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10

Hei, es war eine Lust, diese Briefe von Frank Willart.

Hinter jedem dieser Schriftzeichen stand ein zielbewußter Mann, der mit festen Händen Zugriff und die Garben band.

Sein Auge war ungetrübt von Phantastereien, es hatte amerikanische Schärfe in der deutschen Pupille, und es sonderte mit einem Blick die Spreu von dem Weizen. Seine Tätigkeit aber zeugte von der unermüdlichen Arbeitskraft, die von den Vätern des Landes auf die Söhne gekommen ist.

Regelmäßig in bestimmten Zwischenräumen schrieb Frank Willart einen Bericht für Ernst Wegherr nieder und sandte ihn hinter ihm drein. Und Wegherr las und sah den klaräugigen Mann aus Philadelphia hinter sich einherschreiten und die Ernte halten, bevor ein Wirbelwind sie wieder auseinanderjagen konnte. Der Bund der Deutschen Amerikas stand nicht mehr allein hinter dieser klugen Stirn, er stand nicht mehr als kühner Entwurf auf dem Papier, er wurde Wahrheit und gedieh in den Städten und Staaten, und Willarts starkes Einrichtungs- und Verwaltungstalent griff ihn von allen Seiten zusammen zu einem einheitlichen Ganzen.

»Erst an Zahl mächtig werden,« schrieb Frank Willart, »denn auf den Amerikaner macht nur die große Ziffer Eindruck. Dazu sind wir nun auf dem besten Wege. Dann in der Politik mitsprechen, damit der Wille des amerikanischen Deutschtums, das bisher in seiner Zersplitterung ohnmächtig war, nicht mehr übergangen werden kann und Gouverneure deutschen Bluts an die Spitze von Staaten gelangen. Das Zeitalter der Eigenkultur, das wir für Amerika erstreben, wird dann nicht mehr so lange auf sich warten lassen, wenn wir uns unter Vorzeigung gleicher Waffen mit dem Angloamerikanertum verständigt haben zum Heile des ganzen Landes und seiner Rassenzukunft. Arbeiten und nicht träumen!«

Und Ernst Wegherr spürte es an dem lebendigen Blutstrom, der durch seine Glieder ging, daß sein Leben nicht umsonst sei.

St. Paul und Minneapolis im Staate Minnesota, Denver im Goldstaate Colorado, das waren noch die Städte, die er aufzusuchen hatte, bevor er sich in der Sommerhitze Ferien gönnte vor der Weiterfahrt durch den fernen Westen.

Vorher aber – ein Besuch in Chicago.

Mußte es sein?

»Nein,« bestimmte seine Vernunft. »Ja,« rief sein Blut. Das Blut aber war das stärkere, weil es unterdrückt worden war und seine Kräfte gesammelt hatte, bis es seine Rechte verlangte.

Du fürchtest dich doch nicht etwa vor den krausen Launen einer amerikanischen Frau? fragte es die Vernunft.

Ernst Wegherr lachte. Ihm war so jugendfrisch zumut. Mit dem nächsten Zuge fuhr er nach Chicago.

Er meldete sich nicht bei den Bekannten an, die ihm sein früherer Aufenthalt in der Stadt geschenkt hatte. Er fuhr ins Hotel und richtete einige Zeilen an Miß Winifred.

»Wieder zur Stelle. Ist Ihnen mein Besuch angenehm, oder wollen Sie andere Bestimmungen treffen? Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«

Einige Stunden später hatte er ihre Antwort.

»Ich schreibe aus den Reisevorbereitungen heraus. Trinken Sie, bitte, um fünf Uhr eine Tasse Tee bei mir.«

Gegen fünf Uhr machte er sich auf den Weg und fand das palastartige Gebäude der Stars. Ein Diener öffnete ihm und führte ihn ohne weiteres zu den Zimmern, die Miß Winifred für sich bewohnte. Einige Minuten wartete er in einem kleinen Empiresalon, der aus irgendeinem französischen Schloß stammen mochte. Dann ging eine Tür, und Winifred stand auf der Schwelle.

»Guten Tag, Mr. Wegherr,« sagte sie. »Wieder im Land?«

»Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Miß Winifred.«

»O, o, Sie übertreiben. Aber sprechen wir nicht weiter davon. Es ist jedenfalls hübsch, daß Sie sich meiner noch erinnern.«

Sie stand im Türrahmen, die eine Hand an der Klinke, die andere spielerisch in die Blumen versenkt, die sie an der Brust trug. Das weiße Spitzenkleidchen legte sich eng an ihre biegsame Figur, und unter dem kurzgehaltenen Rock zeigten sich kleine weiße Schuhe und feingewebte Seidenstrümpfe. Das alles sah Wegherr und sah, daß sie mit ihm spielen wollte.

»Nun?« fragte sie freundlich. »Ist der Quell der Rede versiegt?«

»Da Ihre Schönheit so eindringlich spricht, Miß Winifred, bleibt mir nichts anderes übrig, als schweigend zu lauschen.«

»Finden Sie das so unterhaltend? Es ist Juni geworden über Ihrem schweigenden Lauschen. Aber frisch sind Sie und braungebrannt wie ein Indianer.«

»Somit wären wir also so weit, uns die Hände reichen zu können, Miß Winifred.«

»Guten Tag, Mr. Wegherr.«

»Guten Tag, Miß Winifred.«

Sie schüttelten sich die Hände und sahen sich sekundenlang scharf in die Augen. Wie Gegner, die ihre Kräfte aneinander messen.

»Wollen wir in diesem langweiligen Salon bleiben? In meinen anderen Räumen sieht es zwar kunterbunt aus.«

»Langweilig?« fragte Wegherr und überblickte forschend die Einrichtung. »Er ist stilecht bis in die Decke hinein.«

»Er ist auch samt der Decke aus Frankreich herbeigeschafft worden. Als Geburtstagsgeschenk. Aber es kann etwas stilecht und doch todlangweilig sein.«

»Miß Winifred, Sie sind zweifellos stilecht.«

»Langweile ich Sie schon? Nein, kommen Sie, es ist jetzt nicht die Zeit zu Artigkeiten. Wenn Sie keine Kritik an meiner Unordnung üben wollen, dürfen Sie mit in mein Arbeitszimmer. Wie ich Ihnen schrieb, bin ich bei den Reisevorbereitungen.«

»Sie wollen wirklich reisen? Sehr weit? Sehr bald?«

Heute oder in acht Tagen. Das kommt noch darauf an. An die See, in die Berge oder über den Ozean. Auch das kommt noch darauf an. So, nun folgen Sie mir und schließen Sie die Augen.«

Er öffnete sie, so weit er konnte, um nicht eine Linie ihrer Gestalt zu verlieren. Und in dem Zimmer, das sie ihr Arbeitszimmer genannt hatte, sah er staunend rundum. Sie lachte und legte ihm die Hand über die Augen. Eine schlanke, kühle Hand.

»An der Schwelle dieses Zimmers hat die Forschung haltzumachen, Herr Doktor.«

»Das Zimmer hat zwei Türen, also auch zwei Schwellen.«

»Ach ja. Drüben die Tür ist überhaupt verboten. Dort ist mein Ankleideraum. Gott, was interessiert das einen so schrecklich gebildeten Mann. Nun nehmen Sie Platz, wo Sie ihn finden.«

Er sah auf einem niederen Sessel und schaute ihr zu, wie sie den Tee bereitete. Das tat sie mit flüchtigen und doch anmutigen Gebärden. Sie verstand die Kunst, jede Handbewegung zu einem Bilde zu gestalten. Und Wegherr war auf seiner langen Fahrt unter den Farmern nicht verwöhnt worden.

Während sie in einer Zimmerecke das Teetischchen ordnete, schweifte sein Blick durch den Raum. Im Biedermeierstil spreizten sich lustig die Kirschholzmöbel mit den bunten, seidenen Überzügen. Von den Wänden schauten Silhouetten und frohgestimmte Bilder. Blumen blühten in gebrannten Töpfen und gemalten Gläsern. Aber Tisch und Arbeitstisch aber, über dem Kanapee und den Stühlen hingen und lagen Sommerkleider und Hüte, Spitzenwäsche und Badeanzüge, Stiefel und Schuhe in allen Farben und Formen, Sonnenschirme und Spazierstöckchen. Und das ganze Zimmer war eingehüllt von einem zarten Duft, der wie eine zärtliche Hand war.

Einen Herzschlag lang dachte er an das Zimmer seiner einstigen Frau. Da hörte er Winifreds sorgloses Lachen.

»Nicht wahr, es ist wie in einem Basar? Drei große Kabinenkoffer werden nicht reichen, das alles unterzubringen.«

»So nehmen Sie doch nur einen.«

»Ja,« sagte sie und bat ihn an den Teetisch, »in zwanzig, dreißig Jahren vielleicht. Dann reicht ein perlgraues und ein dunkelviolettes Seidenkleid für alle Bedürfnisse.«

»Eine Frau, die so schön ist wie Sie, hat diesen ganzen Zauber nicht nötig.«

Sie schenkte ihm den Tee ein und tat Zucker und Milch hinzu.

»Ich weiß nicht, ob ich Sie verstehen darf. Jedenfalls wünschen es unsere amerikanischen Männer so und nicht anders.«

»Die amerikanischen Männer scheinen keine Augen zu haben.«

»O, Mr. Wegherr, ich würde an Ihrer Stelle bescheidener sein.«

Er blickte sie an und suchte ihre Gedanken zu erraten. Aber sie hielt die Wimpern gesenkt, und seine Blicke irrten ab und irrten um den blutroten Mund. Er erkannte ihn wieder, aus seinen Träumen.

»Zürnen Sie mir immer noch, Miß Winifred, daß ich so lange fernblieb? Ich war in der Wildnis und sah Sie doch.«

»Und gehen wohl wieder in die Wildnis zurück? Nur um mich weiter zu sehen?«

»Um Sie in der Wildnis weiter zu sehen? Wie sagten Sie doch vorhin? ›Das kommt noch darauf an.‹ Gestatten Sie mir, dasselbe zu sagen.«

»Auf was kommt es an?«

»Ich habe Sie ja vorhin auch nicht gefragt, Miß Winifred.«

»Dann bin ich eben neugieriger als Sie. Auf was also kommt es an?«

»Auf Ihre Liebenswürdigkeit.«

»Es scheint,« sagte sie langsam und sah ihm voll in die Augen, »Sie machen mir den Hof, Herr Doktor.«

»Es scheint nur so, Miß Winifred. Für dieses Geschäft haben Sie wohl Leute genug und brauchen nicht auf mich zu warten.«

»Ich habe nicht auf Sie gewartet, Mr. Wegherr. Sie sind gekommen und sind da.«

»Gott sei Dank,« entgegnete er und freute sich an ihrem Zorn.

»Gott sei Dank?« wiederholte sie. »Mir scheint, Sie fühlen sich noch sehr wohl dabei.«

»Es scheint nur so, Miß Winifred. Aber Sie haben mich schon einmal zur Bescheidenheit ermahnt.«

Sie erhob sich und ging durch das Zimmer, zündete sich am Fenster eine Zigarette an und blickte forschend zu ihm hinüber, der mit äußerer Ruhe in seinem Sessel saß. Diese Ruhe erregte sie.

»Ja – was soll ich denn mit Ihnen anfangen, Herr Doktor?«

»Da haben Sie Recht. Das ist eine Frage. Denn in Ihre Kleiderkoffer lasse ich mich nicht einpacken, Miß Winifred.«

Nun kam sie ganz nahe und legte die Hände auf die Rücklehne seines Sessels.

»Wenn ich es aber doch gern täte, Mr. Wegherr?«

»Ich bin für den Pagen Cherubim mittlerweile etwas zu ausgewachsen, schöne Winifred.«

»Was wißt Ihr Männer davon, wozu Ihr Euch am besten eignet? Das wissen nur wir. Und es müßte schön sein, einen Mann, der für die Welt etwas ganz Besonderes darstellt, ganz für sich in einen kleinen Pagen zu verwandeln.«

»Haben Sie jetzt genug gespielt?«

»Gibt es etwas Schöneres?«

Er erhob sich und wandte sich ihr zu. Sie hielt, ohne zu zucken, seinem festen Blicke stand, aber er sah, daß sie bleich geworden war und daß ihre Nasenflügel leise bebten. Jetzt erst war sie in Wahrheit schön. Das spürte er an dem jähen Rauschen des eigenen Blutes.

»Miß Winifred, ich bin hier Gast in dem Hause Ihrer Eltern.«

»O nein. Ich bin Herrin in meinen Räumen. Im übrigen befinden sich meine Eltern in Europa, auf – auf – der Bräutigamschau.«

Das Rauschen des Blutes hörte auf. So jäh, wie es gekommen war. So jäh, daß ihm nun die Stille wie ein Lärm erschien.

»Ich bitte um Verzeihung, mein Fräulein. Wie konnte ich das wissen.«

»Es liegt kein Grund zur Entschuldigung vor. Denn ich weiß nicht mehr als Sie.«

»Und wollen nicht mehr wissen?«

»Still,« sagte sie und horchte auf. »Ein Diener kommt. Bitte nehmen Sie Ihren Platz ein.«

Es klopfte, und sie ging und öffnete die Tür. »Geben Sie her, Fred. Es ist gut. Ich danke Ihnen.«

Als sie sich wieder umwandte, lag ein Mädchenlächeln um ihren Mund.

»Es ist ein Musikabend in den Parkanlagen, draußen am See. Ich habe einen Tisch bestellt und möchte Sie zum Dinner dorthin entführen. Wird es Ihnen auch recht sein? Chicago bietet um diese Zeit nichts anderes.«

»Ich bin nicht Chicagos wegen hierher gekommen.«

»Und ich möchte mich doch so gern mit der deutschen Berühmtheit Amerikas zeigen und mich beneiden lassen.«

Da schlug er sich lachend auf beide Knie, und der Alb war gewichen.

»Winifred, Sie sind ein großes Kind. Und Kindern soll man auch einmal zu Gefallen sein.«

»Dann wünsche ich, daß man auch Sie beneidet, und dazu will ich mich schön machen. Nein, sitzenbleiben. Ich finde den Weg zu meinem Ankleidezimmer allein. Nehmen Sie eine Zigarette. Auf Wiedersehen.«

Ohne weiteres ließ sie ihn allein. Wohl eine halbe Stunde lang. Mitten unter den Kleidern, Hüten und Spitzensachen. Er hörte sie klingeln. Wohl nach der Zofe. Dann blieb es still.

Er atmete den Duft, der das Zimmer durchzog. Der hüllte sein Denken ein und zwang seine Gedanken doch zu ihr hin. Aus der silbernen Zigarettendose, die auf dem Tische lag, nahm er mechanisch eine Zigarette, zündete sie an und erschrak fast vor dem Knistern des Zündholzes. Er blickte sich um. Seine Gedanken vollführten einen Reigentanz, daß er nicht einen greifen und halten konnte. Der Atem wurde schwerer. Da ergab er sich der Stimmung, die aus allen Ecken des Zimmers auf ihn eindrang, und der Duft wurde wie ein schwerer Rosenduft.

Plötzlich stand sie vor ihm. Er hatte die Tür nicht gehen hören, ihren Schritt auf dem Teppich nicht vernommen.

»Mr. Wegherr?«

»Winifred!«

»Hab' ich Sie aus Ihren Träumen erschreckt?«

»Ich glaube, der Traum beginnt jetzt erst. Oder ist das Wirklichkeit?«

»Gut, daß ich Ihnen ein wenig gefalle.« Aber in ihrer Stimme klang noch die Erregung der Erwartung.

Das Pariser Gewand floß wie ein Hauch über sie hin, umschmeichelte rosafarben jedes Glied, jede leise Bewegung. Lang und schmal glitt der Halsausschnitt nieder, und der warme Ton der Haut floß zusammen mit dem traumhaften Rosa des Gewandes. Um die Hüften schlang sich eine geflochtene Silberschnur, und eine tiefdunkle Rose schmiegte sich unter dem Herzen in den Gürtel.

»Ja,« sagte er und zog tief den Atem ein. »Das ist in der Tat beneidenswert.«

»Ich denke, wir dürfen uns miteinander sehen lassen.«

»Gar nicht vorzeigen möchte ich Sie.«

»Kommen Sie. Ich habe mein Automobil bereits vorfahren lassen. Und Sie werden Hunger haben.«

Er schaute sie noch immer an.

»Es ist wahr,« sagte er, »ich habe Hunger.«

Und er schritt auf sie zu und legte den Arm um ihre Schulter. Und sie rührte sich nicht in seiner Hand.

»Du – gib mir ein Gastgeschenk.«

Sie bog den Kopf in den Nacken und sah ihn mit weitgeöffneten Augen an. Und mit weitgeöffneten Augen ließ sie sich küssen.

»Kommen Sie, Ernst.«

»Den Musikabend soll der Teufel holen und ganz Chicago dazu!«

»Kommen Sie, Ernst. Ich kann Sie doch nicht hierbehalten, und wir wollen doch beisammen sein, so lang' es geht.«

»Weiß Gott, vom heutigen Tag laß ich mir keine Sekunde abstreichen.«

»Ich mir auch nicht. Gehen wir.«

In langsamer Fahrt wand sich der Wagen durch die Straßen der weitläufigen Stadt. Einförmig reihte sich Häuserzeile an Häuserzeile. Hin und wieder nur tauchte ein Gebäude auf, das durch edle Formgebung der Architektur die Blicke auf sich zog, fast immer aber auf ein getreulich nachgeahmtes Vorbild der italienischen Renaissance, der englischen Gotik, des französischen Barocks hinwies. Die Masse der Stadt blieb dadurch unbeeinflußt. Sie diente der Arbeit und hatte mit der befreienden Kunst noch keinen Brüderschaftstrunk gewechselt.

»Ist das nicht niederziehend und erdrückend? Ist es da noch ein Wunder, daß die Chicagoerin mehr in der Welt zu finden ist als in der eigenen Stadt? Sagen Sie selbst, Ernst. Sie weitgereister Mann müssen das verstehen.«

»Es ist ja erst die Mittelstufe, in der sich die Stadt befindet. Denken Sie nur, wie schnell sie die Kinderschuhe abgeschleudert hat. Zu schnell, um aus einer guten und gründlichen Kinderstube die Vorteile gezogen zu haben. Das muß nun im heranwachsenden Alter mit doppelten Mühen nachgeholt werden, und es wird, weil die Menschen doch zuletzt alle nach dem Paradiese streben.«

»Wenn es ans Sterben geht.«

»Nein, wenn sie mit dem Leben beginnen wollen.«

»Ach, das ist schön. Ich bin schon lange bereit, zu beginnen.«

»Und ich bin schon seit einer Stunde mitten darin. Legen Sie Ihre Hand ein wenig näher. Ich möchte Ihr warmes Blut spüren.«

Sie schob ganz langsam ihre Hand in die seine und ließ die Enden der Federboa darüber fallen.

»Jetzt sind unsere Hände wie in einem verschwiegenen Häuslein, unter Dach und Fach,« sagte er gedämpft, »und brauchen nicht einmal ein Fensterlein.«

Sie gab den Druck zurück und ließ einen Augenblick die Schulter an seine rühren.

»Ich meine, Winifred. Chicago ist doch eine wunderschöne Stadt.«

»Heute ist mir auch so. Nun müssen wir grüßen.«

Sie fuhren über den Grand Boulevard, über den die Automobile in langen Reihen dahinrollten. Überelegant gekleidete Frauen nickten lachend aus den Gefährten, Herren mit sorgenden Kaufmannsgesichtern zogen hastig die Hüte von früh ergrauten Scheiteln, und immer war es die Frau, die zuerst das Zeichen zum Gruße gab, die die äußere Lebensführung bestimmte.

Die unübersehbaren Parkanlagen wurden erreicht, hohe Baumgruppen träumten über den bunten Blütenbeeten, Springbrunnen sangen ihr silbernes Lied in die abendliche Juniluft, und über die grünen Rasenflächen wehten vom Seeufer her die weichen Klänge der Musik.

Winifred hatte den Wagen halten lassen. Sie sprach ein paar Worte zu dem Führer und schritt in der ungezwungen-stolzen Haltung neben Wegherr einher wie eine Prinzessin, die um sich herum Diener und Kammerherren weiß. Hier und dort grüßte sie mit einem Nicken, einem Lachen, auch wohl mit einem kurzen Zuruf, hielt sich aber so dicht an ihres Begleiters Seite, daß die Aufmerksamkeit bald auf den gebräunten Fremden übersprang, der so ruhig und sicher über die Menschen hinwegblickte.

»Man findet Sie schrecklich interessant, Ernst.«

»Das freut mich Ihretwegen, Winifred, denn sonst kämen Sie ja nicht auf Ihre Rechnung.«

»Sie wachsen sehr schnell in einen kühlen Spott hinein, seit ich lieb zu Ihnen war. Aber die Hälfte aller Blicke gehört mir.«

»Mehr als die Hälfte. Weit mehr. Sie haben vergessen, meine beiden Augen hinzuzuzählen, Winifred.«

»Dann nehme ich alles zurück und will Sie wieder ein wenig gern haben.«

»Hier? Auf der Stelle? Das wäre ein Grund für die Musik, das Eintrittsgeld zu verdoppeln.«

Ihr silbernes Lachen klingelte an sein Ohr. Und in der Menschenmenge griff sie heimlich nach seinem Arm und preßte ihn.

Da lag das Seegestade, und die Wasser schimmerten weithin in die Ferne, und der Strand schimmerte von den Sommergewändern schöner Frauen. Die Geigen schluchzten die sehnsuchtzitternde Barkarole aus ›Hoffmanns Erzählungen›, und die Luft stand still, von dem eigenen Sehnsuchtsatem berauscht.

Winifred führte zu einem Tischchen hin, das zwischen blühenden Sträuchern stand. Durch die Blütenzweige hindurch sah man den See und die Menschen wie durch einen bräutlichen Schleier. Sie wählten ihre Plätze, und bereitstehende Kellner nahmen in lautlosem Eifer die Bedienung auf.

Wegherr erhob sein Champagnerglas. »Ich trinke der letzten Stunde meinen Dank.«

Über den Rand ihres Glases sah sie ihn an und nippte von dem Schaum.

»Es ist noch nicht die letzte, Ernst.«

»Noch nicht? Das klingt wie ein Programm. Und der Abend ist so schön, daß man sich in all die Schönheit nur hineintreiben lassen möchte.«

»Mit geschlossenen Augen?«

»Das wäre eine Versündigung, da ich Sie neben mir sehe.«

»Gut, daß Sie doch noch gekommen sind,« sagte sie nach einer Weile.

»Ich wußte noch nicht, ob ich Amerika lieb gewinnen könnte. Nach meinen deutschen Begriffen.«

»Es ist ein Land der Überraschungen. Was heute Geltung zu haben scheint, gilt morgen nicht mehr. Es ist ein Land voll Eroberernaturen, die über dem neuen Preis den gestern gewonnenen vergessen. Hier gilt nur der Sieg, der Sieg mit allen Waffen.«

»Ja,« antwortete Wegherr, »da ist eine ungeheure Großartigkeit, im Gebären und im Vernichten, wenn es ein neues Gebären gilt, und ich kann mich dem Wagemut der Bewohner des Landes nicht entziehen. Es steckt etwas so Junges, Jugendliches, Abenteuerfrohes darin, wie in heißblütigen Kindern, die auch nicht lange fragen, ob ihr wildes Spiel Grausamkeiten gegen schwächere Kinder enthält. Glückt's oder glückt's nicht? Dann trifft's das nächstemal! Nur daß hier das Spiel nicht um Nüsse, sondern um Leben geht.«

»Jeder soll sich wehren. Wir würden einschlafen, wenn wir das Spiel nicht hätten.«

»Es gibt Dinge, die ausgeschaltet bleiben müssen. Das aber scheint man hier nicht immer zu berücksichtigen. Religion, Liebe, Hausstand – was wird hier nicht alles zu Spielereien verwandt. Die Frauen sollten ihre Hoheitsrechte gebrauchen.«

»Um das Spiel abzuschaffen? Lassen wir denn mit uns spielen? Wir haben die Karten in der Hand.«

»Sie scherzen, Winifred. Wie mögen Sie sich mit den anderen in einem Atem nennen.«

»Nein,« sagte sie sinnend, »ich bin doch wohl der anderen Schwester. Aber wir machen auch Ausnahmen. Wenn wir Männer treffen wie Sie. Das habe ich Ihnen gezeigt. Männer, wie Sie, die so gänzlich anders sind als unsere amerikanischen Männer. Was hören wir von ihnen? Geschäft, dreimal Geschäft, und der Rest ist Ermüdung. Wir aber sind nicht müde und holen uns das Leben. Weil es unser Recht ist.«

»Ein Recht ohne Pflichten? Da wären wir ja wieder bei den Kindern.«

»Wir altern früh genug. Dann haben wir Zeit die Hülle und Fülle, uns mit den Pflichten zu befassen. Heute aber wollen wir uns freuen, uns wie die Kinder freuen. Da! Sehen Sie hin! Ist das nicht wie ein Kindermärchen?«

See und Park hatten sich in den Dämmer des Juniabends gehüllt. Das Rauschen und Raunen klang wie aus der Ferne. Und die Gedanken der Menschen waren für eine kurze Weile abgezogen von des Tages Erlebnissen und Forderungen.

Da blitzte es auf. Vom Wasser her. Eine leuchtende Schlange schoß zum Himmel, küßte ihn und wurde im Kusse zu strahlenden Sternen, die in seligem Glanz auf die Erde niedertropften. Wieder schoß eine feurige Schlange auf. Zehn – Hunderte. Die Luft war erfüllt von ihnen wie von jagenden Wünschen, die jetzt einen Stern, jetzt eine Sonne, jetzt ein sprühendes Rad, eine goldene Krone, einen goldenen Regen und funkelnde Steine in buntem Wirbel vom Himmel holten oder auch niedersanken aus halber Höhe und in den schluckenden Wassern verzischten.

Und die Menschen hielten den Atem an und starrten mit gierigen Augen nach den Wünschen und ihren blitzschnellen Erfüllungen. Die zurückgebliebenen aber und die versunkenen wurden mit einem kurzen Laut der Verachtung abgetan.

Aus war das gleißende Spiel. Nacht und Betroffenheit ringsum. Dann blitzten mit einem Schlage die Lichtgirlanden auf, die sich über Park und Ufer schwangen und grell die Menge der Menschen beleuchteten, die sich die Augen rieben und ohne viel Zögern die Unterhaltung wieder aufgriffen, wo sie stehengeblieben war. Das Spiel war aus. Ein neues Spiel.

Wegherr sah Winifred an, in deren Augen ein Leuchten zurückgeblieben war. Als er ihre Hand faßte, rührte sie sich nicht. Nur heißer schimmerte es in ihren Augen, und die Haut färbte sich dunkler, dort, wo sie zwischen Hals und Brust ihre lebendige Schönheit zeigte.

Da stürmte auch durch Wegherr die dunkle Blutwelle dahin, und er spürte sein Herz wie das eines Trunkenen.

Die Menschen verließen das Ufer, sie verließen den Park. Von fern her tönte das Zischen und Pfeifen der Automobile, das Summen und Surren der Stimmen. Um Wegherr und Winifred her war es leer geworden. Sie blickten um sich, sahen hastig einander an und erhoben sich.

»Es ist Zeit,« sagte sie. »Fast sind wir die letzten.«

Und wieder ging sie mit der stolzen Nachlässigkeit der Prinzessin durch die Baumalleen dahin, und Wegherr stützte ihren Arm, wenn eine Wegstelle im Dunkel lag. Draußen aber blickte er sich vergeblich nach ihrem Gefährt um.

»Es ist nicht da, Winifred. Wollten Sie zu Fuß mit mir gehen?«

»Dort steht es ja.«

»Aber wir sind doch in einem offenen Wagen hergefahren?«

»Ich dachte, wegen der Nachtluft sei ein geschlossener angenehmer. Deshalb gab ich dem Fahrer Auftrag, den anderen Wagen zu holen.«

»Wegen der Nachtluft, Winifred?«

»Ganz allein deswegen, Sie ungläubiger Mensch. Wir müssen einsteigen.«

Der Kraftwagen rollte heran. Wegherr bot Winifred die Hand und stieg nach ihr ein. Der Führer kurbelte an, ließ den Wagen einen Halbkreis beschreiben und sausend dahingleiten. Links und rechts flog das Dunkel der Straßen.

Wegherr wandte sich Winifred zu. Er sah nur einen rosa Schein, erwartungsvolle Augen, einen erwartungsvollen Mund.

»So komm doch!« stieß er hervor.

Da lagen ihre kühlen Arme fest um seinen Hals gewunden.

»Wie dir das Herz schlägt.«

»Es ist ja das Ihre, Ernst.«

»Es schlägt ja unter meiner Hand wie ein gefangener Vogel. Gibst du dich gefangen? Sprich!«

Ihr Mund aber suchte seine Lippen und schloß sie ihm.

Und er trank und trank und spürte keine Linderung seines Durstes.

»Winifred, ich trinke Feuer.«

»Und ich Leben.«

Ihr Kopf ruhte in seinem Arm. Ihr Gesicht war ihm zugewandt. Nie hatte ihn der kühle Schnitt dieses Gesichtes in seiner ganzen Schönheit so betroffen.

»Liebst du mich, Winifred?«

»Ich will an gar nichts anderes denken.«

»Wie lange?«

»Bis zum nächsten Wiedersehen, und dann will ich es neu erlernen.«

»Wann wird unser nächstes Wiedersehen sein? Morgen muß ich weiter.«

»Nein!« rief sie hastig, richtete sich auf und griff mit beiden Händen nach seinem Kopfe. »Nein, nein! Du bleibst noch.«

»Hast du mich lieb, Winifred? So lieb, daß du mich nicht gehen lassen kannst?«

»Ich wehr' mich dagegen. Seit ich dich zuerst sah, in der Versammlung, die du lenktest und mit dir rissest. Und nachher, als du mit dem alten, blinden Manne sprachst, der dich mir nach Wisconsin entführte. Und wieder nachher, als du mich warten ließest. Seit ich dich kenne, wehr' ich mich gegen dich.«

»Rüste ab, du. Ergib dich auf Gnade und Ungnade. Ich versprech' dir ritterliche Haft.«

»Nein!« rief sie.

»Ja! Ja! Dreimal ja!«

»Ernst, Sie küssen mir den Atem aus der Seele ...«

»Spürst du endlich deine Seele? Nun spür' auch dein Herz.«

»Ich spür' nur diese unbezähmbaren Lippen. Ernst! Herrgott – wilder Mensch, ich ergebe mich ja ...«

»Spricht das dein Herz? Um dein Herz geht es mir, das ich noch nicht kenne.«

»Wenn ich eins habe, gehört es dir.« Und sie küßte seine Augen, daß er zu erblinden meinte.

»Winifred, Winifred, ich habe dein Herz klopfen gefühlt.«

»Es kann auch mein Blut gewesen sein, Ernst,« murmelte sie an seinem Gesicht. »Das Blut ist dasselbe. Es hat sich entzündet. Das wollte ich nicht.«

Er lachte ein fröhliches Lachen.

»Das wolltest du nicht. Aber meines wolltest du entzünden, bis es lichterloh brannte. Und zogst die Fingerlein nicht früh genug zurück. Gib her die Fingerlein. Wie kühl sie geblieben sind, wie schön deine Hände sind. Ich glaube, ich habe sie noch gar nicht geküßt.«

Sie ließ sie ihm willenlos. Und bat nur noch mit klagender, schmeichelnder Stimme: »Du bleibst noch? Nicht wahr, du bleibst noch?«

»Übermorgen muß ich zu den Männern von St. Paul sprechen. Ich darf nicht fahnenflüchtig werden.«

»Übermorgen! Übermorgen! Bis dahin ist noch ein ganzer Tag.«

»Ich habe noch zu arbeiten, Winifred. Das kann ich nur in St. Paul. Ich muß meine Studien machen, muß den Staat Minnesota kennen lernen und Colorado. Die Zeit, die mir bleibt, ist knapp bemessen. Ende Juli bin ich frei. Frei bis zum Herbst. Freust du dich, Winifred?«

»Was soll ich bis Ende Juli allein? Allein mit diesem einen Tag? Das ist mir zu wenig. Da hält der Wagen schon. Wie heißt dein Hotel?«

Er nannte den Namen, und sie öffnete den Schlag.

»Wir fahren zuerst Mr. Wegherr zum Hotel!« rief sie zum Führersitz hinauf und gab die Adresse. Die Tür flog ins Schloß zurück.

Der Wagen rückte an, wandte und nahm eine Querstraße.

»Wir haben noch zehn Minuten,« murmelte sie, zog seinen Kopf an sich und preßte ihr Gesicht gegen das seine. Und wieder hörten sie das Schlagen ihrer Pulse durch heiße Wellen hindurch.

»Deinen Mund, Winifred ...«

»Hier ist er ...«

Keiner sprach mehr.

Dann bog der Wagen in eine erleuchtete Straße ein, und sie saßen aufrecht und blickten durch die Scheiben.

»Noch eine Minute,« sagte sie.

»Wir wollen Abschied nehmen, Winifred. Nein, das ist nicht traurig, wenn wir an das Wiedersehen denken.«

»Ich habe schon daran gedacht. Wann, meintest du, daß es sein würde?«

»Ende Juli breche ich ab und nehme mir Ferien. Zu Anfang August, Winifred.«

»Nein,« sagte sie leise, »früher. Viel früher. Übermorgen in St. Paul.«

»Du wolltest –?« fragte er überrascht.

»Ich habe keinen Willen mehr. Nur den einen: dich zu sehen, dich sprechen zu hören, zu spüren, wie du die Menschen fesselst und nicht nur mich.«

»Winifred, kannst du das wagen?«

»In Amerika kann eine Dame tun, was ihr beliebt. Gute Nacht, Ernst! Telegraphiere deine Adresse. Es war ein wunderschöner Tag.«

Er stieg aus und reichte ihr noch einmal die Hand. »Gute Nacht!«

Sie blickte nicht mehr zum Fenster hinaus. Sie saß eng in die Ecke geschmiegt, ein Hauch, ein Traum, als der Wagen sie an ihm vorüberführte. Er stand mit gezogenem Hut und atmete tief die klare Nachtluft.

Als er sich in der Frühe des Morgens erhob, um rechtzeitig den Zug nach St. Paul zu erreichen, und die Tür öffnete, fand er einen Strauß roter Rosen an die Tür gelehnt. Er nahm ihn auf und fand ein Brieflein angeheftet, das Winifreds Handschrift zeigte. Noch in der Nacht mußte sie den Strauß hergesandt haben. Es waren Rosen aus ihrem Zimmer.

Er sog den Duft in sich hinein und spürte die Kühle der Blumenblätter an seinen Augen, als wären es ihre Hände. Dann erst öffnete er den Briefumschlag.

Er enthielt kein Wort. Er enthielt ihr Bild, das sie in Hast hineingesteckt hatte.

Mehr als zwölf Stunden währte die Eilfahrt nach St. Paul. Aber ihm währte sie nicht zu lange. Kein Fahrgast außer ihm war im Abteil. Er war allein und doch nicht allein. Da waren die Rosen. Da war das Bild.

Er zog es aus der Brusttasche und hielt es in der Hand. Winifred war bei ihm.

Da war der kühl und edel geschnittene Kopf mit der reichen, weichen Haarwelle. Da war der schlanke Hals, dessen letzte Linien zu einem feinen, schwellenden Akkord zusammenliefen. Und er suchte in den Augen zu lesen, die halb verborgen unter den langen Wimpern schimmerten. »Morgen,« winkten sie, »morgen.«

Draußen rauschte der Wisconsinfluß, an dem er vor Tagen erst mit den deutschen Landsleuten gesessen und Heimatlieder gesungen hatte.

»Nur in Deutschland, nur in Deutschland –«

War das erst vor wenigen Tagen gewesen? Hatte er nicht Jahre durchlebt seitdem? Blühende, glühende Jahre?

Schöner, immer schöner wurde die Flußlandschaft. Und auf dem Scheitelpunkt der Schönheit stürzte sich der Wisconsinfluß in brausenden Schnellen jäh in eine Felsschlucht hinein.

Wie einsam, wie öde es draußen geworden war. Stunden hindurch. Es lohnte nicht mehr, hinauszusehen. Bis aufs neue ein Rauschen klang von breiten, starken Wassern, die in stiller Würde ihren Weg zogen, bis der Mississippi erreicht war und seine fruchtbaren Ufer.

Am Abend befand er sich in St. Paul, der Terrassenstadt am Mississippistrom.

Todmüde legte er sich schlafen.

Und während er am anderen Morgen frisch und mit innerer Fröhlichkeit die Stadt durchwanderte, hinaufstieg zu den indianischen Grabhügeln und die Blicke schweifen ließ nach allen Seiten, während er Besuche empfing und Besuche erwiderte – immer dachte er: jetzt ist Winifred abgereist, jetzt ist sie bei den Stromschnellen des Wisconsin, jetzt hat sie den Mississippi erreicht, jetzt nähert sie sich St. Paul, und bald, bald sitzt sie unter den Menschen in dem großen Saale. Und ich kann sie nicht einmal abholen, die Winifred, die ihr Herz entdeckte, als sie ihren Willen verlor, den Willen zum eigenmächtigen Spiele, die kühle, heiße Winifred.

Ein paar Herren ließen sich melden, um ihn abzurufen. Es durfte nicht länger gewartet werden. Und während das Automobil die Stadt durchschnitt, hörte er den Eisenbahnzug heranbrausen, der sie brachte.

Mit leuchtenden Augen schritt er in den Saal hinein, und die Menschen, die ihn so hochgemut einherkommen sahen, mußten ihn liebgewinnen um seines deutschen Glaubens willen.

Auf dem Podium stand er und harrte, während der Einberufer ihn der Versammlung mit warmen Worten vorstellte, die sich zu preisenden Sätzen gestalteten. Harrte, daß sich die Tür öffnen würde, daß sie – sie erschiene.

Das Publikum klatschte dem Redner Beifall, es begrüßte Wegherr, der nach ihm an das Rednerpult trat, mit stürmischem Händeklatschen. Und während der Begrüßung, die immer wieder einsetzte, öffnete Wegherr ein Telegramm, das er auf dem Pulte vorfand, und las die langen Druckzeilen.

»Kabel meiner Eltern ruft mich soeben nach Europa. Dort erwartet mich noch ein Dritter, der meinen Willen tun will. Ich nehme es als ein Zeichen der Vorsehung. Was wäre ich ohne meinen Willen, den ich eine Stunde lang verloren hatte. Es war schön, sehr schön, aber auch sehr – unklug. Ich will gern stundenlang unklug sein, aber nicht ein Leben lang. Glück auf uns beiden! Winifred.«

Der Begrüßungsbeifall hatte nachgelassen. Mit einem Handgriff war das Telegramm ein Knäuel.

Wegherr sprach.

Er hörte die Töne an sein Ohr dringen, durch den Saal irren und von den Wänden wiederkehren.

Und dann griff er, während er weitersprach, nach dem Tuch in der Brusttasche, um die perlende Stirn zu trocknen, und holte mit dem Tuch ein kleines Bild hervor und legte es vor sich auf das Pult und riß es mitten durch.

Einen tiefen Atemzug tat er.

Nun war er ruhig.


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