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Ernst Wegherr trat aus seinem Schlafzimmer in das nebengelegene Arbeitszimmer und sah die Postsachen durch, die auf dem Tische lagen. Seine Gedanken waren noch nicht bei der Sache. Sie waren in den letzten Tagen überhaupt noch nicht bei der Sache gewesen. Aber nun sollte eingegriffen werden. Er hatte Fräulein van Weert zur Arbeit herbestellt.
Er saß vor dem Schreibtisch und überflog die Briefe. Zuschriften von Vereinen und Gesellschaften, Grüße von irgendwo gewonnenen Verehrern, allerlei Wünsche und Bettelbriefe. Er kannte den Inhalt, wenn er zwei Zeilen gelesen hatte.
Plötzlich stutzte er, lehnte sich überrascht zurück und las in tiefer Bewegung.
An der Tür klopfte es. Achtlos rief er: »Herein.« Es war Gertrud van Weert, die er erwartet hatte.
»Legen Sie, bitte, ab, Fräulein van Weert. Ich erhalte soeben eine seltsame Mahnung an die Heimat. Einen Gruß meiner früh verstorbenen Mutter könnte man es nennen. Es trifft zu, was die alte Frau mir schreibt, die mir diesen Brief aus einem kleinen Nest in Pennsylvanien herübersendet. Die Erde ist so winzig klein.«
»Es hat Sie aufgeregt?« fragte Gertrud van Weert.
Er hielt eine Weile den Kopf in die Hand gestützt. Der Brief lag in seinem Schoß.
»Meine Mutter,« sagte er dann vor sich hin. »Meine Mutter ... Wäre sie leben geblieben, hätte ich mir manchen Rat und manchen Trost bei ihr holen können.«
Er ließ die Hand sinken, nahm den Brief auf und reichte ihn ihr hin.
»Es ist nur eine Anfrage. Und doch berührt sie mich gerade heute wie Mutternähe. Lesen Sie.«
Sie hielt den Brief ehrfürchtig in der Hand. Nur wenige Zeilen standen auf dem Papier, und sie lauteten:
»Mein Herr! In der Neuyorker Zeitung, die ich halte, las ich von Professor Doktor Ernst Wegherr aus Deutschland, der von einer großen Amerikafahrt nach Neuyork zurückgekehrt sei und im Hotel Astor Wohnung genommen habe. Sollten Sie derselbe Ernst Wegherr sein, dessen Mutter vor achtunddreißig Jahren in der Herzbachstraße starb, als ihr Ernst fünf Jahre alt war, so kann ich Ihnen mitteilen, daß ich die Krankenschwester bin, die Ihre Mutter in den letzten Monaten ihres Lebens pflegte und in deren Armen sie den letzten Seufzer tat. Ihre letzten Worte galten ihrem Jungen, den sie über alles liebte, und ich könnte Ihnen davon erzählen, sollte Sie der Weg in diese kleine pennsylvanische Stadt führen, in der ich seit meiner Verheiratung – seit fünfunddreißig Jahren – lebe. Mit hochachtungsvollem Gruße – Frau Gustav Bender.«
Still faltete Gertrud van Weert den Brief zusammen und reichte ihn Wegherr zurück.
»Nun hören Sie in einem fremden Erdteil von Ihrer Mutter. Von einer Mutter, die ihren Jungen über alles liebte. Da steigt die Mutterliebe aus dem Grab und kommt über das Meer.«
»Als wäre sie mir gerade heute vonnöten. Als wüßte sie von meinen wirren Gedanken und möchte mich aufrichten und leiten.«
»Es gibt Mütter,« sagte Gertrud van Weert mit trauriger Stimme, »die aus dem Grabe heraus ihren Kindern noch mehr sein können als manche lebende.«
»Nicht traurig sein, Fräulein van Weert. Ich weiß so wenig von meiner Mutter. Aber daß sie mir viel war und noch viel mehr hätte werden können, das spürte ich zeitlebens an der Leere, die sie in mir hinterlassen hat. Es ist wohl für ein Kind das Schwerste, ohne Mutter aufzuwachsen. Man hat niemand, den man mit Fragen bestürmen, niemand, dem man seine Sorgen und Anfechtungen anvertrauen kann, denn der Vater ist immer eine Respektsperson und das Muster von überragender Klugheit. Da wagt man sich nicht leicht heran, denn das Kind will das Herz zur Hilfe und nicht den Verstand. Wer ohne Mutter ausgewachsen ist, Fräulein van Weert, wird in Herzensdingen viel Reugeld bezahlen müssen.«
Sie stand, die Hände auf den Tisch gestützt, und blickte vor sich nieder.
»Ich wenigstens,« fuhr er fort, »ich habe es bezahlen müssen. Es ist mir kein Pfennig geschenkt worden, daß ich unvorbereitet zum Rennen kam. Ich erforschte das Leben von Jahrtausenden und weiß fast nichts vom Leben einer Frau. Kommen Sie, wir wollen arbeiten.«
Sie setzte sich still an den Tisch, klappte die Schreibmaschine auf und bereitete alles vor. Dann wartete sie. Und Wegherr ging im Zimmer umher, suchte die Verbindungsfäden seiner Arbeit und begann zu diktieren. Rastlos, über die Mittagsstunde hinaus, bis die frühe Winterdämmerung hereinbrach.
»Mein Gott,« unterbrach er sich plötzlich, »es ist vier Uhr. Seit sechs Stunden halte ich Sie an der Maschine. Da lasse ich Sie Ärmste nun dafür leiden, daß ich mich im Vergessen übe. Mädel, weshalb sagen Sie aber auch keinen Ton, daß Sie müde sind und nicht mehr mittun?«
Sie hob den Kopf. Ihr Gesicht war abgespannt. Aber sie zwang ein Lächeln hervor.
»Ich bin ja gar nicht müde,« sagte sie leise, »und ich bin doch immer froh, mittun zu dürfen.«
Er legte ihr ganz sacht die Hand auf die Haarflechten. Sie hielt stand, ohne zu zucken.
»Sehen Sie mich einmal an. Da haben wir's. Kein Tropfen Blut im Gesicht. Wenn Sie mir jetzt krank werden und liegen in Ihrer Pension, kann ich Sie nicht pflegen.«
»Nein, nein – ich mache Ihnen keine Sorge.«
»Für Sie täte ich es zum zweiten und zum dritten Male. Herrgott, die Tage am Grand Cañon in Arizona. Was für ein liebes Ding die große Gertrud van Weert war, als sie wie ein kleines Mädchen krank in den Kissen lag.«
Sie hielt noch immer seinem Blicke stand. Aber es war ein Schleier über ihren Augen.
»Ich bin nie eine große Gertrud van Weert gewesen.«
»Doch, doch! Darin liegt's ja gerade, daß Sie es nicht wissen. Und gefürchtet haben Sie sich auch vor dem wildfremden Mann.«
»Nein,« sagte sie, und das Lächeln kam aus weiter Ferne wieder. »Ich habe mich auch nicht eine Sekunde gefürchtet. Sie waren es ja.«
»So – so –« und er zog still die Hand von ihrer Haarkrone zurück – »ich war's ja. Ist das ein Vertrauen oder – ein Belächeln?«
»Nicht so!« bat sie, und ihre Nasenflügel zitterten.
»Verzeihen Sie, Fräulein van Weert. Wir wollen weiter arbeiten. Nein – das ist ja Unsinn, es ist ja dunkel, und ich lass' Sie hungern wie ein grausamer Sklavenhalter. Dafür sollen Sie aber auch für den ganzen Abend von meinem Anblick befreit sein.«
Sie packte wortlos Maschine und Schreibpapier zusammen. Sie fühlte, daß er litt. Daß er an einer Unruhe und Rastlosigkeit litt, die sich seit Tagen steigerte. Und daß sie nicht helfen konnte und im dunkeln tastete, fühlte sie wie einen wahnsinnigen Schmerz. Wo war ihre alte Unbefangenheit, zu fragen und zu trösten? Die hatte sich in Scheu verwandelt, und sie wußte doch keine Ursache dafür zu nennen.
Aber so konnte sie doch nicht von ihm gehen. In dieser Stimmung konnte sie ihn doch nicht zurücklassen. Sie holte tief Atem und wandte sich nach ihm um.
»Ja, Fräulein van Weert?«
»Werden Sie die alte Frau in Pennsylvanien besuchen, die Ihnen geschrieben hat?«
»Richtig, die alte Frau. Ja, das werde ich wohl tun. Ich bin ja bald hier fertig. Zwei Vorlesungen hier, eine in Boston – dann kann ich Abschiedsbesuche machen und auch der alten Frau in Pennsylvanien die Hand drücken.«
»Abschiedsbesuche?« – – fragte sie und hörte doch kaum ihre Stimme.
Er stand am Fenster, und ihre Frage war nicht an sein Ohr gedrungen. »Ich habe eine Sehnsucht,« murmelte er gegen die Scheiben, »eine Sehnsucht! – – Da läuft ein Tag nach dem anderen hin, und nun sind wir schon im Januar des neuen Jahres.«
Er wandte sich um und sah Gertrud van Weert am Tische stehen. Plötzlich trat er auf sie zu.
»Wollen Sie mir eine Freundlichkeit erweisen? Mir ein Opfer bringen? Ich meine, ich wäre noch nie so einsam gewesen wie heute, und war es doch gestern genau so. Seit Jahr und Tag, wenn ich es bei Licht betrachte. Aber heute spüre ich es bis zur Unerträglichkeit.«
»Sagen Sie doch, was Sie wünschen. Ich tue es doch gern.«
»Nicht fortgehen. Oder fortgehen und wiederkommen. Schenken Sie mir den Abend. Ich werde zwar kein sehr lustiger Gesellschafter sein, aber in Ihrer Nähe weicht doch dieses unerträgliche Einsamkeitsgefühl. Wir wollen in die Oper gehen. Da sitzen wir beieinander und brauchen kein Wort zu sprechen. Wie schön war es, als wir den ›Parsifal› miteinander hörten. Den deutschen ›Parsifal‹ auf amerikanischem Boden.«
»Sie haben Heimweh,« sagte sie leise.
»Ja, ich hab's und wehr' mich dagegen. Was finde ich daheim? Gespenster, Klatsch und Tratsch. Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, ob Sie mit mir in die Oper gehen wollen. Sie beginnt um acht. Bitte, schlagen Sie es mir nicht ab.«
»Müssen Sie mich um etwas bitten? Ich soll doch eine Freude haben. Aber ich käme auch ohne die Lockung, das sollten Sie wissen.«
Sie nickte ihm freundlich zu, zog den Schleier über den Hut und eilte heim. Um halb acht Uhr ließ sie zu ihm hinaufsagen, daß sie ihn in der Hotelhalle erwarte. Wenige Minuten später gingen sie über den Broadway zum Opernhaus.
Bizets »Carmen« stand auf dem Programm. Wegherr war es gleich. Er nahm eine Loge und geleitete Gertrud van Weert hinein. Ein großer Abend war angekündigt, gefeierte Gäste nannte das Programm, das Haus war ausverkauft, und die Ränge und Logen zeigten ein schimmerndes Gesellschaftsbild, Frauennacken, von Perlenschnüren umwunden, weiße Büsten, von Diamanten betaut, und zu den künstlerisch schönen Gewändern seltsame Kopfputze in grellfarbigen Federn, als gäben sich indianische Nachkömmlinge ein Stelldichein.
Gertrud van Weert saß in ihrem enganliegenden schlichten Kleid wie ein Fremdling in ihrer Loge. Was gingen sie die Damen Neuyorks, was gingen sie die Damen der ganzen Welt an. Sie trug Sorge um den Mann an ihrer Linken, den immer Starken und Zielbewußten, den es, seitdem sie Neuyorker Boden betreten hatten, gepackt hatte wie eine Krankheit. Was war ihm? Was war ihm nur?
Der erste Akt spielte schon seit geraumer Zeit. Sie hatte nicht acht darauf gehabt, so schwer trug sie an ihrer Sorge. Nun zwang sie Carmens wildes Liebeslied, den Blick auf die Bühne zu richten. »Und wenn ich lieb' – und wenn ich lieb' – nimm dich in acht!« drang es heiß und herausfordernd an ihr Ohr. Und sie sah Carmens rote Rose wie einen Blutstropfen in Don Josés männliches Antlitz schnellen. Sah sein Herz im Feuer flackern. Hörte noch einmal Carmens Lockruf, girrend, verheißungsvoll: »Draußen, am Wall von Sevilla! ...« Der Vorhang sank.
Und aus der kleinen Nebenloge wandte sich eine hochgewachsene Dame, die erst während des Spiels ihre Loge betreten hatte, über die Brüstung Wegherr zu und sagte in vertrautem Tone: »Guten Abend, Ernst. Das nenn' ich ein unerwartetes Wiedersehen. Auf amerikanischem Boden.«
Erschreckt blickte Gertrud van Weert auf ihren Begleiter. Er war totenblaß geworden, als er die Hand, die sich ihm entgegenstreckte, nahm. Und seine Stimme hatte einen rauhen, heiseren Klang.
»Guten Abend, Margarete,« antwortete er. »Das ist in der Tat unerwartet. Es geht dir gut?«
»Ausgezeichnet,« sagte die schöne Frau. »Besonders in diesem Augenblick, der mir eine so freudige Überraschung beschert. Ich freue mich wirklich, Ernst.«
»Du bist schon lange in Neuyork?«
»Nicht sehr lange. Ich kam in der Weihnachtswoche herüber. Ich gastiere in einigen meiner Hauptrollen am Irving-Place-Theater. Wußtest du es nicht?«
»Nein, das wußte ich nicht. Ich lebe hier meinen Studien. Sehr zurückgezogen.«
»Du betonst deine Zurückgezogenheit so sehr, als ob du einen Einbruch von mir befürchtest. Du bist mir doch nicht mehr böse, Ernst?«
»Ich bin dir nicht mehr böse, Margarete. Ich hab' das alles ja vergessen.«
»Wirklich?« Sie lächelte ihn ungläubig an. »Kann man das? Ich habe es nicht gekonnt.«
»Margarete,« sagte er leise, »wollen wir beim ersten Wiedersehen schon wieder Komödie miteinander spielen? Laß das nun begraben sein.«
Sie ließ ihre Augen voll auf ihm ruhen, als ahnte sie nicht, daß sie ihn quälte.
»Du siehst vorzüglich aus, Ernst. Gebräunt und wetterfest. Das Leben in den Prärien hat dir gut getan. Siehst du, wie ich deinem Leben mit Aufmerksamkeit gefolgt bin? Weihnachten erst las ich in der Zeitung einen glänzenden Artikel über dich und deine Triumphe und bin von Stund an oft im Hotel Astor gewesen, in der heimlichen Hoffnung, dich zu sehen.«
Und plötzlich wußte Wegherr es: Daher die Unruhe, die an mir zerrte und riß und mich vertreiben wollte.
Und die Stimme neben ihm sprach weiter: »Es glückte mir nicht. Entweder du lebtest wirklich so ganz zurückgezogen, oder du wußtest Besseres zu beginnen, als im Hotel Astor dich der Gesellschaft zu zeigen. Du warst schon in Deutschland jemand, aber in Amerika bist du doch eine Berühmtheit, die sich nicht ohne Grund zurückziehen sollte.«
Ein Blick der schönen Frau traf Gertrud van Weert. Ruhig und prüfend kam der Blick, ein wenig hochmütig und ein wenig spöttisch. Und Gertrud van Weerts dunkle Augen nahmen ihn auf, und die schöne Frau las einen heiligen Ernst in diesen Augen.
Nein, dachte Wegherr finster, ich werde sie nicht miteinander bekanntmachen. Das bin ich dem tapferen Mädchen schuldig.
»Gedenkst du länger zu bleiben, Margarete?« fragte er und riß sich zusammen.
»Solange es mir gefällt. Jedenfalls bis zum Schluß der Spielzeit. Du könntest ja das Deine dazu tun.«
»Ich?« – stieß er überrascht hervor. »Wie könnte meine Person dabei in Rechnung gestellt werden? Du scherzest, Margarete.«
»Nun, nun, nun,« und sie lachte ihn an wie ein schmollendes Kind, »wirf das nicht gleich so schrecklich weit von dir. Waren wir nicht einmal gute Kameraden, Ernst? Das ist doch nicht wegzuleugnen? Und inzwischen sind wir um so vieles vernünftiger geworden. Da ist doch kein Hinderungsgrund, die gute Kameradschaft wieder aufzunehmen? In der Fremde gleicht sich so manches aus und erscheint nur noch töricht und unerfindlich in seinen Beweggründen. Also auf gute, neue Kameradschaft im freien Amerika, Ernst.«
Er blickte angestrengt nach der Bühne. Ein Klingelzeichen hatte die Besucher auf ihre Plätze zurückgerufen. Der Kleiderrock Gertrud van Weerts streifte sein Knie, und er sah sie in ihrer stolzen Jungfräulichkeit, ohne den Kopf nach ihr zu wenden. Was muß sie hier erdulden, dachte er.
Die hochgewachsene Frau in der Nebenloge wartete auf Antwort. Sie glaubte den Mann im Kampf mit sich selbst und griff heiter ein.
»Ich mache dir gleich einen Vorschlag, Ernst. Wollen wir nach der Oper zusammen speisen? Irgendwo, wo es hübsch ist und Musik und die beste Gesellschaft von Neuyork. Deine Begleiterin wird sich gewiß gern anschließen.« Sie beugte sich vor, und wieder traf ihr Blick Gertrud van Weert, herablassend und ein wenig spöttisch wie zuvor. »Willst du mir die junge Dame nicht vorstellen, Ernst?«
»Nein!« sagte er hart und kalt, daß Gertrud van Weert ihre Hände ineinanderkrampfte.
Der Vorhang war hoch. Dort, auf der Bühne, war Carmens Reich. Das Zigeunerlager ...
Wegherr saß, die Hände über die Brüstung gestreckt, und horchte den Klängen der alten Zaubermusik. Aber sie berauschte sein Blut nicht mehr. Sie hatte für seine Sinne nur noch ein künstlerisches Interesse. Dieser Don José war liebestoll. Das sollte vorkommen, das kam wohl alle Tage vor, daß ein girrendes Zigeunerwesen mehr über den Mann vermochte als die reinste Micaëla. Das Wort eines berühmten Kapellmeisters fiel ihm ein, der es aus seinem abenteuerlichen Leben wissen mußte: »Glauben Sie mir, an den liederlichsten Rackers hängen wir Mannsleut' fester als an den besten Weibern.«
Er glaubte es ihm. Er glaubte ihm die Mannsleut', aber nicht die Männer.
Mit gespannter Aufmerksamkeit horchte er auf die heißen Melodien, bis der Akt zu Ende ging und der Vorhang sich senkte.
Hellerleuchtet lag das Haus, und nach den begeisterten Beifallskundgebungen war des Lachens und Schwatzens kein Ende. Wegherr wandte sich Gertrud van Weert zu. Er hatte ihren Blick verspürt.
»Wollen wir gehen?« fragte sie hastig, und die Angst sprach aus ihrer Stimme.
Er sah sie groß an.
»Das Feld räumen? Halten Sie mich für einen Verbrecher?«
Da schwieg sie, betroffen von seinem schroffen Ton.
Neben ihm saß die schöne Frau, weit zurückgelehnt, und fesselte in ihrem wilden Reiz die Blicke der Bewunderer.
Während des nächsten Aktes aber war sie verschwunden.
Das Spiel war aus. Der Vorhang hob und senkte sich zum letzten Male. Wegherr half seiner Begleiterin in Jackett und Pelz und führte sie die Stufen hinab zum Ausgang. Es war kalt und feucht, und Gertrud van Weert schauerte in den Schultern.
So gingen sie eine Weile nebeneinander dahin, ohne zu sprechen.
»Weshalb fragen Sie nicht?« brach er endlich das Schweigen. »So fragen Sie doch.«
»Was soll ich fragen?« erwiderte sie still. »Sie sind traurig. Mehr brauch' ich nicht zu wissen.«
»Traurig?« lachte er auf. »O nein. Ich habe nur wieder diesen Geschmack auf der Zunge, diesen – diesen – Also fragen Sie doch schon. Wer die Dame war, möchten Sie wissen, die Dame, die so vertraulich zu mir tat, als ob sie das Recht dazu gestohlen hätte.«
»Nein,« sagte Gertrud van Weert, »ich wünsche es nicht zu wissen. Ich möchte nur, daß Sie nicht mehr daran denken, wenn es häßlich war.«
»Ich will es Ihnen sagen. Es war meine Frau. Meine geschiedene Frau.«
Sie ging schweigend an seiner Seite weiter.
»Nun? Sie antworten mir nicht.«
»Ich hatte es mir gedacht,« sagte sie, »und ich bitte Sie wegen des Wortes ›häßlich‹ um Verzeihung. Sie ist sehr schön.«
»Finden Sie sich weniger schön?« rief er heftig.
»Nein.«
Das kam klar und stolz, und seine Heftigkeit verflog.
»Gott sei Dank,« murmelte er, »ich glaubte schon, Sie hätten kein Blut mehr in den Knochen. Das hätte ich jetzt nicht ertragen.«
Und unwillkürlich begann er aufs neue.
»Ich spürte es an der Luft, seit Wochen schon. Es lag etwas in der Luft, was mich belastete, und Sie haben es wohl bemerkt und es mit mir tragen müssen. Da ist so viel innere Unreinheit, so viel, von dem ich einer anderen Frau nicht sprechen kann, und wenn sie tausendmal meine Schwester wäre. Gerade dann nicht. Wenn ich daran denke, komme ich mir selber vor, als hinge mir noch etwas davon an, was auf meine Umgebung abfärben müßte. Und wenn es nur die stumme Frage im Blick einer anderen wäre: ›wie hast du das nur so lange mitmachen können?‹ Nun haben Sie sie gesehen. Nun werden Sie vielleicht begreifen, daß man sich nicht so schnell loslösen kann und immer wieder hinter der Hoffnung herjagt: das ist eine Übergangszeit, das sind Launen, in dieser schönen Frau, die eine so große Künstlerin ist, muß doch eine große Seele wohnen. Weder eine große, noch eine kleine. Nur Trieb, fiebernde Neugier, Ehrsucht, und jeder Partner war ihr recht, auf der Bühne wie im Leben, wenn sie nur über ihn herrschen konnte. Und zu diesen Partnern habe ich auch einmal gezählt.«
»Nein,« sagte Gertrud van Weert. »Das haben Sie nicht.«
»Nicht? Nun, ich bin dazu gezählt worden. Ist das etwas anderes? Als Hauptpartner noch dazu, der nicht aus der Rolle fallen durfte, solange er ihr nicht das Haus verbieten konnte. Das bleibt sitzen wie ein Fleck im Rock. Darüber mache ich mir nichts weis. Oder was glauben Sie, weshalb ich nach Amerika gegangen wäre und wie ein Heimatloser herumirrte? Weil ich daheim keine anständigen Menschen mehr in mein Haus führen kann, und wenn es auch ein anderes Haus wäre. Die Erinnerung zieht mit um. Die kann ich keinem als Gastgeschenk zumuten.«
»Das ist keine Erinnerung. Das ist ein Unglücksfall. Deswegen zweifelt kein Mann an seinem Glück.«
»Und läßt sich von einer anderen Frau die verstauchte Hand verbinden. Meinten Sie nicht so?«
Sie ging mit fest geschlossenen Lippen, um das Zucken ihres Mundes zu bändigen. Und sie nahm alle ihre Kraft zusammen.
»Es ist noch nicht so lange her, daß ich ganz verlassen war und irgendwo in der Wildnis krank lag. Sie sahen, daß ich litt, und taten nichts als mich gesund pflegen. Heute sehe ich, daß Sie leiden, und nun ist die Reihe, zu pflegen, an mir.«
»Wir sind hier an Ihrem Hause,« sagte er und blieb stehen. »Nehmen Sie herzlichen Dank für Ihr freundliches Mitleid. Aber wir wollen uns lieber auf die Arbeit freuen. Recht gute Nacht, Fräulein van Weert.«
Was will er denn nur? dachte sie todtraurig, als sie ihr Zimmer suchte. Was will er denn nur? Soll ich ihm meine Hilfe denn aufdrängen? Nein, das will er ja gar nicht.
Und dann fiel ihr ein, als sie ihr Lager aufgesucht hatte und nicht einschlafen tonnte, was er ihr von der fehlenden Mutterliebe gesagt hatte. »Wer ohne Mutterliebe aufgewachsen ist, Fräulein van Weert, wird in Herzensdingen viel Reugeld bezahlen müssen.« Das war es. Und er hatte gezahlt und fand sich nicht mehr zurecht. Nicht mehr in anderen Herzen.
In den nächsten Tagen war Wegherr ruhig und gefestigt bei seiner Arbeit. Sein Wesen war freundlich und gefällig, und doch spürte Gertrud van Weert eine leise Zurückhaltung heraus. Sie empfand es wohl, daß nicht Mangel an Vertrauen ihn abhielt, wie sonst mit ihr über alles, was seine Seele bewegte, zu sprechen. Ihr weibliches Gefühl sagte ihr bald, daß seine Zurückhaltung eine Schonung bedeuten sollte, und es tat ihr wohl und wehe zugleich, ihn in seiner Vorsicht zu gewahren, die sie mit sorglicherer Vorsicht noch erwiderte.
Diese stille Rücksichtnahme aufeinander mußte bald eine Wirkung zeitigen, die sie selbst nicht gewünscht und vorausgesehen hatten. Ihre Gespräche stockten mehr und mehr. Was übrigblieb, ging nicht über die notwendigsten Redensarten hinaus, und zwischen den Menschen, die kein Geheimnis vor einander gekannt hatten, versank die Brücke immer mehr, über die sie fast zu jeder Stunde lachend zueinander geeilt waren. Ein leerer Raum hatte sich aufgetan, und sie standen hüben und drüben in tödlicher Verlegenheit, und jede aufklärende Frage erschien ihnen plötzlich anmaßend und überheblich.
So kam es, daß aus lauter Schonung eine Entfremdung geboren wurde, die nichts war als ein Versiegen des Wortes in aller Überfülle der Empfindungen. Und sie gingen miteinander um, als sähe jeder im anderen den Kranken, und jeder lehnte sich im Innern gegen die Rücksichtnahme auf, zürnte in der Stille und verdoppelte die eigene Sorgfalt.
Täglich, nach wenigen Stunden schon, unterbrach Wegherr sein Diktat und zog die Uhr.
»Ich überanstrenge Sie wieder, Fräulein van Weert. Wir wollen eine Pause machen und am Nachmittag fortfahren.«
»Es ist aber doch jetzt Ihre beste Arbeitszeit. Und ich habe mich nie so frisch gefühlt wie heute.«
»Wirklich, Fräulein van Weert, es ist besser für Sie. Wir wollen jedenfalls eine Pause machen.«
Sie nahm die Hände von den Tasten der Schreibmaschine und legte sie auf der Tischplatte übereinander.
»Soll ich bleiben oder wiederkommen? Ich richte mich ganz nach Ihrer Arbeitsstimmung.«
»Arbeitsstimmung?« fragte er erstaunt. »Ach nein, das ist ein Wort, das die Trägen und Unfruchtbaren erfunden haben. Entweder man ist innerlich mit seiner Arbeit fertig und weiß, wie der Weg geht – dann ist Arbeitsstimmung nur noch Arbeitswille. Oder man ist nicht fertig und tappt im dunkeln – dann soll man von vornherein die Finger davon lassen und nicht sein Unvermögen in die interessanten Falten des Stimmungsmäntelchens hüllen. Ich glaube nicht, daß ich dieses Theaterbeiwerk je in Anspruch genommen habe.«
»Das wollte ich doch nicht sagen,« murmelte sie bestürzt.
»Sie haben mich mißverstanden, Fräulein van Weert,« entgegnete er hastig. »Wie käme ich dazu, Ihnen einen Vorwurf zu machen? Ich habe nur ganz im allgemeinen gesprochen. Ganz im allgemeinen. Wenn es Ihnen recht ist, können wir fortfahren.«
Und nun arbeiteten sie weiter und verdoppelten ihre Anstrengungen, nur um dem anderen die ungebrochene Spannkraft zu zeigen, und jeder zürnte sich selbst, daß er nicht klarer gesprochen habe, und dem anderen, daß er ihn mißverstehen konnte.
Die gemeinsamen Abendspaziergänge hatten aufgehört. Wenn Gertrud van Weert ihre Schreibsachen zusammenpackte, hoffte sie sehnsüchtig auf ein einladendes Wort. Und Wegherr dachte: sie beeilt sich, von dir wegzukommen, und blickte stumm aus dem Fenster.
War die Tür zwischen ihnen ins Schloß gefallen, so horchten sie beide angstvoll auf. Und dann litten sie beide den ganzen Abend unter der Trennung und faßten beide mutige Vorsätze, am nächsten Morgen den ersten Schritt zu tun, und standen sich am nächsten Morgen gegenüber und unterließen es, weil jeder vom anderen ein Zeichen erwartete.
Für Wegherr war es leichter, über die Zeit hinwegzukommen. Er besuchte die deutschen Vereine und fand bei aller Vereinsmeierei viel kernhaftes Deutschtum, das nur schamhaft war und ungelenk, weil ihm die großen Zielpunkte in den Wolken zu liegen schienen. Diese Männer waren als Einzelwesen deutsch bis ins Mark geblieben, als Gesamtheit aber waren sie ohne die durchdringende Geltung, die ihre Zahl und ihre Geistesart zu verlangen hatte, denn es fehlte ihnen hier wie überall der feste Zusammenhang und die straffe Gliederung, die nur politisch großzügige Führer zu geben vermögen.
Darüber sprach er in den Versammlungen, und als er die aufhorchende Menge sah, war er der Alte.
»Ich weiß,« sagte er, »daß Ihnen Amerika die neue Heimat geworden ist. Wir brauchen das Wort von der Mutter Germania und der Braut Amerika nicht auf seine Richtigkeit zu untersuchen. Denn die Mutter wird, wenn die Braut es so wünscht und der Mann ihr den Willen tut, leicht auf Schwiegermuttersold gesetzt. Das sind zuletzt Familienangelegenheiten, die ein jeder mit seinem Gewissen abzumachen hat. Etwas anderes aber ist es mit dem deutschen Vermögen, das Mutter Germania ihren Kindern mit auf den Weg gegeben hat, damit sie, die sie vielleicht nie im Leben wieder sieht, der ehrenhaften Familie auch in der Fremde Ehre machen, sich nicht ihres Namens und ihrer Herkunft zu schämen brauchen und stolz vortreten und rufen können: Hier sind wir! Und wir sind von Haus aus auch jemand! Dafür hat Mutter Germania gesorgt, und an Ihnen ist es, weiter zu sorgen. Wir sind kein Kulturdünger, wir sind der Kultur boden!
Das Wort, sie sollen's lassen stahn.
Aber es soll nicht nur ausgesprochen werden, wenn ein heimatlicher Trunk in den Gläsern perlt oder ein Heimatlied erklungen ist. Es muß mit Ihnen gehen zu jeder Beschäftigung des Tages, und Sie müssen sich mit ihm schlafen legen und frühmorgens mit ihm erwachen, bis aus dem Wort die Tat geboren ist. Was aber ist die Tat im Völkerleben? › Vorbereitet sein ist alles,‹ sagt Hamlet, und Sie müssen Ihren Willen zur Hand nehmen und sich vorbereiten im Schweiß Ihres Angesichts und nicht ermatten und verzagen, weil aus der Blüte nicht gleich der reife Apfel bricht. Ohne Schweiß kein Preis. An Urbarmachung und Aufbau des Landes haben Sie den deutschen Schweiß gesetzt. Nun setzen Sie ihn auch an die Anerkennung Ihrer Volksart, Ihres Mitbestimmungsrechtes, Ihrer Regierungstätigkeit zum Ruhme der germanischen Kultur.
Die Geschichte dieser Staaten hat es gelehrt und lehrt es noch auf Schritt und Tritt, daß die Deutschen ein Menschenmaterial darstellen, mit dem eine Welt zu erobern ist. Sind die Deutschen im Haushalt der Völker immer noch bewertet wie Landsknechte, die jeder Trommel folgen und sich mit einer Handvoll Dukaten wieder verlaufen? Gott sei gedankt, diese jammervollen Zeiten sind längst untergegangen im Meere der Vergessenheit. Und die Deutschblütigen Amerikas wissen nicht zuletzt, daß es um Ideale geht, die ihren Nachkommen einst unbezahlbare politische, wirtschaftliche und sittliche Werte darstellen werden. Amerika wird eine einzige Volksgemeinde werden, wird es werden müssen um seines Namens und Ansehens willen. Die Schwächeren und Teilnahmlosen werden aufgesogen werden, die Starken aber werden dem amerikanischen Volk der Zukunft ihren Stempel aufgedrückt haben, bevor auch sie in der großen Volkseinheit untertauchen.
Muß ich Ihnen sagen, wer die Starken zu sein haben? Die germanische Völkerfamilie, die diesem Lande die besten Bestandteile lieferte von Anbeginn an. Und Sie gehören dazu. Sie sind in erster Linie die Vermögensverwalter.
Aber Sie halten sich abseits, und ich erkenne mit Begeisterung an, was jeder Einzelne von Ihnen in heißer Arbeit geschaffen und vor sich gebracht hat für sich und die Seinen. Das deutsche Pflichtgefühl und der eiserne Wille haben sich herrlich bewährt diesseits des Ozeans. Das mochte in einer Zeit genügen, in der alles im Werden begriffen war. Heute genügt es nicht mehr. Die Pflichten wachsen mit Stellung und geistigem Vermögen über das Leben des Einzelnen hinaus in das Leben der Allgemeinheit hinein. Sie haben nicht mehr das Recht, abseits zu stehen und nur um das Wohl und Wehe des eigenen Daches besorgt zu sein, ein Volksteil von fünfzehn, ja zwanzig Millionen hat dieses Recht nicht mehr, er hat hinauszutreten in alle Öffentlichkeit und seine Rechte zu mehren und mit Nachdruck zu pflegen. Die Angloamerikaner gaben Ihnen zeitlebens das Beispiel, und die Irländer sitzen in der Politik und leiten nach Gutdünken das Schicksal der Gemeinden. Die Irländer! Und das soll Ihnen genügen?
Überwinden Sie endlich die Scheu vor der Öffentlichkeit! Steifen Sie den Nacken und schmieden Sie das Schwert der Rede. Ziehen Sie aus den eigenen Reihen die Schar der Politiker heran, die das Schwert der Rede zu schwingen wissen in scharfer Begründung und eine Partei bilden, die die Hoffnung und Blüte des Landes wird. Sie anderen aber, die Sie daheim bleiben, blicken Sie für Stunden auf vom Kurszettel und machen Sie sich heimisch auf der Lebensbörse Amerikas, an der es um Sonne, Mond und Sterne geht und nicht nur um Taler und Groschen. Ich grüße die deutschen Vereine, die deutsches Wort und deutsches Lied zu pflegen und zu erhalten wissen. Mit Bewunderung aber werde ich sie grüßen, wenn die Stunde gekommen ist, in der die deutschen Vereine die Schule geworden sind für Führer und Mannschaften, die dem amerikanischen Deutschtum den Lorbeer des Siegers holen, der seiner gesammelten Kraft längst gebührt.
Und so gedenken Sie der Worte Schillers im ›Wallenstein›, Schillers, Ihres Lieblingsdichters:
O! Nimm der Stunde wahr, eh' sie entschlüpft.
So selten kommt der Augenblick im Leben,
Der wahrhaft wichtig ist und groß!›«
Es lief eine Erregung durch den Saal. Bis in die letzten Stuhlreihen lief sie und kam nicht mehr zur Ruhe. Der dort oben einsam stand und zu ihnen sprach, war ein Kühner, der das Fürchten nicht kannte. Und sie, die sie zu Tausend im Saale saßen und zu Millionen im Lande, sie sollten das Fürchten kennen? Der deutsche Mann, der dort oben stand, legte, ohne des Aufzuckens zu achten, den Finger in die Wunde, aber mit der anderen Hand hob er das heilende Kraut hoch empor. Und die Erregung löste sich in Worten, und die Worte brausten zu Wegherr hinauf und umbrandeten ihn. Der alte › furor teutonicus›.
Vorne aber, ganz nahe dem Rednerpult, saß eine schöne Frau, weit vorgebeugt, mit heißen Augen, als sähen sie ein Gladiatorenspiel.
Jetzt hatte Wegherrs Blick sie getroffen.
So saß sie auch in der römischen Osteria, kam es ihm in den Sinn, als die Maler sich rauften.
Und er wandte den Kopf und hatte sie vergessen.
»Frank Willart – sind Sie es?«
»Ich bin's, Doktor Wegherr, ich bin's! Und glücklich bin ich, Sie wieder gesehen, Sie wieder gehört zu haben. Lassen Sie Beschlag auf sich legen, Doktor Wegherr, lassen Sie diesen Abend uns beiden allein gehören.«
»Er gehört Ihnen. Morgen wollte ich Ihnen schreiben oder zu Ihnen reisen. Nun kann ich das alles heute abend noch mit Ihnen bereden.«
Dann saßen sie in einer stillen Ecke des Astor-Restaurants und sahen sich in die Augen.
»Das werden nun bald anderthalb Jahre, daß Sie auszogen, für unsere große Sache zu werben,« sagte Willart, und über sein kluges Gesicht glitt es wie ein Leuchten des Triumphes. »Es ist gut, Doktor Wegherr, daß Sie nicht wissen, was Sie erreicht haben. Es ist gut für uns, weil Sie sich dieselbe Begeisterung bewahrt haben wie am ersten Tage. Als ginge es heute erst drauf und dran. Wenn ich nicht schon Ihr Freund wäre, so würde ich mir heute als größtes Geschenk Ihre Freundschaft erbitten. Doktor Wegherr, ich werde Ihnen Ihre Aufopferung niemals vergessen.«
»Sie sind mit dem Wachsen des deutschen Bundes zufrieden?«
»Über alles Erwarten. Nur der Funke brauchte in all' die Gelassenheit zu fliegen. Sie waren der Funke.«
»Es ist leichter,« wehrte Wegherr, »ein Feuer zu entzünden, als es zu schüren und zu unterhalten. Die Schwere der Aufgabe liegt auf Ihnen. Aber Sie sind der Mann, der in Amerika gelernt hat, seinen Weg bis ans Ende zu verfolgen.«
»Es ist meine Lebensaufgabe,« sagte Willart, und in seinen sonst so ruhigen Augen blitzte es auf. »Ich möchte nicht eher sterben, als bis ich sie vollendet habe.«
»Und Sie glauben an ihre Erfüllung?«
»Sonst wäre es nicht meine Lebensaufgabe.«
Wegherr reichte ihm die Hand. »Und ich glaube an Sie. Der Führer erst macht die Armee.«
»Sie sind so feierlich, Doktor Wegherr. Ist der Rausch des Abends so spurlos an Ihnen vorübergegangen?«
»Ich fühlte,« sagte Wegherr und blickte ins Weite, »wieviel zu tun noch übrigbleibt. Und der Gedanke stimmte mich ernst, daß ich in Zukunft nur noch Zuschauer aus der Ferne sein würde. Ich lasse ein paar Tropfen Herzblut in diesem Lande zurück.«
»Sie wollen – uns verlassen? Doktor Wegherr, hier ist Ihr Platz, hier steht Ihre Leiter, die zur Höhe führt.«
Wegherr schüttelte den Kopf.
»Sie irren. Es gelüstet mich nicht nach der Leiter. Mein Weg geht dorthin, wo ich glaube gebraucht zu werden, im Geiste des Deutschtums gebraucht zu werden. Mehr kann ich an Amerika nicht abgeben, als ich tat. Aber in Deutschland hoffe ich am Platze zu sein.«
»Ich verstehe Sie,« antwortete Willart nach einer Weile. »Es ist ein schmerzliches Verstehen, aber darum muß ich ihm doch Folge geben. Sie wollen für die alte Heimat nutzbringend anlegen, was Sie in der neuen erforschten.«
»Auf gute Kameradschaft, Frank Willart,« sagte Wegherr in tiefer Ergriffenheit und hob sein Glas. »Auf daß unsere Wege immer nebeneinander laufen.«
»Ich darf Sie nicht halten, Doktor Wegherr. Ich darf Sie nur bitten: lassen Sie sich, lassen Sie uns noch Zeit.«
Wegherr preßte die Lippen zusammen. Sein Atem ging schwer.
»Sie werden es nicht verstehen, was ich Ihnen sage. Ich halte es nicht mehr aus. Nicht wahr, das verstehen Sie nicht.«
»Ja,« erwiderte Willart ernst, »ich verstehe. Man kann es nur nicht in Worte fassen.«
»Nein, das kann man nicht. Und über ein kurzes noch, und es verschlägt mir auf dem Rednerpult die Rede.«
»Wann wollen Sie reisen, Doktor Wegherr?«
»Ich habe noch einen Besuch in Boston zugesagt. Das würde in einer Woche, Mitte Februar sein. Vorher aber will ich noch einmal nach Pennsylvanien, von Freund Wuppermann Abschied nehmen und mir bei einer alten Frau Grüße holen.«
»Sie versprechen mir, daß ich Sie vor Ihrer Abreise noch sehe?«
»Ich verspreche es Ihnen.«
Und dann saßen sie bis tief in die Nacht und besprachen die Fragen, in deren Zeichen sie sich gefunden hatten, als gälte es eine neue gemeinsame Wanderung und nicht einen Abschied.
Am nächsten Morgen kam Gertrud van Weert. Sie war fröhlicher als sonst. Sie kam, um ihm zu sagen, daß sie ihn am Abend gehört und ihn verstanden hätte. Daß sie ihm zu danken hätte und ihn bitten wollte, nun auch wieder wie früher zu ihr zu sein. Aber als sie den tiefen Ernst in seinen Zügen gewahrte, kroch die Fröhlichkeit zurück.
Er diktierte bis gegen Mittag. Dann brach er ab. »Es ist genug.«
Beklommen blickte sie auf ihre Arbeit. Er hatte ihr noch etwas zu sagen. Sie fühlte es, ohne ihn anzusehen.
»Fräulein van Weert, dies war das letzte Diktat in Neuyork.«
Da war es. Ihr Herz hatte ausgesetzt, während er sprach. Jetzt, da er schwieg, schlug es, daß es ihr den Atem benahm.
»In – Neuyork?« stieß sie hervor.
»Wenn ich ›in Neuyork‹ sagte, so meinte ich – in Amerika.«
Und wieder setzte ihr Herzschlag aus, und es wurde so dumpf in ihr, daß das Geräusch der Straße nur wie ein Tönen aus anderen Welten zu ihr drang.
Was war ihr? Was tat sie? Nein, das durfte nicht sein. Nicht wie irgend ein kleines Mädchen sich benehmen. Nur nicht das. Herrgott, Fassung. Was ging das einen anderen an, daß sie wieder einmal geträumt hatte, von Ruhe, Glück und – und – tausend namenlosen Dingen. Das war jetzt ihr Kapital. Das durfte sie nicht um seinen Wert bringen. Davon mußte sie leben, weiter leben. Ja – so war es.
Sie riß sich zusammen und fand die Kraft, sich ruhig zu erheben.
»Sie meinen, es sei an der Zeit, Abschied zu nehmen?«
»Ich reise morgen früh zu unserem Freunde Wuppermann nach Pennsylvanien. Ich wollte Sie bitten, mit mir zu reisen, weil ich annahm, es würde auch Sie freuen, die Stätte, an der so viele Erinnerungen hängen, noch einmal wiederzusehen. Freilich, wenn es Sie so sehr drängt, Abschied von mir zu nehmen –«
»Mich? Sie gaben es mir doch zu verstehen. Wie sollte es mich dazu drängen?«
Er atmete erleichtert auf.
»Das freut mich von Herzen, Fräulein van Weert, daß Sie mit mir kommen wollen.«
»Zu Wuppermanns? – – Nein.«
»Nein?« fragte er erstaunt. »Darf ich fragen, weshalb gerade dorthin nicht?« Er runzelte die Stirn. »Fräulein van Weert, ich hoffe, ich habe Ihnen niemals Anlaß zur Klage gegeben. Ist es – ist es vielleicht eine Schande, meine Privatsekretärin gewesen zu sein?«
»Nein, es ist keine Schande,« murmelte sie. »Aber ich kann nicht mit Ihnen zu Wuppermanns. Ich kann nicht.«
»Sie – schämen sich Ihrer Arbeitsstellung zu mir?«
»Ich habe mich noch nie einer Arbeit geschämt,« stammelte sie. »Das war doch ein großes, ein geradezu unverdientes Glück, daß ich bei Ihnen sein konnte. Aber ich bitte Sie darum, erlassen Sie mir diese Fahrt.«
»Sie wollen mir den Grund nicht sagen?«
»Nein – ich kann es nicht.«
»So muß ich also dabei bleiben, daß Sie sich vor Ihren Freunden der Zeit schämen, die uns einmal gehörte. Arme Schwester.«
Sie riß den Schleier herunter. Er sollte es nicht sehen, daß ihr die Tränen in die Augen stürzten.
»Sie haben kein Recht, an meiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Nein, das haben Sie nicht!«
»Sie wollen gehen? Ohne mir die Hand gereicht zu haben? Was werden Sie tun, während ich auf Reisen bin? In acht Tagen denke ich zurück zu sein.«
»Wenn Sie – wünschen, – telephoniere ich – von meiner Pension aus – an.«
»Ich werde Sie aufsuchen, Fräulein van Weert.«
Er ging zum Fenster und rang nach einem Wort. Nach einem Wort wie in alter Zeit. Als er sich umwandte, hatte sie das Zimmer verlassen.
Und dann saß er vor seinem Schreibtisch, Stunden um Stunden, bis die Dunkelheit hereinbrach, bis es Nacht wurde.
»Sie läßt mich allein,« sagte er laut in das Dunkel hinein und dachte nicht daran, daß auch er sie allein gelassen hatte.
Er straffte sich und begann mechanisch, seine Koffer zu packen.
»Nun freue ich mich nur noch auf die alte Frau in Pennsylvanien. Nun freue ich mich nur noch auf das bißchen tote Mutterliebe.«