begab sich die Hausfrau in die Küche, um nach dem Rechten zu sehen, und die Herren zündeten sich eine Zigarre an und ergingen sich im Garten. Sie sprachen nicht viel. Sie atmeten tief die sonnige Luft, blieben vor jeder Herbstblume stehen, horchten auf den herüberschallenden Jubel der Kinder und nickten sich zuweilen lächelnd zu.
»Sonntagsruhe« ... sagte Wuppermann.
»Wie daheim, wenn unsere Alten sich die Pfeifen stopften und sich mit der Zeitung ins Freie setzten.«
»Wart, ich hab' die Zeitungen in der Tasche. Aber selbstverständlich.«
Und sie lagen auf langgestreckten Rohrstühlen in der Sonne, lasen, rauchten, zwinkerten wohlig ins Licht und warfen sich nur hin und wieder eine Frage und eine Antwort zu.
»Ausspannung,« sagte Georg Wuppermann. »Wer weiß heute noch, was Ausspannung ist? Und der Mensch braucht sie wie das tägliche Brot.«
»Ich lerne auch das wieder, Georg. Bei uns nennt man Ausspannung: das Treiben auf einem anderen Feld beginnen.«
Und wieder lagen sie still, atmeten tief und ließen sich von der Sonne bescheinen. Die Zeitungsblätter knitterten leise, der Rauch der Zigarren stieg in Kräuseln hoch, im Gebüsch raschelte ein Vogel, und ein Lufthauch wehte den Klang der Kinderstimmen herüber.
Am Lunch nahmen auch die Kinder teil. Die Hausfrau saß in hellem Kleide zwischen dem Gast und ihrem Mann, und dem Hausherrn lag das Amt des Vorlegers ob. Er füllte die Teller und reichte jedem das seine. Patriarchalisch wie zu Zeiten der ersten Einwanderer. Als er Wegherrs Blick gewahrte, schmunzelte er.
»Das findest du noch in den meisten Kreisen, und es hat was für sich. Zunächst zeigt es den Mann als das Haupt der Familie – lächele nicht, meine liebe Mary, es ist so – zweitens nimmt es der vom Haushalt ermüdeten Frau eine Arbeit ab, denn Dienstboten waren rar und sind es heute noch, wenn du keine Meinung für Nigger hast, und drittens setzt es der falschen Bescheidenheit ein Ziel, die nicht zuzulangen wagt. Hör mal, mein lieber Bill, an deines Vaters Tisch wird Deutsch gesprochen.«
Der Junge, der sich mit seinen Geschwistern englisch unterhalten hatte, errötete, brach den Satz ab und führte ihn dann in deutscher Sprache zu Ende.
»Er geht nämlich seit zwei Jahren drüben im Städtchen zur Schule,« erklärte der Hausherr. »Und von Stund an herrscht das Englische. Bestenfalls, wenn die Eltern Zeit und Lust haben, darauf zu achten, das Zweisprachige. Es ist ein Krebsschaden für die Weiterentwicklung des Deutschtums. Aber die Schulen sind nun mal so.«
»Und da sollte nichts zu machen sein?«
»Wir sind in Amerika, und die Landessprache ist Englisch. Das zieht den Deutschen selbst dort, wo er sich in der Überzahl befindet, an wie Fliegenpapier. Ich lege hier noch einen Hebel vor.«
»Und was sagt euer Frank Willart dazu?«
»Er kommt morgen abend von Philadelphia herüber. Da frag ihn lieber selber. Ihr seid gescheiter als ich.«
Die Hausfrau sah zum Gast auf. »Nicht wahr, ich habe einen sehr dummen, deutschen Mann.«
»Der Papa ist ein Schlauberger!« schallte es von der Tischecke.
»Ruhig, ihr Rangen! Wer hat das gesagt?«
»Der Großvater. Er sagte erst in voriger Woche zu einem Gentleman: Dieser Mr. Wuppermann steckt euch noch alle zusammen in die Tasche, denn er ist ein Schlauberger, der über seine und eure Nase wegsieht.«
»Aber ich sehe eine, und das ist eine Weisnase,« drohte der Vater, und die Kinder jubelten vor Vergnügen.
An diesen amerikanischen Sonntag dachte Ernst Wegherr lange noch. Es kam nichts vor, das von einer besonderen Bedeutung für sein Leben hätte sein können, und doch blieb dieser friedevolle Tag ihm in der Erinnerung wie der Duft einer Blume.
Man war mit den Kindern in den nahen Wald gegangen und hatte nichts Anderes getan, als sich an ihrem Kräfteüberschwang und ihren lustigen Einfällen ergötzt. Man hatte sich auf einen Hügel gelagert und die Aussicht genossen, wie man ein stimmungstiefes Bild genießt. Und auf dem Heimweg war Wegherr neben der Hausfrau einhergeschritten, während der Freund mit den Kindern singend voranzog. Familienglück, dachte Wegherr, nichts weiter. Und doch die Quelle der Kraft.
»Ich habe mich sehr auf Sie gefreut, Mr. Wegherr,« sagte die Frau an seiner Seite. »Es war nicht nur mein Mann.«
»Das ist ein Wort, Frau Wuppermann, das mir Ihre Gastfreundschaft doppelt lieb macht.«
Die junge Frau sah ihn an. »Sie müssen sich bei Georg und mir nicht als Gast fühlen. Wenn es möglich wäre, daß Sie könnten, würde ich Sie bitten: bleiben Sie überhaupt hier oder siedeln Sie sich in der Nähe an. Wenn es möglich wäre, daß Sie sich einen anderen Lebensberuf wählen möchten, würde ich sagen: werden Sie Georgs Teilhaber. Es würde ihn sehr glücklich machen, und was ihn glücklich macht, schenkt er mir und den Kindern. Aber alles das ist ja nicht möglich. Sie werden eines Tages weiterreisen, und Sie hängen an Ihrem hohen Berufe. Und doch gibt es etwas, das Sie mir mitgebracht haben, mir ganz allein, und dafür danke ich Ihnen.«
»Was könnte das sein, gnädige Frau?«
Die junge Frau ging mit ihren ernsten, freundlichen Augen eine Weile still an seiner Seite.
»Wir Mädchen und Frauen hierzulande sind nicht empfindsam,« sagte sie dann lächelnd. »Wenn uns ein Mann gegenübertritt, so fragen wir, wer er ist, nicht woher er ist oder was er war. Das ist ja auch wohl natürlich bei den hundert Völkerschaften, aus denen der Amerikaner wird. Nur der Mann, der aus sich selber heraus etwas schafft, nötigt uns Achtung ab. Herkunft und Vergangenheit rühren kaum an unseren Gleichmut. Und mit diesen Empfindungen sah ich auch Mr. Wuppermann an, als er das erstemal zu uns kam, mit diesen Empfindungen wurde ich gern seine Frau. Und dann kam das Merkwürdige.«
Sie sah zu ihrem Begleiter auf. »Langweile ich Sie auch nicht, Mr. Wegherr? Meine Welt ist nicht groß.«
Er schüttelte den Kopf.
»Das Merkwürdige,« wiederholte sie. »Das Wesen dieses Mannes war so stark und unverzagt, so deutsch, wenn Sie wollen, daß das meine in allerkürzester Zeit aus dem amerikanischen Gleichmut erwachte, aufhorchte, ihm nachging und sich ganz nach ihm wandelte. Und so stark wurde das, besonders als die Kinder kamen, daß ich begann, mir auszumalen, wie er selber wohl früher, wie er als Kind und junger Mann gewesen sein mochte. Es fehlte meiner Liebe etwas, daß sie das nicht wußte, und sie hätte sich so gern auch in diesen Jugendgärten ergangen. Wohl erzählte er mir davon, oft und oft, aber mit Amerika fängt doch ein neues Leben, ein neuer Mensch für jeden an. Alles Frühere wird ihm ein nebelhafter Traum. Da sind Sie gekommen, sein Jugend-, ja, sein Kindheitsfreund, der so ziemlich allein für ihn die alte Heimat bedeutete. Und wenn ich Sie beide nun miteinander sprechen und miteinander lachen höre, sehe ich Georg plötzlich als kleinen Jungen auf seiner Herzbachstraße, denn ich sehe Sie, von dem er immer im selben Atem sprach, in Wirklichkeit vor mir als den lebendigen Zeugen. Nun wissen Sie, weshalb ich mich so auf Sie gefreut habe und was Sie mir mitgebracht haben. Es ist eine sehr selbstsüchtige Freude, ich weiß es.«
Mein Gott, dachte Wegherr, so etwas gibt es? So weit läuft eine Frau den Weg des Mannes zurück, um auch an dieser Wegstrecke ihren Teil zu haben? Und statt erbittert der eigenen Erfahrungen zu gedenken, ging es wie eine Woge ungeahnten Glückes durch ihn hindurch, und er wurde redselig wie zu einer alten Freundin und ließ die Gestalt des kleinen, kernigen Schmiedejungen vor ihren Augen erstehen, fern dem trennenden Tag, fern dem trennenden Weltmeer, und doch stand sie da, als sei sie heute, als sei sie greifbar nahe, und die Erzählungen von des Knaben Georg jungem Mute, seinen Straßenheldentaten, seiner derben Liebe zum Vater und seiner Treue zum Freunde, seiner Schulzeit und Lehrzeit sprudelten ihm fröhlich von den Lippen. Längst hatten die Augen der jungen Frau an seiner Seite den stillen Ernst verloren, längst waren sie leuchtend, mädchenhaft geworden, und oft flog ein helles Lachen in seine Schilderungen hinein. Da lag das Landhaus, in Frieden eingebettet. Jenseits des Gartens durch einen doppelten Baumwall von den Fabrikgebäuden getrennt. Beides ein Reich für sich. Und die junge Frau wies darauf hin und sagte: »Das hat er geschaffen. Das ist er!« Und reichte dem Freunde die Hand und sagte wieder: »Diesen Festtag aber danke ich Ihnen.«
Vor dem Gittertor aber standen in zwei Reihen aufgepflanzt die Kinder und grüßten militärisch. Und der Vater stand stramm als Offizier und meldete: »Ein Vater und vier Kinder, hungrig wie die Wölfe.« Da lief Frau Mary in die Küche, und bald rief der hallende Klang des Gongs alle, die in ihre Stuben geeilt waren, um sich aufzufrischen, zum Dinner in das Speisezimmer.
Es war ein festliches Mahl, und die Augen der Kinder wurden größer und größer. Die Hausfrau hatte noch Zeit gefunden, ein neues Gewand anzulegen, und die Kinder wußten nicht, ob sie mehr ihre strahlende Mutter oder die ungewohnte Speisenfolge bewundern sollten, entschieden sich aber schnell und einmütig für das letztere. »Ohm Ernst,« erklärte Bill, »du mußt lange hierbleiben. Weißt du, so fein haben wir's nicht alle Tage.«
»Deutscher Wein,« sagte Wuppermann, und die Gläser der Erwachsenen läuteten durch das Zimmer. »Geradenwegs aus dem Rheingau und selber bezogen. Der kalifornische ist eine Greueltat. In Amerika ist eben alles verdreht. Die Vögel singen nicht, die Blumen duften nicht, und der Wein – riecht. Na, prost, dieser hat Blume und duftet, bis wir statt der Vögel das Singen kriegen.«
Aber es wurde zuvor ein anderes Lied.
Als das Mahl sein Ende erreicht hatte, erhob sich die Hausfrau und ging leisen Schrittes ins Nebenzimmer. Und bald ertönte ein Harmonium in der Melodie eines alten Kirchenliedes, eines schlichten Dankgebetes. Stehend sangen es die Kinder mit. Ein wenig verlegen blickte Wuppermann auf den Freund. Der aber erhob sich ruhig und nahm an dem Gesange teil. Da schob auch der Hausherr schnell den Stuhl zurück und ließ kräftig seinen Baß erschallen.
Die Kinder waren noch ein Stündchen in den Garten gelaufen. Nun tauchten sie, eines nach dem anderen, schlummermüde wieder im Zimmer auf, und die Mutter nahm sie bei der Hand und führte sie zum Gutenachtgruß dem Gast und dem Vater zu. Sie selber ging mit ihnen hinauf, um sie zu Bett zu bringen.
Die Freunde saßen allein. Als Wegherr den Kopf hob, spürte er den Blick Wuppermanns auf sich ruhen. Wie eine stumme Frage.
Da erhob er sich, ging zu ihm hin und legte ihm beide Hände auf die Schultern.
»Georg,« sagte er, »daß bei dir das Heimweh geschwunden ist, das verstehe ich nun. Denn du hast deine Frau. Diese Frau.«
»Soll ich das als einen Glückwunsch nehmen?«
»Als einen Glückwunsch. Du hast Wurzel geschlagen.«
»Ein Restchen Heimweh bleibt uns immer.«
»Ja,« sagte Wegherr, »aber das ist anderer Art. Das verlangt nach Dingen, die unwiderruflich dahin sind. Das träumt von der Kinderzeit im elterlichen Schutz, von der Jugend in erster Freiheit, und die Erinnerung gibt allem die leuchtenden Farben. Deine Kinder führen ganz sicher ein besseres Leben, als wir es führten. Und doch ist uns zumute, als ob gerade unsere Kindheit die allerschönste gewesen wäre.«
»Du magst Recht haben, Ernst. Aber wir waren doch auch ganze Kerls.«
»Deine Kinder werden ganz genau so von sich selber denken. Besonders wenn sie einen Streich vollbracht haben, den der Vater vielleicht weniger schätzt. Da lachst du schon. Nein, Georg, die Jugend bleibt sich zu allen Zeiten treu, nur wir ändern uns.«
Ein Weilchen noch, und die Hausfrau kam zurück.
»Die Kinder schliefen schon,« berichtete sie, »als sie nur die Betten sahen. Aber den Onkel ließen sie doch noch einmal grüßen.«
»Wollen Sie nicht noch ein wenig Harmonium spielen?« bat Wegherr. »Der Sonntag hat so eine Art Harmoniumstimmung.«
»Wenn es Ihnen Freude macht, gern, Herr Doktor.«
Aus dem Nebenraum drangen die leisen, getragenen Klänge. Sie schufen das Zimmer in einen Andachtsraum um und machten aus kämpfenden Menschen Gläubige. Gläubige an eine Zukunft, die sie nicht sahen und doch warm verspürten. Jetzt klang es wie aus fernem Jugendland, als spielte die Orgel eines Dorfkirchleins, jetzt schwoll es an zu leidenschaftlichem Anrufen an den unsichtbaren Gott und die sichtbare Welt, als ränge eine Mannesseele mit den Stürmen drinnen und draußen, jetzt aber vereinigten sich die Klangwogen zu einem Siegessang voll tiefer Dankbarkeit, zu einem Erlösungslied voll Hoffnungsseligkeiten, und eine klare Frauenstimme setzte ein mit den Worten des Psalms:
»Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch Deine Hand daselbst führen und Deine Rechte mich halten.«
Und die Männer saßen noch lange und sannen den Klängen nach ...
An diesem Abend wußte keiner mehr von Heimweh.
In der Morgenfrühe fuhr Ernst Wegherr aus tiefem, traumlosem Schlaf empor. Schwamm er noch auf dem Ozean? Heulten die Schiffssirenen durch den Nebel hindurch? Er sprang auf die Füße und sah das Morgenlicht durch die Fensterbehänge schimmern. Da wußte er es. Wuppermanns Fabriken begannen ihre Wochenarbeit.
Eine halbe Stunde später traf er den Freund auf der Diele. Sie begrüßten sich mit einem munteren Wort und setzten sich an den gedeckten Frühstückstisch. Da brachte auch schon die Hausfrau die Kinder.
Heute ging das Frühstück flott vonstatten. Der kleine Bill hielt noch eine Toastscheibe in der Hand, als er schon den Ranzen umwarf und mit kurzem Gruß hinausstürmte, zur Schule im Städtchen. Auch Wuppermann erhob sich bald und ließ sich von einem Töchterchen Hut und Stock reichen. »Willst du meiner Frau Gesellschaft leisten, Ernst?«
»Zum Feierabend. Jetzt möcht' ich mit dir in die Fabrik.«
»Recht so. Die Maschinenkolben haben auch ihre Musik. Bis nachher, Frau – adschüs, Kinder.«
Sie waren draußen in der frischen Morgenluft. »Ach,« sagte Wuppermann, »da springt einem das Herz vor Freud' bis in den Hals.« Und er sog mit geblähten Nüstern die Luft ein.
Sie überschritten den Hof der Maschinenfabrik, der voll dröhnenden Lebens war, durchquerten die Kontore der Schreiber und Zeichner, wünschten einen guten Morgen und verschwanden im Privatkontor. Die Post lag aufgeschichtet auf dem Tisch, und sofort machte sich Wuppermann darüber her. »Setz dich, Ernst, kannst mitlesen. Rauchen gestattet.« Und schon fuhr sein Falzbein durch die Umschläge. »Gut, könnt ihr haben. Sehr gut, sehr gut, Arbeit kann mir gar nicht zu dick kommen. Was? Beschwerden? Fauler Zauber. Preisdrückerei is nich, und Ausstellungen werden nur innerhalb vierzehn Tagen nach Empfang der Maschinen entgegengenommen.« Er drückte auf einen Klingelknopf. Ein Schreiber erschien in Hemdärmeln. Wuppermann diktierte: »Telegramm an Hawkins Brothers, St. Louis. Bitte beanstandete Maschine innerhalb acht Tagen frachtfrei zurücksenden. Neulieferung erst in sechs Monaten möglich wegen Orderüberhäufung. So. Firma darunter. Weg damit.« Der Mann verschwand.
»Könnte der Maschine nicht auf der Reise etwas zugestoßen sein?« fragte Wegherr.
»Keine Spur. Alle Teile werden wie die Wickelkinder verpackt. Und wenn schon. Kostet einen Schlossertagelohn von vier Dollar meinetwegen, und mir wollen die Halunken zweihundert Dollar in Abzug bringen. Die denken: nur immer riskieren, und ich denke: bange machen gilt nicht, das ist der ganze Unterschied.«
»Und wenn du den Kunden dadurch verlierst?«
»Keine Ahnung. Den Spitzbuben imponierst du nur durch Kaltblütigkeit. Dann glauben sie, ich brauch' sie nicht. Sie aber brauchen meine Maschinen. Besonders wenn sie von einer Wartefrist wegen Orderüberhäufung lesen. Dann kriegen sie's mit der Angst, die Konkurrenz würde leistungsfähiger.« Er las während des Sprechens Brief um Brief. »Ist es aber ein Hartgesottener – was kauf' ich mir dafür? Ein Kunde, der schlecht bezahlt, hält den Betrieb auf. Hier in Amerika bringt's nur die Masse.«
Er schlug auf den Briefstapel. »Fertig. Nun wollen wir das Raubtier füttern.«
Sie gingen in das Kontor der Schreiber zurück. Einen Augenblick wurde es stille. Wuppermann schritt von einem zum anderen, verteilte mit kurzen Bemerkungen einen Teil der Briefschaften, und sofort ratterten die Schreibmaschinen wieder los, kratzten die Federn, klingelte das Telephon.
Welch ein Wirrwarr, dachte Wegherr, und Wuppermann erwiderte, als hätte er des Freundes Gedanken erraten: »Wird alles pünktlich besorgt. Zuviel Anweisungen machen den Menschen dumm. Mach sie glauben, sie wären lauter Moltkes, und sie gewinnen dir die Schlachten.«
»Du bist ein Diplomat, Georg.«
»Ganz Amerika besteht daraus. Das ist der Fehler drüben. Während die Kaufmannsjünglinge hier schon jedes Börsenmanöver mitmachen, registrieren sie drüben noch treu und redlich, aber stark verdummend, die Kopierbücher. Dabei ist das Menschenmaterial drüben mindestens so gescheit und unbedingt gewissenhafter.«
Sie waren im Saal der Zeichner angekommen. Und wieder ging Wuppermann von Tisch zu Tisch, verteilte die Briefschaften, machte auf besondere Stellen aufmerksam und gab knapp und bestimmt seine Anweisungen. Einen größeren Entwurf betrachtete er aufmerksam, und nach kurzer Beratung nahm der Zeichner eine Änderung vor.
»Du bist doch kein Techniker,« meinte Wegherr, als sie zur Maschinenhalle schritten. »Woher weißt du das alles?«
»Ich hab's gelernt.«
»Aber der Techniker mußte es eigentlich doch besser wissen?«
»Woher denn? Der Mann hat's doch auch lernen müssen. Und mehr als lernen geht nicht. Da stehen wir gleich.«
»Fürchtest du nicht, daß du mal danebenhaust?«
»Wenn die Gesellschaft merkte, daß ich mich fürchtete, tanzte sie mir bald auf der Nase herum. Sie müssen einfach das Empfinden haben, daß ich es besser verstehe. Dann strengen sie auch selber ihre Schädel an.«
»Meine Bewunderung, Georg.«
»Nicht der Rede wert. Nur vorwärts heißt hier die Losung, und was links und rechts fällt –«
»Das fällt.«
»Ja, das fällt. Und das ist das einzig Scheußliche: das Menschenleben hat hier keinen Kurs auf der Geschäftsbörse. Freilich, einen Ausgleich gibt es. Jeder Niedergebrochene, der gestern noch eine Million besaß, kann morgen als Hausknecht mit zehn Dollars die Woche von neuem anfangen, ohne deshalb gesellschaftlich minderwertig zu werden. Denn der Mann kann ja, wenn er mit seinen zehn Dollars glücklich spekuliert, in Jahr und Tag wieder im Aufsichtsrat einer Minengesellschaft sitzen. Da gibt's kein vornehmes Sichabwenden und Naserümpfen wie drüben. Wer arbeitet, ist Gentleman. Ob er Bier zapft oder Maschinen baut.«
Im Maschinensaal hörte die Unterhaltung auf. Das Gedröhne, Gezische, Geknarre der Hämmer, Feilen und Stahlbohrer verschlang jedes Wort. Aber Wuppermann wußte sich dennoch verständlich zu machen. Er rief keinen Mann beiseite, er beugte sich nur über den ruhig Weiterarbeitenden, legte ihm die gehöhlte Hand ans Ohr und brüllte hinein. Dann legte er sich selber die gehöhlte Hand ans Ohr und ließ den Angerufenen zurückbrüllen, ohne daß der Mann auch nur eine Sekunde sein Werkzeug niederzulegen brauchte.
» All right,« schrie Wuppermann lachend dem Freunde zu, »wir können weiter. Nicht verstanden? Schadet auch nix.« Und er nahm ihn beim Arme und führte ihn über Eisenstangen und Zahnräder hinweg in den Hof. »Taubstumm geworden? Das ist zuzeiten Gold wert. Ich bin's auch, wenn's das Geschäft verlangt.«
»Ich glaube eher,« verwunderte sich Wegherr, »ich sehe nicht recht. Sitzt da nicht Wilhelm Finkler?«
»Hallo, Finkler,« rief Wuppermann. »Was in der Politik los? Hast du einen Tip für mich? Halbpart wie immer!«
Will Finkler saß, das Einglas im Auge, auf einem umgestülpten Dampfkessel und schälte einen schönen kalifornischen Apfel.
» Morning, Gentlemen. Bin nur ein bißchen auf Urlaub. Kein Grund zur weiteren Beunruhigung.«
Er zerschnitt den Apfel und aß ihn Stück um Stück. »Freilunch gefällig?«
»Nee, mein Sohn,« sagte Wuppermann und schüttelte ironisch den Kopf, »das mach du einem Grünhorn weis, daß du dich urlaubshalber sehen läßt. Ja, wenn du für den Urlaub bezahlt kriegtest.« Und er lachte ungezwungen.
Finkler war mit dem Apfel zu Ende. Er nickte Wegherr zu und meinte gleichmütig: »Wollte nur sehen, Doktor, ob dieser Moloch Wuppermann dir noch nicht auf die Nerven gegangen wäre. War nicht sehr freundschaftlich von mir, dich mit diesem Dollarmenschen allein ziehen zu lassen. Dachte, ich hole dich wieder nach Neuyork, unter Intelligenzen.«
»Glaub ihm kein Wort,« rief Wuppermann. »Sein Hirn ist eingetrocknet. Er will dich in Neuyork zu mindestens zwei Dutzend Zeitungsartikeln einschlachten. Über Politik, Kultur, Volkswirtschaft, historische Persönlichkeiten. Ein Historiker wie du wäre für ihn ein gefundenes Fressen.«
»Vielleicht will er nur noch einiges von der Jugendgeliebten vernehmen, Georg. Er ist ein weicherer Mensch, als du denkst.«
Finkler winkte energisch ab.
»O, ich bitte dich, Doktor. Nichts mehr von diesem Weib. Es widerspricht meinem guten Geschmack. Aber wenn du mir fünf Minuten deiner Zeit opfern willst –«
»Finkler,« sagte Wuppermann und trat einen Schritt näher, »wenn du nach dem Sprichwort ›Zeit ist Geld‹ bei Wegherr Zeit mit Geld verwechseln solltest, so rate ich dir gut. Wenn du ihn anborgst –« und er streifte die Ärmel ein wenig von den muskulösen Armen. »Verdien dir dein Geld.«
Finkler wandte sich achselzuckend an Wegherr, dem das Peinliche des Augenblickes vom Gesicht zu lesen war.
»Es ist sein pennsylvanischer Hinterwäldlerton. Lassen wir ihn. Sieh, Doktor, gestern mittag kam ich in Neuyork an. Meine Gedanken arbeiteten auch auf der Eisenbahn. Und abends sauste ich schon dieselbe Strecke nach Philadelphia zurück und heute in aller Herrgottsfrühe hierher weiter. Da bin ich. Man zögert hier nicht lange.«
»Und deine Gedanken?« fragte Wegherr. »Wolltest du sie mir vortragen?«
»Stimmt. Es ist eine Art Freundschaftsdienst, auf Gegenseitigkeit begründet. Du schreibst mir eine Anzahl Artikel, glänzend, wie du das zu machen pflegst. Ich aber, durch meine ebenso glänzenden Verbindungen, bringe sie bei den Zeitungen unter, die die größte Tragweite besitzen. Den Erlös teilen wir. Ich stehe dir für ein großes Geschäft.«
»Sagte ich's nicht?« rief Wuppermann und klatschte sich auf den Schenkel. »Sagte ich's nicht? Ich kenn' doch meine Pappenheimer. Aber immerhin, es soll ihm verziehen sein: es ist ein Geschäft, wenn auch nur für seine Beine.«
»Du glaubst, das sei überlegenswert?« fragte Wegherr lächelnd den Freund.
»Der Reporter ist hier der Kurpfuscher der Kultur. Wenn auf tausend Meilen kein Arzt zur Hand ist, nimmt man gern den Schäfer.«
»Ein guter Hirte weiß, was seiner Herde dient, Doktor. Sie frißt ihm aus der Hand, dem fremden Tierarzt nicht. Ich werde jeden deiner Briefe mit einer Einführung versehen. Dann glauben sie's dir.«
Nun lachte Wegherr herzlich. »Die Wissenschaft auf Krücken.«
Dann wurde er ernst und wollte glatt ablehnen. Aber Wuppermann flüsterte ihm zu: »Nimm dir Zeit!« Und so dankte er Finkler für die guten Absichten und versprach, in der nächsten Zeit auf den Gegenstand zurückzukommen. »Wir sind auf dem Gang durch die Fabriken. Prachtvolle Schöpfungen, was? Und das Herz lacht einem im Leibe, daß das einer der unseren geschaffen hat. Schließ dich der Besichtigung an. Es schadet keinem.«
»Leider nicht in der Lage,« bedauerte Finkler. »Muß das Reisegeld wieder herausverdienen. Kann ich eine halbe Stunde dein Privatkontor benutzen, Wuppermann?«
Der Fabrikant rief einen Jungen heran und gebot ihm, den Herrn ins Privatkontor zu führen.
»Wir nehmen den Lunch um 12 Uhr in der Fabrik. Wenn du teilnehmen willst?«
»In der Voraussetzung, daß du Gentleman genug bist, mich dann zur Bahn kutschieren zu lassen.«
» All right!« Und Wuppermann wandte sich um und betrat mit Wegherr die Fabrikgebäude, in denen die Strumpfmaschinen sausend bei der Arbeit waren und die Garnspulen der Bandstühle wie die Wiesel liefen und tanzten.
»Jede dieser beiden Fabriken untersteht einem Direktor,« erklärte er. »Ich führe die Oberaufsicht. War kein schlechter Gedanke, kann ich dir sagen, von den selbstgebauten Maschinen Nutzen zu ziehen. Ich hab' natürlich ein Abkommen mit meiner Kundschaft, sie nicht zu unterbieten. Aber da mich die maschinelle Einrichtung nur die Hälfte kostet und ich gewisse Verbesserungen nur für mich nutze, streiche ich durch die billigere Arbeit den höheren Gewinn ein. Außerdem arbeite ich schneller und kann in Zeiten der Hochkonjunktur so viel Maschinen einstellen, wie ich will. Das ist der Trick oder das Ei des Kolumbus.«
»Ich glaube, Georg, zum Amerikaner muß man schon vor der Geburt bestimmt sein.«
Wuppermann lachte. »Mein guter Alter in der Herzbachstraße,« meinte er dann nachdenklich, »der hat Jahr für Jahr sein Stangeneisen geklopft und Hufeisen draus gemacht. Nee, der war nicht schuld. Ein jeder Mensch hat es in der Gewalt, sein Leben in die Höhe zu bringen. Aber die meisten wollen nicht.«
»Weshalb sollten sie nicht wollen, Georg?«
»Weil sie fest daran hängen, sie seien zum Offizier bestimmt, und es langt nur zum Bierkutscher. Weil der eine lieber an seiner verpfuschten Juristenlaufbahn festhält, statt es mit einem schwunghaften Hosenträgerhandel zu versuchen, und der andere lieber Vaters Fabrik herunterbringt, als daß er ein Delikatessengeschäft gründet. In diesem Lande gibt es keine feierlichen Herkommen, und wer an einer Kneipe mehr verdient als ein anderer an Goldminenaktien, bleibt der Beneidetere.«
Auf den Kontoren, die sie betraten, ging es zu wie auf dem Kontor der Maschinenfabrik. Nur daß Wuppermann, als er die Briefschaften durchflogen hatte, sich lediglich mit den Direktoren unterhielt. Aber seinen Besichtigungsgang machte er durch alle Räume, und sein Auge war überall.
»Sechstausend Paar seidene und halbseidene Strümpfe den Tag,« meldete der Direktor. »Gute Arbeitsleistung.«
»Donnerwetter,« entfuhr es Wegherr, »das macht im Jahre – Himmel, wer soll die alle tragen?«
»Kosten das Paar im Ladengeschäft einen halben Dollar,« erklärte Wuppermann. »Kein Dienstmädel trägt hier einen gestopften Strumpf. Strümpfe stopfen, so was gibt's hier überhaupt nicht. Strümpfe sind zum Kokettieren da. Was reißt, kommt in die Lumpen. Eine schadhafte Moral wird hier kaum bemerkt, ein schadhafter Strumpf auf der Stelle. Nicht gentlemanlike, nicht ladylike. Gentlemen und Ladies sind sie hier aber alle. Daher der Riesenverbrauch. Gott geb', daß es immer so bleibe.«
Nur die Färberei war noch zu besichtigen. Wuppermann stieß die Tür auf, und ein heißer Qualm fauchte heraus. »Jetzt naht die Überraschung,« sagte Wuppermann. »Der Meister soll kommen,« rief er in den dicken Brodem hinein.
Eine Gestalt tauchte auf und schob sich näher. Der Arbeitsanzug schillerte in allen Farben, und Bart und Haar wiesen rote, blaue und grüne Schattierungen auf. »Eichelskamp,« rief Wuppermann, »komm ens flöck, hier es ene Landsmann.«
Da war der Alte in drei Sätzen zur Stelle, rieb sich den Dampf aus den Augen und stierte.
»Es dat wohr? Em dreckige Amerika en Minsch von zo Hus? Donnerlütsch, ech fressen mech selver samt minge Färverkittel, wenn dat nich – wenn dat nich der Ernst Wegherr es.« Und er wischte heftig an den Hosen die Hände ab und streckte sie Wegherr entgegen.
»Mann Gottes, Sie sind doch nicht« – Wegherr überlegte – »Sie sind doch nicht der Kobes, der vor dreißig Jahren beim Meister Wuppermann in der Herzbachstraße Schmiedegesell war?«
»Stimmt wie aus 'm Gebetbuch. Gerad der Kobes, dä mit euch Jungs Forelle zoppe ging. Nee, enee, wat han ich en Freud'!« Und er lachte, bis er sich schneuzen mußte.
»Aber Mann, Sie waren doch Schmiedegesell und nicht Färber.«
»Ech wor ein's Dags nach Amerika. Nich im Läwe widder. Ech wor den Yankees zu ahl, mit die Fäust'. Awwer minge eigne Fäust konnt ich nich auffresse, un Hunger hatt' ech auch för zwölf Mann. Da stöberten mech der Georg Wuppermann auf. Dä sagt: ech brauchen gerad ene zuverlässige Färwermeister, un nahm mech beim Schlaffitche. Ech dacht, der Georg moß dat besser wisse; mügelich, dat in Amerika die Färwers Rundeise schmiede. Un ech han gefärwt noh de Schwerenot.«
»Ich komm noch mal wieder, Kobes,« sagte Wegherr und drückte des Alten Hand. »Hat mich mächtig gefreut, Kobes.«
»Un mech, un mech,« murmelte der Alte und murmelte noch eine Weile hinter den beiden her, bevor der Brodem der Färberei ihn wieder verschlang.
»Die Erde wird mit jedem Tag, den man in Amerika zubringt, kleiner, Georg.«
Wuppermann sah nach der Uhr. »Wir können jetzt den Lunch einnehmen. Das mach' ich immer hier in der Fabrik, weil wir schon um vier Uhr schließen. Da vertrödele ich keine Zeit und kann mich beim Dinner ganz den Meinen widmen.«
Sie fanden Finkler bereits bei der Mahlzeit, die in einem Korbe vom Landhaus herübergebracht worden war. Er lieh sich nicht stören und wies nur mit dem Messerstiel auf eine Anzahl beschriebener Blätter. Wuppermann nahm sie auf und las laut die dreifache Überschrift: »Zwei prominente Deutsche in Amerika.« »Georg Wuppermann, der Typus des Großindustriellen und Selfmademan, und Professor Doktor Wegherr, der weltberühmte Geschichtsforscher und Völkerpsycholog.« »Ideale der deutschen Männerfreundschaft.«
Wuppermann ließ die Blätter sinken. »Was – kostet – mich das?« gurgelte er unter Lachen hervor.
»Ein Fabrikat gegen das andere. Sechs Dutzend Paar Seidenstrümpfe werden dich nicht gereuen, Mann.«
Der Fabrikant nahm das Telephon, sprach hinein und hing den Hörer an. »Sie werden in den Wagen gebracht. Da kommt er schon.«
Finkler verabschiedete sich von Wegherr. »Wenn du mich besuchst, Doktor – hier meine Karte – eine Depesche genügt. Aber es muß ein Geschäft dahinter stecken.« Wuppermann klopfte er auf die Schulter. »Sind's auch sechs Dutzend? Gentlemen, war mir eine Ehre.«
»Die Strümpfe verkauft er,« sagte Wuppermann seelenruhig, als sie den Rest des Frühstücks einnahmen. –
Die Nachmittagsstunden vergingen im Fluge. Rechnungen wurden geprüft, Stapel von Briefen unterschrieben, versandfertige Maschinen besichtigt und die Verpackung überwacht. Wegherr fühlte sich todmüde, als sie die laute Fabrik verließen und dem stillen Landhaus zuschritten.
»Wir werden gleich zu uns kommen,« meinte Wuppermann vergnügt und öffnete die Tür.
Da stand Frank Willart im Zimmer, mit den feurigen Augen im kräftig gemeißelten Gesicht. Und neben der Hausfrau saß eine Dame, die wie die Schwester der Hausfrau erschien, schlank und von feinen und festen Gliedern.