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Fräulein van Weert – mein Gott, wie kommen Sie denn so plötzlich hierher? Geschehen denn Zeichen und Wunder?«
Wegherr hatte sich von seiner ersten Überraschung erholt. Er war rasch auf das junge Mädchen zugeschritten und hatte ihre kalten Hände erfaßt.
»Es ist gar nicht plötzlich,« sagte sie und schüttelte den Kopf, »und auch kein Zeichen und kein Wunder. Es ist nun fast ein Jahr, daß ich mir vornahm, zuerst hierher zu reisen, wenn mein Vertrag am Damen-College endlich abgelaufen sein würde. Vor acht Tagen trat das ein.«
»Und gerade Colorado Springs hatten Sie sich als Reiseziel gesetzt? Und den ›Garten der Götter‹ im Felsengebirge? Wie seltsam.«
»Nein,« erwiderte sie und sah sich langsam im Kreise um, »nicht seltsam. Es gab gar nichts Natürlicheres für mich. Von Colorado Springs aus begannen Jan und ich unsere Wanderfahrt. Immer den Schienen nach, die er legte. Und hierher, in den Garten der Götter, führte er mich zuerst, um mich an die Größe und Wildheit des Landes zu gewöhnen. Da wollte ich noch einmal hier beginnen.«
»Beginnen, Fräulein van Weert?«
»Ja,« sagte sie, »das muß ich nun schon. Davon habe ich ja das ganze letzte Jahr geträumt. Mir ein bißchen Freiheit zu retten und in Freiheit zu dienen. Nun möchte ich noch einmal den Weg gehen, den ich mit meinem Bruder gegangen bin, all das Große und Schöne noch einmal sehen und mir den frischen Atemzug holen für all das, was nachher kommt und auf mich wartet.«
»Was wartet, Fräulein van Weert?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich wieder hier bin und mir ein paar gute Stunden hole. Die werden mir dann helfen.«
»Sie werden sich nur neue Sehnsucht holen, Fräulein van Weert. Sie müssen sich nicht quälen.«
»Quälen?« fragte sie verwundert. »Menschen wie ich leben von der Sehnsucht wie andere von der Erfüllung. Das ist unsere Freude, die uns trägt.«
»Und jetzt frieren Sie trotz aller Ihrer Sehnsucht und Freude, wie ein ganz kleines Mädchen nur frieren kann. Bitte, da gibt es keine Abwehr. Schiffbrüchige helfen sich gegenseitig mit allen Kräften. Erst muß der Schnee herunter. Stillgestanden.«
Sie streckte sich und ließ es geschehen, daß er ihr den Schnee von den Schultern und aus den Kleidern fegte. Sie schüttelte sich unter der Nässe und Kälte, die sie plötzlich bis ins Mark verspürte. »Warten Sie,« sagte er, »dem werden wir schon abhelfen,« rollte seinen Wettermantel auseinander und hüllte sie von Kopf bis zu den Füßen hinein. »Jetzt sehen Sie aus wie der heilige Knecht Ruprecht von daheim, nur nicht so alt.« Und er zog die Kapuze über ihren Hut und schloß unter ihrem Kinn den Knopf. »Nun, wie ist Ihnen?«
»Es ist – wie es damals war,« erwiderte sie und suchte des Frostschüttelns Herr zu werden.
»Ich brauchte nur wieder hierher zu kommen. Gleich spüre ich es. Ich habe ganz recht getan.«
»Gut,« sagte er, »bei diesem Gedanken wollen wir zunächst einmal bleiben. Ich trete hier in Jans Fußtapfen, und Sie sind das Schwesterlein, das ich vor Husten und Schnupfen zu bewahren habe. Zum Erzählen finden wir später noch Zeit. Jetzt heißt es, mit größter Beschleunigung aus den Bergen heraus und in die Stadt kommen, zu einem kochend heißen Tee. Vorwärts, Schwesterchen.«
Sie folgte ihm ohne Widerrede. Auch als sie sein Pferd erreicht hatten und er sie ohne weiteres in den Sattel hob, gab sie wortlos nach. Den Zügel um den Arm gewickelt, schritt er kräftig ausholend neben dem Pferde her.
»Jetzt bin ich der Knecht Ruprecht und Sie sind das Christkindchen, das seinen Einzug in die Welt hält.«
»Aber Sie beschenken mich ja. Und ich sitze mit leeren Händen und kann nur immer ›danke‹ sagen.«
»Und was tat der Jan? Hat er nicht auch immer brüderlich für Sie gesorgt und an dem ›danke‹ seine Freude gehabt?«
»Ja – der Bruder.«
»Menschen, die sich in der Einsamkeit treffen, sind immer Bruder und Schwester. Alle Einsamen sind es. Daran wollen wir festhalten.«
»Ich tue es. Und es ist so schön.«
»Frieren Sie nicht mehr so sehr? Nun, dann plaudern Sie nur. Das Sprechen macht warm und bringt auf andere Gedanken. Wo wohnen Sie denn?«
»Ich bin erst gestern abend hier angekommen,« berichtete sie. »Ich wohne am Bahnhof und wollte heute abend noch weiter, nach Arizona, zum Grand Cañon, dem großen Naturwunder, und von dort nach dem Süden Kaliforniens. Das hängt alles voll Erinnerungen.«
»Aber das ist ja auch mein Weg. Ich kam nur noch einmal hier heraufgeritten, um Abschied zu nehmen. Mein Koffer steht gepackt.«
Einen Augenblick leuchtete es in ihren Augen auf wie in heller Mädchenfreude. Aber im nächsten Augenblick war sie geschwunden bis auf einen kleinen Glanz, der sich nicht vertreiben ließ.
»Vielleicht sehen wir uns noch einmal auf der Reise. In Amerika trifft man sich so leicht. Es gibt zu wenig Menschen in dem großen Land, und die Menschen reisen alle.«
Sein Blick war über sie hingestreift. Kopfschüttelnd ging er neben dem Pferde her.
»Sie sollten nicht so allein reisen und auf eigene Faust herumstreifen, Fräulein van Weert. Wenn ich in Wirklichkeit Ihr Bruder wäre, würde ich es nicht zugeben. Wie leicht kann Ihnen etwas zustoßen. Einer einzelnen Dame.«
»O,« erwiderte sie unbekümmert, »in diesem Lande geschieht einer Dame nichts. Das ist eine der guten Eigenschaften Amerikas.«
Wegherr lachte. Der frische Ton gefiel ihm gut.
»Schon wieder ganz obenauf? Und wären eben erst durch den Blizzard beinahe in einen Eiskristall verwandelt worden? Nun?«
»Es ist aber doch nicht geschehen,« gab sie lachend wie er zur Antwort. »Im Gegenteil, ich trabe stolz auf einem Pferd und bin nur zu Fuß in den Garten der Götter hinaufgeklettert. Das ist doch der beste Beweis.«
»Zufall, Fräulein van Weert. Damit dürfen Sie nicht immer rechnen.«
»Ach, lassen Sie mir doch diesen Glauben. Es ist so schön, damit zu rechnen, wenn man sonst nicht viel zu rechnen hat.«
»Sie sind fort aus dem Damen-College? Ein für allemal? Der wilde Vogel ist aus dem Bauer ausgebrochen?«
»Er war nicht mehr wild,« sagte sie ruhig, »denn er hat pflichtgemäß seine Zeit abgesessen. Sonst wäre ich schon im letzten Herbst auf und davon. Ich habe meinen Vertrag bis zum Ende durchgehalten, um mich auch innerlich frei zu fühlen. Gewiß, es war schwer.«
»Aber es paßt zu Ihnen, Fräulein van Weert. Gerade so hatte ich Sie in der Erinnerung.«
Sie nickte ihm freundlich zu. »Es ist schön, daß Sie auch an mich einmal zurückdachten.«
»Ich habe vieles erlebt, Fräulein van Weert. Und es war nicht immer schön. Nein, weiß Gott nicht.«
Ein Schatten flog über seine Stirn. Aber als er den klaren Blick des Mädchens auf sich ruhen fühlte, jagte er ihn von dannen.
»Es ist überwunden,« sagte er. »Was ist das für ein schöner Zufall, der mich Sie treffen ließ. Erzählen Sie weiter, von Ihren Plänen, von Ihren Zielen.«
»O,« meinte sie und hatte den frohen Ton zurückgefunden, »damit komm' ich schnell zu Ende. Ich habe mir während meiner Lehrerinnenjahre eine kleine Summe erspart. Gerade groß genug, um meine Reise damit bestreiten zu können und mich nachher in Neuyork einzurichten. Denn in Neuyork möchte ich mir eine Stellung als Korrespondentin in einem Handelshaus suchen. Ich spreche und schreibe Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch, und Stenographieren und Maschinenschreiben verstehe ich auch. Gesund bin ich Gott sei Dank, und hängen lasse ich mich nicht. Nein, das tue ich wahrhaftig nicht. Dazu bin ich durch eine zu handfeste Schule gegangen. Also wird es mir schon nicht fehlen, und ich bleibe doch in den Abenden ein freier Mensch, der mit sich und seiner Zeit anfangen kann, was er will, und nicht auf seinem Stänglein zu sitzen und an die Fensterscheiben zu picken braucht. Das sind meine fröhlichen Erwartungen.«
»Und dann?« fragte Wegherr.
»Und dann?« wiederholte sie. »Sie meinen, wenn – der Abend kommt? Ich glaube, Herr Doktor, wir wissen alle nicht, wie unser Abend sein wird, ob wir heute auch arm oder reich, glücklich oder unglücklich sind. Daran sollen wir nicht denken.«
»Und an was sollen wir denken, Fräulein van Weert? Denn auf den Abend kommt es einmal an.«
»Daran,« sagte sie, »daß wir Stunden gehabt haben, die uns der Reichste nicht für all sein Geld abkaufen könnte. Und von ihren Renten leben wir immer noch besser und dankbarer als der andere, der nichts zu danken hat, von seinen papierenen.«
»Sie finden es schön, danken zu können?«
»Nur schön? Es ist doch wohl das größte, Herr Doktor. Diese Gewißheit, daß uns ein Mensch einmal Liebes angetan und uns reich gemacht hat, reich auch in dem Gedanken: wie vergelten wir es ihm, damit er auch von unserer Wärme verspürt?«
»Fräulein van Weert, soll ich Ihnen einmal etwas sagen?«
»Sagen Sie es, Herr Doktor.«
»Ich bin froh, daß ich eine solche Schwester gefunden habe. Und das ist schon viel Dankbarkeit. Mir hat das Leben bisher wenig Grund zum Danken gegeben, wenn ich von den paar wissenschaftlichen Erfolgen absehe.«
»Aber Tausende von Menschen danken Ihnen. Das muß Sie doch stolz über alles hinwegheben.«
»Glauben Sie das wirklich? Und soeben stellten Sie als das größte die Gewißheit hin, daß uns ein Mensch einmal Liebes angetan und von seiner Wärme gegeben hätte? Da ist ein Rechenfehler, liebe Schwester, bei dem ich zu kurz gekommen bin.«
Sie antwortete nicht. Sie wollte mit einer Antwort nicht Dinge in ihm zum Reden bringen, an denen er insgeheim trug und die im Tageslicht schmerzten. Und er erwartete keine Antwort. Er schritt neben dem Pferde her, das er sorgsam führte, und vergewisserte sich bei steinigen Wegstellen durch einen raschen Blick, daß sie bequem im Sattel sitze. Die Felsenberge waren zurückgeblieben. Ein Hügelland ging es hinab. Schon tauchten die Leinenhäuser auf, die armen Lungenkranken zur Wohnung und Erholung dienten, und drunten, vor ihnen, lag Colorado Springs, die Badestadt, zwischen Prärie und Felsengebirge, zu der die Menschen aus der Ferne kamen mit dem lebensheißen Wunsch nach Genesung.
»Wie fühlen Sie sich, Fräulein van Weert?«
»Gut. Das heißt – ich habe nicht mehr darüber nachgedacht.«
»Werden Sie heute abend reisen können, oder wollen Sie nicht lieber gleich zu Bett und den Morgen abwarten?«
»Nein,« lachte sie, »so schnell schmelze ich nicht von dem bißchen Schnee. Und übermorgen will ich doch schon am Grand Cañon stehen. Nein, wahrhaftig, um im Bett mein Erspartes auszugeben, dazu bin ich nicht auf die Reise gegangen.«
»Also werden wir bis zum Grand Cañon Reisegefährten sein. Vorausgesetzt, daß Sie mich bis dahin als Ihren Bruder beibehalten wollen.«
»Ich habe Glück,« sagte sie heiter, »und verspreche Ihnen, eine brave Schwester zu sein.«
Sie umritten die Stadt bis zum Bahnhof, unbekümmert um gaffende Menschen, und vor ihrem Hotel ließ er sie absteigen.
»Nun ziehen Sie sich schleunigst um,« befahl er, »damit Sie warm werden, und lassen Sie sich eine tüchtige Portion heißen Tee auf Ihr Zimmer bringen. Es sind noch volle zwei Stunden Zeit bis zum Abgang des Zuges. Sie brauchen sich also mit dem Packen nicht zu überhasten. Ich werde jetzt den Gaul abliefern, meine Hotelrechnung begleichen und dann auf der Bahn unsere Plätze nehmen. Ich treffe Sie dort um sechs Uhr. Auf Wiedersehen.«
Er zog den Hut, und sie nickte ihm zu, wie er sich in den Sattel schwang und im Schritt durch die Straßen ritt.
Pünktlich um sechs Uhr traf er sie vor dem Bahnhof. Sie trug einen dicken, rauhaarigen Wollmantel, der ihr bis auf die Füße reichte, und eine Art Kappe aus demselben Stoff, um die sich der Schleier wand. Ganz einfach war alles an ihr, wie ihre unbewußte Anmut und die Unbefangenheit ihres Wesens.
»Ist das Ihr Gepäck?« fragte er. »Nun überlassen Sie mir mal die Sorge. Nur Geduld,« fuhr er fort, als sie ihm ihr Geldtäschchen reichen wollte, »wir werden am Grand Cañon auf Heller und Pfennig abrechnen. Sie brauchen keine Angst zu haben. Vorläufig aber haben Sie nichts als eine brave Schwester zu sein.«
Sie steckte ihr Geldtäschchen wieder ein. »Ich habe keine Angst, nur Freude.«
»So ist es recht, Schwesterlein. Unbedingtes Zutrauen zueinander ist das erste Gebot. Sie sind bei mir so sicher aufgehoben, als wäre ich der Jan.«
Da streckte sie ihm die Hand entgegen.
Er ging das Gepäck besorgen und kehrte zu ihr zurück. »Alles erledigt bis Grand Cañon. Zweiunddreißig Stunden Bahnzeit. Dafür dürfen wir heute abend in La Junta und morgen abend in Williams umsteigen. Für Abwechslung ist also gesorgt. Dort kommt der Zug. Ist das Ihr Täschchen für den Schlafwagen? Wir wollen nur unsere Plätze belegen und gleich zum Abendessen gehen.«
Er hob sie auf das Trittbrett, und sie sprang leichtfüßig in den Wagen. Und als der Zug die Station verließ, saßen sie sich im Speiseraum gegenüber und stellten lachend das Mahl zusammen. »Gott, wie verschwenderisch wir sind. Aber es ist ja heute ein Festtag.«
Um halb elf stiegen sie in den Schnellzug um, der bis Williams durchfuhr. Und sofort suchten sie in dem dichtbesetzten Schlafwagen ihre Lagerstätten auf. »Schlafen Sie gut, Schwesterchen. Wie müde Sie sind.«
»Gute Nacht. Wenn mich alle die Freude nur schlafen läßt.«
Die Gardinen schlossen sich. Der Neger kam und sammelte rechts und links die Schuhe ein. Der Laternenschein schwankte durch den Wagen und verschwand. Nichts war mehr als das Dunkel, das Rasseln der Räder und die Träume der Menschen.
Früh am Morgen war sie die erste, die ihren Vorhang zurückschob und hervorschlüpfte. Wie ein Eidechschen, dachte er, als er sie in dem farbigen Schlafkleid durch den Gang huschen und den Damenwaschraum aufsuchen sah. Nerv und Jugend.
Eine Stunde später saßen sie im noch leeren Speisewagen am Frühstückstisch.
»Wie haben Sie geschlafen?« erkundigte sich Wegherr. »Sie sehen blaß aus und hätten noch ein paar Stunden liegen bleiben sollen.«
Ihr Kopf hing ein wenig müde auf dem schlanken Halse. Und sofort richtete er sich auf, und der Körper spannte sich.
Wie damals, dachte Wegherr, als ich sie zum erstenmal sah. Bei Freund Wuppermann. Und er forschte in ihrem schmalen Gesicht, das immer noch den elfenbeinfarbenen Ton hatte und von dem schweren dunklen Flechtenkranz umrahmt wurde, und in den dunklen Augen, über denen es heute wie ein Schleier lag.
Sie schüttelte den Kopf, und nun kam auch der Glanz in ihre Augen zurück.
»Ich bin nie eine Langschläferin gewesen. Als ich noch mit Jan herumzog, wurde es bei Morgengrauen im Lager lebendig. Und später hat der Dienst im College schon dafür gesorgt, daß man rechtzeitig munter wurde. Es geht nichts über die Erziehung.«
Sie winkte dem Neger mit den Augen, daß er dem Herrn frischen Tee eingieße. Sie wickelte die heißen Brotschnitten aus der Serviette und richtete sie ihm zu. Und sie schälte die Früchte und zerlegte sie mit gewandten Fingern.
»Wissen Sie, wo wir uns befinden?« fragte er.
Sie spähte zum Fenster hinaus. Dünner Schnee lag über Steppe und Bergen. Dann fand sie sich zurecht.
»In Neu-Mexiko. In einer knappen Stunde werden wir in Albuquerque sein. Zum Mittag kommen wir in den Staat Arizona. Wie früh es kalt geworden ist in diesem Jahre.«
Sie erschauerte ein wenig. Dann lachte sie mit großen Augen.
»Um so herrlicher wird es in Süd-Kalifornien sein. Ewiger Frühling. Und das bißchen Schnee, das hier wohl vom gestrigen Blizzard noch liegen geblieben ist – sehen Sie, da macht es sich schon von dannen. Die Sonne hat sich durchgekämpft. Bravo, Sonne.«
Seltsam geformte Bergspitzen tauchten auf. Über den kümmerlichen Waldungen, die als Reste der Vergangenheit an den Hängen kletterten, lachte es golden auf. Dicht an die Bahnstrecke heran rückten ein paar Indianersiedlungen, viereckige Wohnhäuser mit flachgestampftem Dach. Männer, Weiber und Kinder hockten vor dem Eingang, gekleidet wie die Lazzaroni Italiens. Felder, Wälder, Sümpfe und Teiche wechselten mit der Prärie. Ein Jäger schritt, die Flinte wagrecht über dem Kopf, bis zum Bauch durch das Wasser. Kleine Wagen, von struppigen Pferden munter gezogen, rollten daher. Rote Reiter jagten nachlässig durch das Gras. Der Bahnhof Albuquerque kam in Sicht. Und kaum hielt der Zug, so drängten sich die Indianerweiber an die Wagen, in gelben Mokassins und grellbunten Decken und Kopftüchern, das blauschwarze Haar straff wie Pferdehaar. Selbstgefertigte Ketten und Amulette hielten sie feil, die Nachkömmlinge der stolzen Ureinwohner und Landbeherrscher, geflochtene Binsenwaren und Perlenstickereien.
»Schlägt das nicht die letzte Romantik tot?« meinte Wegherr. »Rothäute und Fremdenindustrie? Es ist kläglich.«
Weiter brauste der Zug durch die endlose Prärie. Noch einmal tauchte ein Indianerzelt auf, ein paar kegelförmige, lehmbeworfene Erdwohnungen. Pferde- und Rinderherden galoppierten von dannen. Cowboys auf ungesatteltem Pferd hinterdrein. Wie die Kerle ritten. Schwankend, als fehlte ihnen das Gleichgewicht, aber jeder Bewegung des Tieres nachgebend, jede Bewegung unterstützend. Grüß Gott, Baron Dachsberg, Grüß Gott, ihr beiden Unkelbach, Vater und Sohn, dachte Wegherr. Die Sorte hier kenn' ich.
Und er erzählte der atemlos Lauschenden von der Vater- und Freundestreue, die nicht nur bei vollen Flaschen zu Hause gewesen sei, sondern im Angesicht des Todes zusammengehalten habe, als gälte es eine Selbstverständlichkeit.
»Dazu muß man durch die Welt verschlagen werden, um das zu erlernen.«
»Sind sie in Freiheit?« fragte Gertrud van Weert erregt.
»Sie schwimmen der alten Heimat zu.«
»Die Glücklichen,« sagte sie und seufzte tief auf.
Die Stunden flogen dahin. Sie waren in ihren Wagen zurückgekehrt, der längst für den Tagesdienst wieder hergerichtet war, und saßen sich in den Polstern gegenüber. Das Gebiet von Arizona war erreicht, das Land der Sonnenuntergänge. Der Neger hatte ihnen frische Kissen in den Nacken geschoben und Fußbänkchen herbeigetragen. Es ließ sich plaudern und träumen zugleich.
»Erzählen Sie mir, bitte, ein wenig aus Ihrer Kindheit. Ich muß doch wissen, wie mein Schwesterchen heranwuchs.«
»Sie ist nicht sehr erzählenswert. Es war sehr grau zu Hause, und aus dem Grau tropfte manche heimliche Träne, ohne daß es lichter wurde. Weshalb soll ich Ihnen von dem Grau erzählen?«
»Weil ein getreuer Bruder auch davon wissen muß, um alles zu verstehen.«
Da erzählte sie ihm von daheim. Von den Eltern und der schweren Jugend, von den Plänen des Vaters, die nur um das Geld kreisten, und der Hast der Mutter, von dem bißchen Kinderliebe bei Jan und dem vielen Alleinsein bei den Büchern, von ihrer Sehnsucht und ihrer Flucht mit dem Bruder. In aller Aufrichtigkeit erzählte sie und auch von ihren Briefen und Bitten an die Eltern, die alle unbeantwortet geblieben wären bis zum heutigen Tag. »Wenn man älter wird, gewöhnt man sich auch an die Einsamkeit.«
»Sie sind ja so jung, wie Sie selbst es nicht einmal wissen.«
»Ich bin neunundzwanzig gewesen. Da ist man kein junges Mädchen mehr.«
»Aber ein junger, reifer Mensch. Das ist das Schönste bei einer Frau. Gereift sein in der Seele und voll starker Jugend. Beides vereint macht erst die Frau aus, die wahre Frau. Glauben Sie es mir?«
»Ja,« sagte sie. » Wissen, daß man jung ist. Mit der Freude das Verstehen haben. Das meinen Sie, und das meine ich auch.«
Es war Nachmittag geworden, da wurde sie müde und kämpfte doch dagegen an.
»Ich weiß nicht, was das ist,« entschuldigte sie sich. »Seien Sie mir, bitte, nicht böse.«
»Die langen Reisen sind Ihnen ungewohnt geworden. Jetzt drücken Sie den Kopf in das Kissen und machen die Augen zu.«
Sie gehorchte vor Müdigkeit und war nach wenigen Minuten entschlummert. Und Wegherr saß ihr gegenüber, wie ein Wächter, der ein Kind zu behüten hat, und horchte auf ihre Atemzüge und beobachtete jeden Zug ihres Gesichtes.
Wie sicher und geborgen sie sich bei mir fühlt. Arme Heimatlose.
Es wurde Abend, und der Neger trottete durch den Wagen und ließ seinen gleichförmigen Ruf ertönen: » First call for dinner ...!«
Gertrud van Weert fuhr mit dem Kopf herum. Aber die Augen blieben geschlossen. Da verzichtete auch Wegherr lächelnd auf die Abendmahlzeit und blieb auf seinem Wächterposten.
Es war tiefe Dunkelheit, als sich der Zug Williams näherte. Behutsam weckte Wegherr die Schlummernde. »Wir müssen in den Sonderzug umsteigen. In fünf Minuten dürfen Sie weiterschlafen.«
Sie sah ihn groß und verwirrt an, erhob sich rasch und ließ sich von ihm in den Mantel helfen. Er fühlte, wie ihre Schultern zitterten. Dann gab sie sich einen Ruck und griff nach ihrer Tasche.
»Gehen Sie nur. Der Neger reicht uns alles heraus. Sie sollen sich doch nicht sorgen.«
Sie nickte hastig. Was war nur mit ihr?
Da hielt der Zug. Sie waren die einzigen, die ihn verließen. Der Strom der Reisenden ging nach San Franzisko weiter oder zu den wärmeren Südgestaden des Stillen Ozeans. Das Wetter war nicht einladend genug für die Bergwunder des Grand Cañon.
»Dort steht der Zug der Zweigbahn,« und Wegherr wies auf das Nebengleis. »Er fährt erst nach Mitternacht ab, aber der Schlafwagen ist schon geöffnet. Nun legen Sie sich sofort nieder, und ich werde dasselbe tun, damit Sie sich nicht fürchten.«
Er stützte beim Einsteigen sorgsam ihren Arm und bemerkte es wohl, daß ihre Leichtfüßigkeit nachgelassen hatte. Und in ihrem verlegenen Lächeln, mit dem sie ihn wie um Entschuldigung bittend ansah, las er, daß auch sie es bemerkt hatte.
»Die Fahrt beträgt nur wenig mehr als drei Stunden,« erklärte er, »aber da der Zug erst in zwei Stunden die Station verläßt, so haben Sie volle fünf Stunden der Ruhe. Nun machen Sie es sich bequem. Ich werde solange draußen meine Zigarre rauchen.«
Als er nach einer halben Stunde leise eintrat, hatte sie sich niedergelegt und die Gardine vorgezogen. Sein Bett befand sich dem ihrigen gegenüber. Er legte nur Rock und Weste ab, entledigte sich seiner Schuhe und streckte sich auf sein Lager. Ein- oder zweimal ging der Neger durch den Wagen, dann vernahm Wegherr, wie die Reisenden, die für die wenigen Stunden auf den Schlafwagen verzichteten, die billigeren Sitzplätze nebenan aufsuchten, und endlich setzte sich der Zug in Bewegung.
Wegherr war eingeschlafen. Wie lange er geschlummert hatte, wußte er nicht, als er sich in der Dunkelheit plötzlich aufrichtete. Er horchte gespannt. Hatte jemand gerufen? Gertrud van Weert? Jetzt war er ganz munter und schnell auf den Füßen.
Leise nannte er ihren Namen. »Fühlen Sie sich nicht wohl? Sagen Sie es mir. Ich bin bei Ihnen.«
»Mich schmerzt der Hals, daß ich kaum sprechen kann. Und so heiß und kalt ist mir.«
Er schob die Gardine zurück, beugte sich über sie und faßte ihren Puls. »Nur ruhig, Kind, nur ruhig. Sie haben sich im Schneesturm eine Erkältung geholt. Nicht mehr.«
»Ich beunruhige mich auch nicht,« flüsterte sie. »Nur, daß ich Ihnen neue Last mache ...«
»Nicht sprechen. Sie sagen ja selbst, daß es beim Sprechen schmerzt. Ich werde Ihnen einen nassen Umschlag bringen.«
Er schob den Schirm von der Deckenlampe und sah nach seiner Uhr. Es waren noch zwei Stunden Zeit. Und schnell knöpfte er die wollene Kapuze von seinem Wettermantel, holte aus dem Waschkabinett ein in Wasser ausgerungenes frisches Handtuch und trat an ihr Lager zurück. Da lag sie mit großen, fiebrig glänzenden Augen im schmalen blassen Gesicht, und die Schmerzen hatten jede Scheu von ihr genommen.
»Morgen früh machen wir es besser,« beruhigte er. »Ich habe in meinem Koffer die ganze Apotheke und bin meiner langen Forschungsreisen wegen als Arzt so weit ausgebildet, daß ich mich nicht gleich überrumpeln zu lassen brauche. So, nun stützen Sie sich einmal auf meinen Arm und setzen Sie sich aufrecht. Köpfchen hoch.« Und geschickt schlang er das wasserfeuchte Tuch um ihren Hals, wickelte die zusammengefaltete Kapuze darum und befestigte den Verband. »So, und nun bis ans Kinn unter die Decke. Warten Sie, Sie bekommen auch noch meine. Ich brauche sie nicht. Ich wollte gerade meine Morgenzigarre rauchen. Aber nun werde ich bei Ihnen sitzenbleiben.«
Sie schüttelte den Kopf und wollte abwehren. Er aber zog ihr ohne weiteres die Decke über die Schultern, bis sie in einer warmen Verpackung lag. »Still, Kind. Wofür haben Sie denn den Bruder mit auf die Reise genommen. Augen zu.«
Er saß an ihrem Lager und horchte auf ihre hastigen Atemzüge. Ihr schlanker blasser Kopf lag eingebettet in den schweren Flechten. Immer wieder lief ein Zucken um ihren Mund. Dann hoben und senkten sich krampfhaft die dunklen Augenbrauen.
Wie verlassen sie ist, ging es ihm durch den Sinn. Im fernen Westen allein und krank. Das ist das Bild der Verlassenheit.
Und wieder ging es ihm durch den Sinn: Ob die Mutter daheim es nicht fühlt und der Vater, daß ihr Kind erkrankt ist und keinen Menschen hat? »Doch, einen Menschen,« fügte er halblaut hinzu. »Mich.«
Nach einer Stunde erneuerte er den Umschlag. Diesmal nahm er die trockene Seite der Kapuze. »Damit Sie, wenn wir nachher aussteigen, sich nicht noch schwerer erkälten. Wie lange brauchen Sie zum Ankleiden?«
»Ich bin angekleidet. Nur die Bluse.«
Die wenigen Worte schon bereiteten ihr Qual. Er sah es und legte ihr sanft die Hand auf die heißen Lippen.
»Nun hören Sie einmal gut zu und antworten Sie gar nichts. Sie haben Vertrauen zu mir, und ich bitte, daß es ein unbegrenztes ist. Sie nicken. Dann ist es gut. Wir werden gleich am Grand Cañon angelangt sein. Dort gibt es zwei Hotels und sonst nichts als die wilden Schluchten. Das Städtchen Williams, aus dem wir kommen, ist nicht mehr als ein Dorf. Außerdem wäre es ein Unsinn, heute abend die Fahrt noch einmal zu machen. Denn mehr als ein Zug verkehrt täglich nicht. Wir werden also das Hotel El Tovar dort oben aufsuchen und Sie schleunigst zu Bett bringen. Einen Arzt gibt es nicht, ist auch keiner vonnöten, solange ich bei Ihnen bin. In drei, vier Tagen stehen Sie wieder auf den Beinen. Bedingung ist,« und er sprach ruhig und eindringlich, »daß wir jetzt aus dem Bruder- und Schwesterspiel Ernst machen und daß Sie in Wirklichkeit als meine Schwester zu gelten haben. Da ist kein Grund zum Erröten. Ich muß in Ihr Zimmer kommen können, wann ich es will und ohne daß sich die Hotelgäste darüber den Mund zerreißen. Hier draußen hat einer für den anderen zu stehen. Oder würden Sie mich im Stich lassen, wenn ich in der Wüstenei erkrankt wäre? Nun blicken Sie ganz erschrocken. Also Sie würden es nicht getan haben. Das ist ja auch ganz natürlich. In solchen Verhältnissen gibt es doch keine falsche Scham, sondern nur eine starke Zusammengehörigkeit. Um jeden Irrtum zu vermeiden, werden wir von jetzt an vor den Leuten nur noch Englisch miteinander sprechen, da ist die Anrede für ›Du‹ und ›Sie‹ die gleiche. Fertig. Und nun bitte ich um Ihr Einverständnis.«
Sie hatte nasse Augen bekommen und scheute sich nicht, sie ihm zu zeigen. Dann zog sie die Hand hervor und reichte sie ihm wortlos.
Wie verlassen sie ist, dachte er noch einmal, als er hinausging, um ihr die Zeit zum Ankleiden zu lassen.
Fest in seinen Lodenmantel gewickelt, stieg sie in der Station aus dem Zug und schritt an seinem Arm die Erdstufen hinauf, die auf die Höhe führten zum Hotel El Tovar. Aus der Dunkelheit schimmerte der spanisch-mexikanische Bau hervor. Lichter leuchteten in der Halle auf, eine Aufwärterin trat in die Tür und bewillkommnete die Gäste.
»Dort kommen meine Koffer,« sagte Wegherr. »Ich bitte für mich und meine Schwester um zwei Zimmer mit Bad.« Und er diktierte der Angestellten ihre Namen: »Professor Doktor Wegherr und Schwester. Meine Schwester hat sich leider bei dem Blizzard, der vorgestern in Colorado wütete, eine Erkältung zugezogen und wird wohl ein paar Tage das Zimmer hüten müssen. Vielleicht nehmen Sie bei der Auswahl der Zimmer darauf Rücksicht.«
»Sie können die besten Zimmer im Hotel haben. Bei diesem kalten Wetter ist nicht viel Leben hier oben.«
Es waren schmucke Räume, die ihnen angewiesen wurden, und von blitzender Sauberkeit. Die Zimmer lagen durch die Badekammer voneinander getrennt. Es war, wie Wegherr es wünschte. Der Fahrstuhl hatte die Koffer heraufbefördert, und Wegherr gab sich daran, in seinem Zimmer die Apotheke auszupacken. »Legen Sie sich nur nieder und bekümmern Sie sich um nichts,« rief er der Gefährtin durch die Badekammer zu.
Als sie auf sein leises Klopfen »Herein« rief, lag sie in ihrem weißen Nachtzeug in den Kissen. Sie wechselten nur die notwendigsten Worte. Wegherr hob die elektrische Stehlampe und bat sie, den Mund zu öffnen. »Eine arge Entzündung, wie ich's mir dachte,« stellte er fest, »aber keineswegs schlimm.« Er verrührte ein Aspirinpulver in einem Glase Wasser und gab es ihr zu trinken. Und aus nassem Leinen, Guttapercha und Wolle wand er kunstgerecht den dreifachen Halswickel. Sie lag ganz still und ließ alles mit sich geschehen, nahm nach einer Weile ein zweites Pulver und sah ruhig zu, wie er ihrem geöffneten Koffer Nachtzeug entnahm und es ihr unter das Kopfkissen schob. »Sie werden sich in zwei Stunden umkleiden müssen. Nachher rufen Sie mich, damit ich den Umschlag erneuere. Ich schließe Ihre Tür zur Badekammer, höre aber jeden Ruf in meinem Zimmer. Und nun versuchen Sie zu schlafen.«
Er nickte ihr zu und ging leise hinaus. Nach wenigen Minuten war sie eingeschlummert.
Mit einem Buch saß er am Tische seines Zimmers, aber er sah über die Blätter hinweg, und seine Gedanken waren bei der Erkrankten.
»Wie rührend ihr Zutrauen ist. Nur ganz verlassene Menschen können ein solches Zutrauen haben.«
Dann kroch die Morgendämmerung heran in nebelhaften Schatten, die umherirrten, als hätten sie nicht Zweck noch Ziel, und mußten doch zum Morgen werden und sich im Lichte lösen.
Wegherr hatte das Fenster geöffnet und ließ sich die herbe Luft um die Schläfen wehen. Dort vor ihm zog sich die unübersehbar lange Schlucht, das gewaltige Naturwunder des Grand Cañon, in dessen Tiefe, mehr als tausend Meter dort unten, der Coloradofluß dahinbrauste durch die Gesteine aller Zeiten.
Und still vor sich hin lächelnd wandte sich Wegherr ab, nahm ein paar Dinge vom Tisch mit und ging zur Tür, denn er hatte wie ein Flüstern seinen Namen vernommen. Als er Gertrud van Weerts Zimmer betrat, saß sie aufrecht und sah ihm entgegen.
»Geschlafen? Das ist schön. Nun werden wir zunächst den Umschlag erneuern. So, und nun wird inhaliert, was der Apparat hergibt. Hier ist er. Nehmen Sie die Glastrompete zwischen die Lippen. Und nun atmen Sie ein, so kräftig Sie können. Das wird jede halbe Stunde wiederholt. Zur Belohnung gibt es jetzt heißen Tee und ein weiches Ei. Es wird schon hinuntergehen.«
Er klingelte und ließ das Frühstück heraufbringen. Und sie trank tapfer den Tee und schlürfte das Ei trotz aller Beschwerden.
»Man muß nur nicht der Krankheit nachgeben,« sagte er freundlich. »Der feste Wille ist besser als jede Arznei. Der Wille macht gesund. Und jetzt wird zunächst weiter geschlafen.«
Den ganzen Tag über ging er bei ihr aus und ein, erneuerte die Umschläge und hielt ihr den Inhalierapparat, ließ sie ein paar Löffel Suppe nehmen, Tee oder ein verrührtes Ei, alles still und fröhlich und ohne vieles Reden. Und in der Nacht horchte er von Stunde zu Stunde an ihrer Tür und klopfte leise an, wenn er glaubte, daß sie seiner bedürfe.
Am nächsten Morgen war das Fieber geschwunden und die Halsschwellung im Rückgang begriffen.
»Noch nicht übermütig werden,« bestimmte er, »noch ganz still kuschen und alles weiter tun wie bisher. Dann können wir in zwei Tagen dem Grand Cañon unsere Aufwartung machen.«
»Ach – ja –" sagte sie nur und lächelte vor sich hin.
In diesen Tagen saß er bei ihr und las ihr vor. Humoresken von Mark Twain, leichte Kost, die das Gehirn nicht beschwerten und das Gemüt in fröhliche Genesungsstimmung versetzten. Oft mußte er einhalten, bis ihr gemeinsames Lachen verklungen war.
Die Mahlzeiten ließ er ihr jetzt durch eine der Bedienerinnen bringen und ging inzwischen in den Speisesaal hinab, wo er kaum ein halbes Dutzend Menschen traf. Zum Grand Cañon aber ging er nicht, und wenn sie ihn darum befragte, antwortete er: »Das wird aufgespart. Wenn wir das Üble miteinander durchgemacht haben, wollen wir auch das Schöne miteinander genießen.«
Dann hingen ihre Blicke in tiefer Dankbarkeit an ihm.
Nun durfte sie aufstehen und am Fenster sitzen. Nach den frühen und kalten Herbsttagen war der Indianersommer mit all seiner Glut und Glast gekommen und hing über den Urwäldern, die die Schlucht umkränzten. Wegherr stand vor der Genesenen und freute sich ihrer Spannkraft. Er kam jetzt nur noch selten in ihr Zimmer und nicht anders, als wenn sie ihn zu sich bat.
»Na, nun hätten wir ja wieder unsere alte Gertrud van Weert, nämlich die junge, elastische, die sich nicht unterkriegen läßt. So kenn' ich meine Pappenheimer. Und wie eigens dazu bestellt, weht draußen eine warme Sommerluft, frisch und rein, eigens hergerichtet für meine Patientin. Morgen machen wir einen kurzen Spaziergang. Der Colorado River sprengt schon vor lauter Freud' den ganzen Grand Cañon auseinander.«
»Ich – weiß ja gar nicht,« brachte sie hervor, »wie ich das je –«
»Das brauchen Sie auch gar nicht zu wissen. Mädchen, denken Sie einmal nach! In der Wildnis von Arizona, ein paar tausend Meter über dem Meeresspiegel – fragt man da viel? Hier hat nur der liebe Gott zu sagen. Basta!«
Und sie wiederholte die Worte, dieselben Worte, die er ihr zugerufen hatte, als sie anderen Tags am Rande des ungeheuren Risses standen, der Hunderte von Meilen lang das Hochplateau bis zur Sohle durchklaffte.
»Hier hat nur der liebe Gott zu sagen.«
Als blickten sie aus den Wolken hinunter in ein wildes, sagenhaftes Dolomitengebirge, so lagen sie unter ihnen, die Kegel und Zacken der Berge, die aus der Tiefe, aus dem Bauch der Erde, jäh und geheimnisvoll emporgeschossen kamen und die unabsehbare Schlucht erfüllten mit ihren abenteuerlichen Gebilden, gewölbten Tempeln, starrenden Festungen, ihren leuchtenden Gesteinsschichten aus allen Jahrmillionen, vom hellgrauen Kalkstein zum rot- und weißgebänderten Sandstein, dunkelrotem Kalkstein und mattgrünem Schieferton, dunkelbraunem Gneis und rotem Granit. Ein Gewoge von blutenden Bergen, ein im Feuer erstarrtes Meer.
Und sie standen und starrten in das Wunder der Natur hinein, das den Kern der Erde bloßzulegen schien wie ein geborstener Apfel.
Bis Wegherr seine Begleiterin hinwegführte in den schützenden Urwald, zu den meterdicken Zypressen, deren Riesenstämme die Stürme der Jahrhunderte gewunden hatten wie einen Korkenzieher, zu den schwermütigen Piniendächern und leuchtenden Eukalyptusbäumen, zu den saftgeschwollenen Kaktusstauden mit den glühenden Blüten, die wie Blutstropfen zwischen den wilden Astern hingen. Große, blaue Vögel mit Kakaduhauben, stahlfarbne mit roten Brüsten, schwebten schweren Flügelschlags durch das Dickicht. Schwarze Zwergeichhörnchen lugten von den Zweigen. Falken kreisten im Blauen, und fern von ihnen, über der Schlucht, hing wie gebannt ein Adler.
Zwischen den Stämmen aber trottete es hervor wie ein Märchentier. Ein zottiges Pferd kam quer durch den Wald, stutzte vor den Menschen und brach im Galopp seitwärts aus.
»Ein Indianerpferd,« sagte Wegherr. »Sehen Sie, da haben Sie auch die tiefeingegrabene Erdhütte.« Er hob den Teppich. »Es ist keiner zu Haus.«
Sie kamen ins Hotel zurück, und sie nahmen an der Tafel teil. Aber früh geleitete er sie hinauf und ließ sich das Versprechen geben, nicht vor zehn Uhr morgens sich zu erheben. Wieder war die Sonne gekommen, als Gertrud van Weert aus dem Fenster lugte und die Arme dehnte und nicht wußte, weshalb. Zum Nachmittag stand ein Wagen bereit. »Wir sind im Lande der Sonnenuntergänge,« sagte Wegherr. »Da ist ein Punkt am Grand Cañon, der Hopi Point, der den schönsten Blick in den Sonnenuntergang gewähren soll. Dorthin wollen wir.«
Die Pferde trabten an, und bald war das Schweigen des Urwaldes um sie her. Tief atmete Gertrud van Weert die kräftige Luft. Und Wegherr sann in die Natur hinein, ohne sich zu rühren.
Der Weg machte eine Biegung. In der Ferne winkte die hohe einsame Kette der Francisco Points. Wieder schlug der Wald über dem Gefährt zusammen, um sich plötzlich aufs neue zu öffnen, dicht am Rande des jäh abstürzenden Cañons. Und als ob sie nur auf die Zuschauer gewartet hätte, begann die Sonnenkugel ihren Abstieg und erfüllte die erglühende Schlucht meilentief und meilenweit mit ihrem wilden Gold.
Von rotem Purpur übergossen standen feierlich und unnahbar die zerrissenen Bergkuppen, die in langer Reihe aus der Tiefe der Schlucht sich hoben rote Schwurzeugen einer vergangenen Zeit.
»Was denken Sie?« fragte Wegherr leise seine Begleiterin.
Und Gertrud van Weert antwortete: »Ich sehe keine zerrissenen Bergkuppen mehr. Ich sehe in feierlicher Reihe ungeheure Thronsessel, Sitz und Armlehnen mit purpurnem Brokat behängen und mit Gold beschlagen. Und ich dachte, daß die vertriebenen Götter sich in diese überwältigende Einsamkeit gerettet hätten, um auf den Sesseln zu thronen und irgendwo auf der Welt mit sich allein zu sein.«
»Wie Sie zu sehen vermögen,« sagte Wegherr still. »Seltsam, auch ich dachte daran. Wir sehen mit den gleichen Augen.«
Das Rot des Sonnenunterganges lief über ihr Gesicht und ließ es aufleuchten bis ins Haar.
Durch das Dämmerlicht fuhren sie zurück. »Werden Sie,« fragte Wegherr, »sich morgen früh um vier Uhr schon aus dem Schlummer reißen können? Wir wollen hinausfahren nach Pavapoi-Point, den Sonnenaufgang sehen.«
»Den Sonnenaufgang sehen?« gab sie fast erschrocken zurück.
»Ist es Ihnen nicht lieb? Wir können doch nicht mit einem Sonnenuntergang abschließen. Wir müssen den Sonnenaufgang als Wandergruß mit uns nehmen.«
»Ja, ja ...«
Er sah sie an und sah ihr bis auf die Seele. Jetzt wußte er, was sie stutzen machte. Und er blickte wieder vor sich hin und grübelte und lächelte.
Im Hotel bat er sie, für einen Augenblick in sein Zimmer einzutreten. Sie tat es ohne Zögern.
»Nehmen Sie Platz, Fräulein van Weert. Und, bitte, geben Sie mir eine so aufrichtige Antwort, wie ich es von Ihnen gewöhnt bin. Weshalb erscheint Ihnen die Fahrt zum Sonnenaufgang nicht erfreulich? Sagen Sie mir offen Ihre Gründe.«
»O,« erwiderte sie, und das Blut stieg ihr in die Schläfen, »ich – ich hatte geglaubt, wir reisten heute abend weiter.«
»Möchten Sie es lieber?«
»Ja,« sagte sie und sah ihn mit ehrlichen Augen an. »Ich habe nicht damit gerechnet, daß wir so lange an einer Stelle bleiben. Ich dachte ja nicht daran, daß ich krank werden könnte,, und ich möchte doch meine Reise ausführen, wie ich sie geplant habe.«
»Ich hatte gehofft, Fräulein van Weert, wir wären noch ein gut Stück Wegs zusammen gewandert.«
Gertrud van Weert schaute mit bittenden Augen zu ihm auf. »Wir wollen nicht davon sprechen. Für mich wäre es – nein, es geht nicht.«
»Waren Sie mit mir als Bruder nicht zufrieden? Sie nicken? Und sind Sie nicht ebenso verlassen in diesem Land wie ich? Sie glauben es nicht, daß ich es bin? Ach, das bißchen Ehre und Ruhm. Ich fühle mich so allein, daß ich noch keinen Menschen gefunden habe, der das begreifen könnte. Und ich habe auch gar nicht gesucht und nicht einmal einen Privatsekretär mit auf die Reise genommen, um allein zu bleiben. Jetzt habe ich noch einen Freimonat. Dann beginnt die Arbeit wieder. Und ich muß endlich daran denken, meine Studien zu sichten und auszuarbeiten. Wie soll ich das, wenn ich heute in San Franzisko, morgen in Seattle zu reden und dazwischen zu reisen habe? Da fällt mir die Feder aus der Hand. Es wird ernst. Ich muß einen Menschen haben, der mir hilft. Sie wollen, wenn Sie nach Neuyork kommen, eine Stelle als Korrespondentin suchen. Eilt das? Oder hat es Zeit, bis ich nach Neujahr auch wieder im Osten bin? Dann möchte ich Sie bitten, wenn Ihnen mein Anerbieten nicht widerstrebt, bis dahin als meine Sekretärin tätig zu sein und mich auf meiner weiteren Reise zu begleiten. Ich spreche streng geschäftlich.«
Sie saß und starrte ihn aus großen, verwirrten Augen an, ohne antworten zu können.
»Fräulein van Weert,« hob Wegherr noch einmal an, »unseres Zusammenlebens wegen brauchen Sie sich keine Sekunde zu sorgen.«
»O nein – nein!« stieß sie hervor.
»Sie werden auch weiterhin als meine Schwester reisen. Das gewährt Ihnen den größeren Schutz und enthebt uns den Blicken der pöbelhaften Menschen, die in meiner Privatsekretärin gern etwas Anderes sehen möchten. Fräulein van Weert, wollen Sie unter diesen Bedingungen meinen Vorschlag annehmen?«
»Ich soll – ich soll wirklich – bis zum Frühjahr?«
»Solange es Ihnen paßt. Wenn es nach mir geht: solange ich in Amerika reise. Wie lange das ist, vermag ich heute noch nicht zu sagen. Jedenfalls können Sie sich Ihren ganzen Gehalt für später sparen und auch Ihre Reisekasse wieder mit heimbringen.«
»Nicht davon sprechen,« wehrte sie erregt. »Um Gottes willen nicht davon.«
»Weshalb nicht. Es gehört dazu. Wie Ihr Vertrauen zu mir dazu gehört. Ich war schon einmal verheiratet, Fräulein van Weert. Es waren niederdrückende Jahre. Die Scheidung ist erfolgt. Das alles ist nicht spurlos an mir vorübergegangen, und zuweilen werden Sie schon etwas Nachsicht mit mir haben müssen. Nun, wie eine gute Schwester sie dem Bruder gegenüber hat. Wollen Sie?«
Sie erhob sich und stand vor ihm. Ohne zu zucken, schaute sie ihm in die Augen.
»Sie wollen mir Gutes tun. Und ich will dafür arbeiten. Ich nehme an.«
Am nächsten Morgen fuhren sie hinaus, der Sonne entgegen. Und die Sonne sandte ihre Vortruppen aus, graue Geschwader und blaue und rote, die ihr den Weg bereiteten, und mit einem Male schwang sie sich hinter den Felsen hervor wie eine Siegesgöttin und erfüllte die Nähe und Weite mit ihrem lebendigen Odem. Die Gespenster der Nächte trieben dahin, und selbst die furchtbare Felsenschlucht der Wildnis duckte sich zu ihren Füßen wie ein Tal des fieberte. Ein Götter- und Heldenstück.
Mit diesem Bild in der Seele fuhren sie von dannen. Der Herbst blieb hinter ihnen zurück. Bei Needles an der Grenze Kaliforniens grüßten sie die ersten Palmen. Und mit weitgeöffneten Augen begrüßte Gertrud van Weert den steten Frühling des Südens, durch den der Frühling ihrer Jugend gewandelt war.