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Seit Stunden schon vernahmen sie das Rauschen des Sacramentoflusses, sahen sie vom Aussichtswagen hinab auf die blitzenden Windungen seiner Gewässer. Wieder rückte die Bergwelt heran. Gen Norden ging die Fahrt. Von San Franzisko, der alten Goldgräberstadt, eilte der Zug Tag und Nacht dahin nach Seattle, dem Stapelplatz für die neuen Goldfelder Alaskas.
Einer ungeheuren Festung gleich reckte der Mount Shasta seine viertausend Meter hohen Türme in den Himmel. Indianersiedlungen und Holzfällerlager wechselten in der wilden Landschaft. Hochwald bestand die Berge ringsum. Die Paßhöhe der Sierra Nevada war überwunden, der regenreiche Staat Oregon hatte die Sonne Kaliforniens abgelöst.
»Weshalb sind Sie so still, Fräulein van Weert? Färbe ich ab? Lassen Sie sich nicht darauf ein, wenn ich Ihnen raten darf.«
»Ich weiß,« entgegnete sie, »ich bin heute eine schlechte Gesellschafterin. Aber das liegt nicht an Ihnen, es liegt an mir selbst.«
»Wenn ich Sie nicht lachen sehe oder doch irgend etwas Freudiges und Festliches in Ihren Augen, fehlt mir etwas, und ich werde unruhig.«
Da zwang sie sich zu einem Lächeln.
»Nun ist schon der erste Dezember, und es war noch kein Tag, an dem Sie mich nicht verwöhnt haben! Selbst aus Ihren ernsten und aus Ihren schweren Gedanken heraus. Soll ich Sie zum Dank dafür mit meinen alten Geschichten langweilen? Ich werde schon wieder munter werden, ich verspreche es Ihnen.«
Er blickte zum Fenster hinaus auf die schneebedeckten Vulkangipfel des Kaskadengebirges und die von den Hängen niederstürzenden Wasserfälle des Kolumbiaflusses. Grau hingen die Wolken in die Schluchten hinab. Ein Windstoß quirlte sie durcheinander.
»Ist es die Landschaft und ihre trostlose Farbe, die die alten Geschichten in Ihnen wachruft? Sie sehen, Sie werden mich nicht los.«
»Es ist dieselbe Strecke, die ich mit meinem Bruder Jan nach Alaska fuhr, wo sie den Bahnbau planten. Sie wissen, ich habe ihn dort begraben. Aber ich wollte nicht davon erzählen. Es wird mir schon etwas Fröhlicheres einfallen.«
Er dachte eine Weile nach und beugte sich dann zu ihr vor: »Es wird bald Weihnachten, Fräulein van Weert. Da dürfen wir uns doch schon Geschenke ausdenken, nicht wahr? Würde es Sie freuen, wenn wir in Seattle nächste Woche einen Dampfer bestiegen und machten die Fahrt nach Alaska?«
»Wohin?« fragte sie, und ihre Augen starrten in die seinen.
»Nach Alaska, zum Grab Ihres Bruders Jan. Möchten Sie es wiedersehen? Sie brauchen nur ja zu sagen, denn Weihnachtswünsche erfüllen sich.«
Noch immer waren ihre Augen starr auf ihn gerichtet. Dann löschte eine Träne die Starrheit aus, lief die Wangen entlang und tropfte nieder.
»So weit also geht Ihre Güte ...«
»Es ist keine Güte. Es ist einfach die Freude, mit Ihnen zu reisen. Aber weinen müssen Sie nicht.«
»Es ist ja auch bei mir nur die Freude.«
»Also abgemacht. Sobald ich in Seattle nichts mehr zu tun finde, suchen wir uns einen Dampfer nach Alaska.«
Sie schüttelte den Kopf. Ein Lächeln glitt um ihren Mund.
»Nun bin ich schon auf der Rückfahrt. Soeben habe ich mit Ihnen am Grabe Jans gestanden. Es war so schön, daß Sie in Gedanken mit mir dorthin geeilt sind. Und wenn ein Mensch, der im Grabe liegt, noch etwas empfinden kann, so wird er Ihre hochherzige Tat tief empfunden haben.«
»Ich spreche im Ernst, Fräulein van Weert.«
»Und ich im allerheiligsten Ernst. Könnten wir des armen Jan tiefer gedenken, wenn wir dicht an seinem Grabe ständen, als wir es hier tun? Auf die Wärme der Empfindung kommt es an, nicht auf die Nähe oder Ferne des Ortes. Und der Ort, wo sie Jan begruben, besteht vielleicht gar nicht mehr. Die Goldsucher sind vorgerückt. Eis und Schnee, und wilde Tiere haben das ihre getan. Ich selbst würde den Platz wohl nie mehr wiederfinden. Nur den Küstenstrich. Und der ist im Winter vereist.«
»O,« wiederholte er, »vereist.«
»Ich glaube wahrhaftig,« sagte sie weich, »Ihre Güte könnte selbst das Küsteneis zum Tauen bringen. In mir hat sie schon alles aufgetaut, die Trauer und das Schweigen und alle eigensüchtigen Gedanken. So froh haben Sie mich gemacht.«
Und nun plauderte sie, bis die Kälte sie in den Schlafwagen trieb und sie ihre Lagerstätten suchten.
Der Regen strömte die Nacht, und er strömte, bis sie Portland erreichten und in den Staat Washington einfuhren, den nordwestlichen Staat der Union. Sie hatten kaum acht darauf, so vieles wußten sie sich zu erzählen, was sie bisher vergessen hatten, und es war, als ob das Herz immer neue Kammern öffnete und immer neue Schätze preisgäbe. Wie rein und klar sie ist, dachte Wegherr, und wie klug und fröhlich.
Am späten Abend langten sie in Seattle an, der aus der Erde emporgeschossenen Stadt, und schon am frühen Morgen, als der Regen aufgehört hatte zu strömen, ging es hinab an die Elliotbai und zum Hafen und wieder die Hügel hinauf, an denen die schmucke Stadt immer höher hinankletterte, und von den Schneegipfeln des Kaskadengebirges und der wuchtenden Olympicberge hehr umkränzt, lagen das Meer und die süßen Wasser des Washingtonsees und Unionsees wie die Fjorde Norwegens.
Länger als eine Woche durchforschte Wegherr die Stadt und ihre Umgebung, bis nach Britisch-Kolumbien dehnte er seine Fahrten, und abends saß er unter den Deutschen Seattles, kernigen Männern, die deutsch geblieben waren bis in die Knochen, und sprach zu ihnen und ließ sich selber belehren.
Ließ das Wetter keinen Ausflug zu, so arbeitete er auf seinem Zimmer, und Gertrud van Weerts schmale Hände lagen nicht eine Minute still auf den Tasten der Reiseschreibmaschine.
»Wissen Sie das Neueste, Fräulein van Weert?« unterbrach er plötzlich seinen Satz.
Sie schaute überrascht zu ihm auf, hob die Arme und drückte die schweren Flechten fester an den schlanken Kopf.
»Morgen ist der fünfzehnte Dezember, Fräulein van Weert. Das haben Sie sicher nicht gewußt.«
»Ist das ein Gedenktag?« fragte sie und sah ihn in Spannung an.
»Wir wollen ihn dazu machen. Dann ist er einer. Wie man das bewerkstelligt, meinen Sie? Man packt heute abend seine Koffer und fährt morgen ab. Das wäre nichts Besonderes. Aber wenn man sechs Tage und sechs Nächte durchfährt, von Westen nach Osten quer durch Amerika, in einer Fahrt, so erreicht man am zweiundzwanzigsten Dezember – Neuyork, Fräulein van Weert, wo wir beide einmal gelandet sind, als uns das Geschick nach Amerika trieb, und wo wir Weihnachten feiern wollen. Sozusagen angesichts der alten Heimat.«
Da tat sie einen Freudenschrei wie ein blutjunges Ding, warf den Deckel über die Schreibmaschine und stand mit gefalteten Händen und selig lachenden Augen vor ihm.
»Hab ich diesmal das Rechte getroffen, Fräulein van Weert? Nach der Sonne Kaliforniens schmeckt das Landstreichen durch den nassen, kalten Winter nicht.«
»Ja,« stieß sie hervor, »Sie haben das Rechte getroffen. Neuyork wird Ihnen gut tun. Dort werden Sie Freunde und geistvolle Menschen finden.«
»Wer spricht denn von mir?« fragte Wegherr verblüfft. »Ihnen wollte ich eine Freude machen, nur Ihnen!«
»Sehen Sie sie mir denn nicht an?« lachte sie und packte auf dem Tisch zusammen, was ihr in die Hände kam. »Ich darf mich doch auch wohl einmal ein ganz klein wenig für Sie freuen. Ich komme schon nicht zu kurz dabei.«
»Sie sind ein merkwürdiges Mädel,« sagte Wegherr kopfschüttelnd, aber es war ihm warm ums Herz geworden.
Als sie ihm die geordneten Schriftstücke überreichte, sah er sie lange an. »Wissen Sie auch, was mir die Reise besonders lieb macht? Daß der Bruder die Schwester nun sechs Tage wieder ganz für sich allein hat.«
Sie ließ die Arme sinken und den Blick am Boden irren. Eine Röte stieg ihr in die Wangen, stieg ihr in die Stirn. Sie suchte nach einem heiteren Wort der Entgegnung und wußte keines mehr zu finden.
»Es ist vielleicht sehr selbstsüchtig von mir, Fräulein van Weert. Nun, auch diese sechs Tage gehen ja vorüber.«
»Aber das ist es ja gar nicht, das ist es ja gar nicht.«
»Sie hatten ja nicht einmal eine Antwort für mich. Und das ist Antwort genug.«
Sie hob den Kopf. Die Röte war verschwunden. Und ihre Augen hielten stand.
»Sie wollen mich mißverstehen. Und wollen mich ein wenig quälen. Denn Sie kennen jede meiner Antworten, ohne daß ich sie aussprechen müßte. Diese sechs Tage sind für mich ein Geschenk. Vielleicht auf lange hinaus das letzte dieser Art. Ich weiß ja nicht, wie lange Ihr Aufenthalt in Neuyork dauern wird, aber über die Festtage und Neujahr hinaus wird er sicher dauern, und solange wird das schöne Brüderlein- und Schwesterleinspiel ein Ende haben.«
Sie schwieg und suchte nach den Schlußworten.
»War es notwendig, mich das aussprechen zu lassen?«
»Nein,« rief er zornig und fand sich nicht in die Lage, »das war nicht notwendig, weil es unsinnig wäre. Es ist doch selbstverständlich, daß auch in Neuyork zwischen uns beiden alles beim alten bleibt.«
»Werden Sie doch nicht böse. Ich laufe Ihnen doch nicht davon.«
Da kam die Röte zurück und färbte ihr Gesicht aufs neue, und das Mädchenlachen war auch wieder da.
»Wir sind wirklich wie Kinder,« sagte sie. »Je bessere Kameraden sie werden, desto mehr müssen sie sich quälen. Dazu sind wir doch eigentlich zu erwachsen. Also vernünftig: daß wir in einem Neuyorker Hotel und in der Gesellschaft Neuyorks nicht als Professor Dr. Wegherr und Fräulein Schwester erscheinen können wie im wilden Westen, das liegt doch auf der Hand. Neuyork ist doch nicht Amerika. Neuyork ist doch sozusagen die europäische Vorstadt auf amerikanischem Festland. Hier stoßen sich noch die Menschen, und die Neugier ist eine Tugend. Nicht der erste Tag könnte zu Ende gehen, ohne daß man wüßte, daß der berühmte Forscher Dr. Wegherr überhaupt keine Schwester besitzt. Sie würden aus einer Verlegenheit in die andere getrieben werden, man würde Ihnen Dinge nachreden, an die Ihre aufrichtige Seele nie gedacht hat, und Sie mit Blicken und Flüstern in Verwirrung setzen. Dafür aber sind Sie mir viel, viel zu gut, und die verflossenen Tage mir viel, viel zu heilig. Ich werde während des Aufenthalts in Neuyork eine Pension aufsuchen und bei Ihnen zur Arbeit erscheinen, wann Sie mich rufen.«
»So viel geben Sie auf das ungewaschene Maul der Leute, Fräulein van Weert?«
»Meinetwegen? Muß ich das erklären? Aber ich gebe nicht zu, daß kleine, schmutzige Geister mit Worten und Händen an Ihnen herumtasten. Ich allein kenne Sie, und ich allein habe daher die Pflicht, für Sie zu sorgen. Jetzt bin ich an der Reihe.«
Sein Zorn war verflogen. Er nickte ihr zu, wie man einem Kinde zunickt, das man nicht verletzen will.
»Schön, schön, Sie liebe Tugendwächterin. Sie haben freie Hand. Aber in Neuyork, fürchte ich, werden wir nicht lange bleiben.«
»Ich bin keine Tugendwächterin. Eine Freundin ist weniger und doch mehr.«
»Mein Schwesterlein sind Sie. Und nun gehen Sie und packen Sie in aller Heiligen Namen. Halt!« rief er ihr nach, als sie schon in der Tür stand, »was haben Sie sich soeben gedacht?«
»Daß Sie ein weltberühmter Forscher und ein großer, großer Junge sind,« sprudelte sie lachend hervor und war hinaus.
Sechs Tage und sechs Nächte fuhren sie von Westen nach Osten. Sechs Tage und Nächte fuhren sie durch Felsengebirge und Hochwald, durch öde Steppe und fettes Weizenland, durch die Heimat des Goldes, des Silbers und der Kohle. Sie lasen die Namen der Dörfer und Städte nicht mehr und fragten nicht nach den Reisenden und ihren Zielen. Und sie zählten die Tage, die dahinflogen, und verlängerten die Tage, die noch blieben.
Sechs Tage, in denen nicht ein Gedanke war, den sie nicht mit in die Nächte genommen hätten.
Am dreiundzwanzigsten Dezember begegneten sie sich schon in der Morgenfrühe im Wagengang.
»Schon auf? Es ist ja noch dunkel.«
»Und Sie? Soll ich es schlechter haben?«
»In zwei Stunden sind wir in Neuyork. Ich habe Ihnen noch nicht einmal gedankt, Fräulein van Weert.«
»Und ich Ihnen noch nicht.«
»Das möcht' ich mir auch schönstens verbeten haben.«
»Auf Wiedersehen beim Frühstück.« Und sie zog den Mantel enger und huschte von dannen.
Neuyork war erreicht. Nebeneinander standen sie am Fenster und starrten in die lebenerfüllten Straßen, die der Zug durchfuhr. Am Bahnhof nahmen sie Abschied. Hastig, als dränge es sie auseinander, und doch war es nur die Hast, es einander leichter zu machen. Alles war zwischen ihnen beredet. Er nahm Wohnung im Hotel Astor und sie nahebei in einem Pensionat auf dem Broadway.
Noch war sie keine Stunde in ihrem Stübchen, als sie ans Telephon gerufen wurde.
»Hallo, Fräulein van Weert? Kann ich Sie halb ein Uhr vor der Metropolitanoper treffen? Um ein Uhr beginnt der ›Parsifal›. Ich habe glücklich noch zwei Karten erstanden.«
»Ich komme,« rief sie zurück. »Vielen Dank, daß Sie an mich gedacht haben.«
Sie war auf die Minute pünktlich. Und er begrüßte sie, als hätte er sie Wochen hindurch nicht gesehen.
»Natürlich haben Sie noch nichts gegessen, wie ich Sie kenne.«
»Gott, ist das so nötig?«
»Ich dachte es mir. Deshalb bestellte ich Sie eine halbe Stunde zu früh hierher. Kommen Sie schnell mit ins Restaurant. Ohne Widerrede.«
Sie folgte ihm wie ein Kind.
Dann saßen sie dicht nebeneinander in der Loge und hielten den Atem an vor den tiefsten Geheimnissen des Himmels und der Erde, die sich in überirdischen Bildern, überirdischen Harmonien ihnen zu offenbaren strebten. Alle Müdigkeit war vergessen. Der letzte Gedanke an Wildnis und Strapazen abgetan. Ihre Augen waren groß und weit, ihre Lippen bebten. Amfortas, der leidende König, hob den heiligen Graal. Süßer Knabengesang flehte zum Himmel. Und nichts war mehr in Wegherrs und Gertrud van Weerts weitentführter Seele als Sehnsucht, Sehnsucht. Sehnsucht nach irgendeinem fernen Glück.
Draußen fiel der Schnee in weichen Flocken, und die elektrischen Lampen warfen ihr Licht durch den Dezemberabend und das Menschengetriebe auf den Straßen. Wegherr stellte den Rockkragen hoch und vergewisserte sich, daß auch Gertrud van Weert durch Pelz und Muff gegen das Wetter geschützt sei. Sein Blick ruhte länger auf ihr. Wie seltsam ernst sie das Köpfchen auf dem schlanken Hals trug. Wie unter ihrem Atem die Brust sich spannte, als könnte sie das Herz nicht mehr halten. Wie rührend schön sie war ...
Er nahm wortlos ihren Arm und legte ihn in den seinen. Und wortlos gingen sie durch das Schneegestöber und bogen in eine Straße und wieder in eine, bis eine Stunde vergangen war oder mehr.
»So,« sagte Wegherr, »jetzt sind wir wohl langsam wieder auf der Erde.«
Sie strich sich über die Augen und nickte.
»Zwei Halbwilde kommen aus der Barbarei und hören den ›Parsifal›,« fuhr er fort. »Wir können noch von Glück sagen, daß wir das Restchen Verstand noch behalten haben. Verzeihen Sie, ich meine natürlich nur mein Restchen. Aber schön war es, wunderbar schön.«
Und plötzlich fühlte er, daß sie am ganzen Körper erzitterte.
»Ich bin wirklich nicht bei Vernunft,« eiferte er zornig gegen sich selbst. »Nach sechstägiger Eisenbahnfahrt schleppe ich Sie in den ›Parsifal‹ statt zu sorgen, daß Sie Ruhe bekommen und endlich wieder das Eisenbahngeratter aus den Gliedern kriegen. Wenn's noch ein Zirkus oder eine Operette gewesen wäre. I wo, unter dem ›Parsifal‹ tu ich's nicht! Gerade der ›Parsifal‹ muß es sein, mit seiner glühenden Mystik und Leidensqual. Ich habe wirklich keine andere Entschuldigung, als daß ich da draußen verwildert bin.«
»Still,« bat sie, »nicht so fortfahren. Oder ich heule auf offener Straße los.«
»Da haben wir's.«
»Aus lauter Glück, daß ich das erleben durfte. Aus lauter Glück über all die jähen Gegensätze, durch die Sie mich führen wie auf einer Höhenwanderung. Stiller Ozean, Felsengebirge, Prärie, Parsifal. Wer macht Ihnen das nach? So eine Weihnachtszeit habe ich seit Jahren nicht erlebt.«
»Sie fühlen sich nicht krank? Sie zitterten ja wie ein Fähnlein im Winde!«
»Ach, was tut denn das? Glücksfähnchen zittern auch im Winde.«
»Wie Sie sich freuen können, Fräulein van Weert. Das ist fast das Schönste an Ihnen. Ich habe ›fast‹ gesagt.«
Sie fühlte seinen Blick wohl, aber sie schaute nicht auf. Nur um den Mund glitt es warm und weich. Und er dachte: das ist das Allerschönste. Ein Frauenmund, der noch keinen Mann geküßt hat. Jan zählt nicht. Und Arm in Arm zogen sie im Schneetreiben durch die Straßen Neuyorks, bis sie den Broadway wieder erreicht hatten und vor der Tür der Pension standen.
»Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich Sie am liebsten bei mir behielte, Fräulein van Weert. Ich werde mir verlassen wie ein Waisenknabe vorkommen. Aber Sie gehören jetzt ins Bett. Lassen Sie sich den Tee auf Ihr Zimmer bringen und kriechen Sie unter die Decke. Und dann: ausgeschlafen! Vor zwölf Uhr mittags treffen wir uns nicht. Nein, Sie brauchen nicht ins Hotel zu kommen. Ich bin hier unten. Gute Nacht, Fräulein van Weert.«
In die Haustüre gedrückt, blickte sie ihm nach, bis seine Gestalt im Schnee verschwunden war.
Zwölf Stunden schlief sie, ohne auch nur ein einziges Mal zu erwachen. Das hatte gut getan. Und die lauwarme Dusche war wie ein Frühlingsregen. Mit rechtem Jugendhunger machte sie sich über das Frühstück her.
Um zehn Uhr wurde ein Paket bei ihr abgegeben. Sie entknotete den Bindfaden. Das ging nicht rasch genug. Mit dem Messer ging's schneller. Sie schlug das Papier auseinander und fand ein paar Bände. Ernst Wegherrs Hauptwerk. Und auf dem Titelblatt die Widmung: »Gertrud van Weert, der Wandergefährtin, zum Weihnachtsgruß. Ernst Wegherr.«
Die Mädchenungeduld war verflogen. Sie saß vor den Bänden und streichelte mit weichen Händen darüber hin. Ganz feierlich war ihr zumute. »Zum Weihnachtsgruß.« Das war ihr seit Jahren nicht geschehen, und sie hob das Buch näher, um Wort für Wort der Widmung zu studieren. Und mit einer hastigen Bewegung preßte sie ihre Lippen auf seinen Namen.
»Das ist mein Weihnachtsgruß an dich. Sonst habe ich nichts.«
Und sie ging in ihrem Stübchen auf und ab.
»Neuyork tut Ihnen gut, Fräulein van Weert. Sie sind so frisch wie eine Heckenrose.«
Sie schritt spannkräftig neben ihm her in der kalten klaren Winterluft, und ihre Wangen waren gerötet.
»Sie machen es mir so leicht und so schwer. Da gehe ich am Weihnachtsabend neben Ihnen her mit leeren Händen.«
»Wenn das Herz nur nicht leer ist.«
»Nein, das ist es nicht. Das hat nun Vorrat für Jahre. Und Ihr Werk habe ich. Wenn ich darin lese, wandere ich wieder mit Ihnen. Kein Mensch kann es so gut haben.«
»Seien Sie doch nicht so bescheiden, Fräulein van Weert.«
»Nennen Sie das bescheiden? Ich meine, die ganze Welt müßte mich um diese Weihnachten beneiden.«
»Heute feiern wir für uns. Über die Festtage werde ich wohl nicht verfügen können. Ein Jugendfreund, der hier als Journalist wirkt, hat mich bereits ausfindig gemacht und mir seine Karte aufs Zimmer geschickt. Die Herren sehen im Hotelbüro die Listen der Angekommenen auf ›Namen‹ durch, um die ›Prominenten‹ zu ›interviewen›. So stöberte er mich auf wie den Dachs im Bau und bat mich zu Tisch. Ich ließ ihm zurückmelden, ich läge in tiefen Träumen und wäre vor morgen nicht verhandlungsfähig. O nein, der Weihnachtsabend gehört uns. Das ist mein Weihnachtsgeschenk, und das lasse ich mir nicht einmal von der Großmacht Presse nehmen.«
»Wohin?« fragte sie, und es lag wie ein Liedklang in ihrer Frage.
»Wohin? Zur Battery! Zum Hafen! Haben wir uns nicht versprochen, wir wollten Weihnachten im Angesicht der Heimat verleben? Näher heran können wir diesmal leider nicht.«
»Zum Hafen! Ja – ja!«
Den Broadway ging es entlang, immer den Broadway. Turmhoch stiegen die Häuser zur Linken und zur Rechten, und das Drängen und Hasten der Menschen wurde immer aufgeregter, je mehr sie sich der unteren Stadt näherten. Hier war das Jagdgebiet der Glücksjäger und der Unglücksvögel, der Mächtigen im Reiche des Dollars und der zu Tode Gehetzten. Hier war die große Mühle, in die Besitz, Gesundheit, oft auch die Ehre hineingeworfen wurde, um über Nacht Säcke mit Goldstaub zu füllen, die große Wundermühle, die doch zuletzt nichts Anderes zutage förderte als zerschrotete Menschenknochen. Hier war Wall-Street mit Banken und Börsen. Hier war die große Lotterie im Leben der Völker.
Lang streckte sich die Insel Neuyork, die alte Manhattan-Insel, und es lag viel Raum zwischen dem Geschäftsviertel, in dem fiebernd der Dollar geprägt wurde, und den stolzen Avenuen, den Villen und Palästen, in denen man ihn gleichmütig wieder durch die Finger rinnen ließ. Der Zwischenraum aber hieß Menschenelend.
»Nein,« sagte Wegherr, »davon heute nichts. Dort fließt der East River, dort mündet der Hudson. Nun haben wir die Battery und blicken über den Hafen. Fräulein van Weert, wenn Sie in dieser Richtung weiterschauen, immer weiter, Fräulein van Weert, dorthinaus liegt Deutschland.«
»Dorthinaus liegt Deutschland ...« wiederholte sie feierlich.
»Und irgendwo dort fließt der Rhein durch das Niederrheinland, und wenn er die holländische Grenze überschreitet, murmelt er: hier spielte doch einst die kleine Gertrud van Weert? Wo mag sie sein?«
»Ach,« sagte sie, »vielleicht ist eine der Wellen hier Wasser aus dem Rhein, das bis hierher gewandert ist und uns erkennt und uns so wohlgemut vorfindet, daß es bis auf weiteres die Sorge um uns hinter sich läßt. Ja, so wird es sein.«
»Denn es ist Weihnachtsabend, Fräulein van Weert. Und über das Meer kommt der Duft von deutschen Tannenbäumen.«
»Mein Weihnachtsbaum brennt schon seit der Frühe.«
»Deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen.«
»Nein, Sie haben ihn mir ja gebracht.«
»Aber Sie haben die Lichter entzündet, und nun bin ich Ihr Gast, Ihr Weihnachtsgast und lasse mich von Ihnen beschenken.«
»Könnte ich es, so täte ich es mit vollen Händen.«
»Behalten Sie mich ein wenig lieb, Fräulein van Weert.«
»Das tue ich.«
Über das Hafengeländer der Battery gelehnt, den Blick suchend in die Ferne gesandt, feierten sie ihren Weihnachtsabend.
Es dunkelte, und die Wasser verschwammen mit der Ferne. Ein scharfer Wind sprang auf und mahnte an den Heimweg. Da schob Wegherr den Arm Gertrud van Weerts in den seinen und ging mit ihr die Straßen zurück, bis sie einen Wagen fanden.
»Zu Delmonico,« gebot er dem Kutscher, und die Pferde zogen an.
Bis sie das berühmte Restaurant in der fünften Avenue erreicht hatten, saßen sie still nebeneinander. Dann lachte Wegherr aus befreiter Brust. Denn eine Frage war an sein Ohr gedrungen, schüchtern und mädchenhaft: »Bin ich Ihnen auch hübsch genug angezogen für das vornehme Restaurant?«
»Mädchen, Mädchen, es wird Ihnen keine das Wasser reichen können!«
Und nun lachte sie mit ihm, hob den Kopf und betrat stolzen Schrittes an seiner Seite die glanzvoll erhellten Räume.
Der Direktor geleitete sie zu einem rosengeschmückten Ecktischchen, legte mit einer Verbeugung Speisekarte und Weinkarte vor sie hin und zog sich ehrerbietig zurück. Rings an den Tischen plauderten befrackte Gäste, Blumen im Knopfloch, mit brillantengeschmückten Damen in tief ausgeschnittenen Abendgewändern.
»Herrgott,« stammelte Gertrud van Weert, »nun haben Sie ein Aschenbrödel neben sich.«
»Sie sehen aus wie eine verkleidete Prinzessin und die anderen wie reichgewordene Amerikanerinnen. Mein Wort darauf.«
Da war sie, wie sie immer war, frisch und ohne Scheu. Und sie nickte strahlend zu allen den Gerichten, die er zur Zusammensetzung des Weihnachtsmahles vorschlug und die sie kaum dem Namen nach kannte, und sah ihm flink auf die Finger und ahmte jede seiner Bewegungen mit einer Anmut nach, die ihn entzückte.
Er hob die Sektschale, und sie tat es ihm nach.
»Fröhliche Weihnachten,« sagte er und stieß mit ihr an.
»Fröhliche Weihnachten,« antwortete sie, und es ging wie eine Verklärung über ihr Gesicht.
Als der brennende Plumpudding aufgetragen wurde, leuchteten ihre Augen aufs neue. »Er brennt zwar nicht so schön wie ein deutscher Weihnachtsbaum, aber man denkt doch gleich an etwas Festliches, Nichtalltägliches. Bei uns daheim war es zwar auch nur eine kleine Tanne, die erst wenige Stunden vorher gekauft wurde. Die Mutter bekam sie dann zu einem Drittel des Preises, aber für mich als Kind war sie mit ihrem Dutzend Lichtern doch so schön wie der Sternenhimmel. Und dann traten wir im Kreis um sie herum und sangen miteinander das alte Weihnachtslied, bis es mir ganz selig zumute wurde, und dann erst durften wir die Tücher aufheben, die über den Gaben lagen, und die Geschenke anstaunen, die mir ganz überirdisch erschienen und doch nicht mehr waren als ein Sonntagskleid, das ich notwendig brauchte, eine Puppe, Lebkuchen, Spekulatius, Apfel und Nüsse. Die Eltern klopften uns Kindern wohlwollend auf die Schultern, und der Jan holte eine feine Laubsägearbeit hervor und ich eine Stickerei auf Stramin, die wir mit Herzklopfen überreichten. Und zu Tisch gab's ein Glas Punsch, und Vater und Mutter sprachen mit uns, was sonst bei Tisch nicht geschah.«
Weihnachtsselig erzählte sie von der kargen Jugend, die ihr in der Erinnerung heute heller und freudiger winkte. Und von den Weihnachtsfesten, die sie im Zelt, mitten in der Prärie, begangen hatte, vom Pferd herunter und an den Tisch, Kerzen in die Leuchter, Brot, Fleisch und Bier zum Mahl, und mit Jan gesungen, bis sie von allen Seiten herbeigeschlichen kamen, die Männer der Arbeiterkolonne, die Enterbten aller Völker, um verwundert zu horchen oder auch heimlich ergriffen, wenn es Deutsche waren.
»Heute aber,« schloß sie still, »ist der schönste Weihnachtsabend, den ich je erleben durfte. Weil Sie mein Freund geworden sind.«
Durch die Weihnachtsnacht gingen sie die wenigen Schritte bis zu dem Hause, in dem sie wohnte, und als er ihr gute Nacht wünschte, zog er zum erstenmal ihre Hand an die Lippen. –
Noch war Wegherr mit dem Ankleiden beschäftigt, als ihm Will Finkler gemeldet wurde. Der ehemalige Jugendgefährte war dem Boy auf dem Fuße gefolgt und stand bereits in der Zimmertür. »Hallo, Doktor! Hab' ich dich endlich, alter Amerikafahrer?«
Wegherr streckte ihm die Hände entgegen.
»Finkler! So früh schon? Das nenn' ich wirklich alte Anhänglichkeit. Setz dich einen Augenblick nieder. Ich habe nur noch die Krawatte zu binden. Dann frühstücken wir miteinander.«
Finkler suchte sich den bequemsten Sessel, streckte die Beine und klemmte das Einglas ins Auge.
»Jawoll, Doktor, alte Anhänglichkeit. Mehr! Ich sammle feurige Kohlen auf deinem Haupte. Hast du mir ein einzigesmal geschrieben? Wie? Ich meine nicht eine Ansichtskarte mit Gruß und Kuß, sondern etwas Nahrhafteres, das man in der Zeitung als ›Entrefilet‹ auftischen könnte? Hast du dich angemeldet? Wie? Damit ich dich im Interview auspressen und deine Schweißtropfen in Zeilenhonorar umsetzen könnte? Hast du mir überhaupt etwas mitgebracht zum Heiligen Christ? Einen Julklapp? Ein ›Christmas Present›? Nichts, gar nichts. Ich aber beschäme dich an Edelmut und schenke dir diese Zeitung.«
Er holte ein Zeitungsblatt aus der Brusttasche und hielt es Wegherr hin. »Lies und strahle, denn es hat dich nichts gekostet.«
Wegherr nahm das Blatt entgegen und entfaltete es. Der Titel kündigte ihm eine der größten Zeitungen Neuyorks an. Und unter dem Titel prangte es in gewaltigen Buchstaben: »Heimkehr des berühmten Geschichtsforschers Professor Doktor Ernst Wegherr von seinen Forschungsfahrten durch alle Staaten der Union.« Ein viele Spalten füllender Artikel schloß sich an, ein großes Bild Wegherrs diente ihm zum Schmuck.
»Du – Finkler – es ist wahr. Du hast mich wirklich beschämt.«
»Lies das Zeug nicht, Doktor. Es ist für amerikanische Leser. Solltest du zum Beispiel in den Bergen von Pasadena den aufregenden Bärenkampf nicht haargenau so bestanden haben, wie ich ihn in der Zeitung nacherlebte, so liegt das lediglich an deiner Schreibfaulheit und nicht an dem Bären. Den Ruhm aber hast du weg. So ein Bär schafft dir mehr Publikum als drei Bände geschichtsphilosophischer Betrachtungen.«
Wegherr schüttelte ihm die Hand.
»Ich habe mich schon an den Ton eurer Musik gewöhnt. Und aus dieser Weihnachtsmusik hier höre ich nur den Ton der Freundschaft heraus. Lieber Kerl, den ganzen Weihnachtsabend mußt du ja geopfert haben. Ich werde schon Vergeltung üben.«
»Davon ein andermal, Doktor. Wollen wir jetzt frühstücken?«
»Du siehst etwas blaß aus,« sagte Wegherr, als sie im Frühstückssaal des Hotel Astor beieinander saßen. »Arbeitest du zu angestrengt, oder ist es der Becher?«
»Der Becher? Was ist das? Wie sieht das Ding aus? Ach richtig, ein Begriff aus grauer Vorzeit. Nee, Doktor, der Becher ist mir aus der Hand gefallen, als man mir den Trauring überstreifte.«
»Du bist – verheiratet?«
»Siehst du es mir nicht an, Doktor? Soeben fandest du doch selber, daß –«
»Ich wünsche dir von Herzen Glück, Wilhelm.«
»Keine Ursache. Nee, wirklich nicht. Du brauchst die Gutmütigkeit nicht zu weit zu treiben.«
Er aß und trank mit gutem Appetit, winkte dem Kellner und ließ sich noch ein paar Scheiben gerösteten Speck bringen.
»Du wirst Mistreß Finkler ja wohl heute noch kennen lernen. Eine ausgezeichnete Dame. Du bist doch frei?«
»Aber natürlich werde ich deiner Frau heute meine Aufwartung machen. Um welche Stunde befiehlst du?«
»Ich? O, um zwölf Uhr wird Mistreß Finkler wohl empfangsbereit sein. Ihre Nerven brauchen sehr viel Schlaf. Sehr viel. Denn die Bedürfnisse des Tages kosten nichts als Nerven. Du mußt verheiratet sein, Doktor, um erst zu erfahren, wie viele Nerven es auf der Welt gibt. Solche, die angeregt sein wollen, und solche, die der tiefsten Ruhe bedürfen. Ob man schon einen Cocktail trinken kann?«
»Wenn du ihn verträgst – warum nicht?«
»Seltsam. Ich vertrage ihn schon über zwanzig Jahre. Aber es wird angezweifelt. Nun – einer Dame widerspricht man nicht. Kellner!«
Er schlürfte das scharfe Getränk mit Behagen. »Zigarre hast du wohl nicht? So eine ganz frische, weißt du?«
»Hier ist eine Romeo. Die wird dir schon munden.«
»Donnerwetter.« Er zündete sie an und sog den Rauch tief ein. »Heute ist wahrhaftig Weihnachten.«
Wegherr musterte ihn. Da saß der ehemalige Student, der ewig unruhvolle, das Einglas wie immer im Auge, rot die Schlägernarben auf Wange und Stirn, und trank heimlich ein Glas und rauchte heimlich eine Zigarre. Ein Mann über die Vierzig, furchtlos und skrupellos, eine Landsknechtnatur, die nur nach der Beute blickte und den Teufel danach fragte, aus welchem Lager sie zu holen war – da saß er wie ein »tumbes Brüderlein«.
»Nicht wahr, Doktor? Bemerkenswertes Abbild der Menschheit?«
»Die gute Laune scheinst du nicht verloren zu haben. Man hat dich wohl nur ein bißchen auf die Kandare genommen.«
»Ein bißchen. Und du meinst, das könnte nicht schaden? Ganz meine Meinung. Aber sag mal, was ist denn eigentlich ›ein bißchen›? Du weißt es nicht, alter Sohn. Solange du nicht verheiratet bist, hast du vorsintflutliche Begriffe von Größenverhältnissen. Deine sämtlichen Junggesellenkoffer reichen nicht, um ›das bißchen‹ hineinzupacken und hinauszubefördern. Was aber übrigbleibt, ist das, was du selber am liebsten an dir entbehren möchtest. Tugend, Wohlverhalten, Gehorsam und Schweigsamkeit. Die Erziehung zur Ehe wäre also am zweckmäßigsten in einem Trappistenkloster zu erlangen.«
»Höre mal, Finkler, ich argwöhne, dein böses Gewissen philosophiert? Bist du wenigstens glücklich geworden?«
»Sehr, sehr glücklich. Und ich gebe dir nur den einen guten Rat: heirate nie!«
»Ist deine Frau Amerikanerin?«
»Du warst immer ein Gedankenleser, Doktor. Sie ist es. Sie ist es bis auf das Emporziehen der kurzen Oberlippe, wenn ihr etwas an mir mißfällt. Eine ganz ausgezeichnete Amerikanerin.«
»Du hast dich sehr plötzlich zum Heiraten entschlossen. Vor Jahr und Tag dachte deine Seele noch nicht daran.«
» Meine Seele. Aber auf die kam's ja gar nicht an. Wie denkst du dir eigentlich das Heiraten? Man trinkt ein Glas in frohem Kreise, zwei, drei und mehr, wirft sich in die Brust, schneidet nach Landessitte auf, was für ein verwegener Geschäftsmann und Krösus man ist, verdreifacht seine Einnahmen, fängt einen warmen Blick auf, schäkert, holt sich im Wagen ein Küßchen und empfängt anderen Tages Verlobungsglückwünsche die schwere Menge. Was willst du als Gentleman machen? ›Habe ich wirklich und wahrhaftig Ihr Jawort erhalten?‹ fragst du schüchtern die Lady. Und sie erwidert errötend: ›Sehen Sie nun, lieber Will, wie schädlich das Laster des Trinkens ist? Wenn ich es nun auch nicht mehr wüßte, so wäre Ihnen das Glück Ihres Lebens aus der Hand geglitten. Will, nicht wahr, keine geistigen Getränke mehr. Es ist auch so viel sparsamer, und du kannst die Freude haben, mir für das Geld so mancherlei Schönes zu kaufen.‹ Kellner!«
»Du trinkst noch ein Glas?«
»Nur um die Zigarre zu Ende zu rauchen.«
Eine Stunde später fuhren sie in der Untergrundbahn unter der Sohle des East River hinweg nach Brooklyn hinüber, wo Finkler eine hübsche Wohnung hatte.
»Mrs. Finkler zu Hause?« fragte er das Dienstmädchen, das den Herren die Türe öffnete.
»Ich werde nachsehen, Mr. Finkler.«
»Nun, dann können wir ja zunächst bei mir eintreten,« meinte Finkler und lud den Freund in sein Arbeitszimmer.
Nach zehn Minuten erschien das Mädchen wieder und bat die Herren im Auftrage der Hausfrau in den Salon. Es war ein etwas kahler Raum mit Polstersesseln, und aus einem der Sessel erhob sich eine Dame, legte ein Buch aus der Hand und blickte den Eintretenden verwundert entgegen.
»Verzeihe die Störung, Cony, aber ich bringe dir hier meinen Freund, den berühmten Professor Doktor Wegherr, der dir seine Verehrung zu Füßen legen möchte.«
»O,« sagte sie in liebenswürdigstem Ton und reichte Wegherr die Hand, »ich bin sehr erfreut, Sie zu sehen, Herr Professor. Wollen Sie sich nicht ein paar Minuten niedersetzen? Ich habe schon vieles über Sie gelesen. Wie gefällt Ihnen Amerika?«
»Ich bin glücklich, gnädige Frau, meinen alten Freund Finkler in so reizender Gesellschaft zu wissen.«
Sie lächelte. Sie wußte, daß sie schön war.
»Ach,« sagte sie, »hören Sie es, Mr. Finkler, Ihr berühmter Freund ist glücklich.«
»Aber natürlich, liebe Cony. Schönen Frauen anderer Männer gegenüber ist man immer glücklich.«
»Er ist boshaft,« lächelte sie. »Es liegt an seinem Beruf, daß er boshaft ist. Man darf es ihm nicht übelnehmen.«
»Liebe Cony, nur die boshaften Artikel werden gut bezahlt. Die anderen erhalten nur ein Achtungshonorar. Aber du sollst entscheiden.«
»Mein Gott,« lachte sie ohne Zwang, »Mr. Finkler ist köstlich. Wie kann man von Geld sprechen? Finden Sie nicht, Herr Professor, daß man ebensogut von der Lust sprechen könnte, die man doch auch zum Leben braucht? O, Herr Professor, Mr. Finkler leidet noch sehr an deutscher Empfindsamkeit. Wozu heiratet man in Deutschland eine elegante Frau? Um eine Köchin daraus zu machen? Dann heiratet man doch viel einfacher gleich eine Köchin und verzichtet auf Grazie und Eleganz. O, mein lieber Mr. Finkler, Ihr berühmter Freund, der die ganze Welt kennt, wird Ihnen sagen, daß Sie Tag und Nacht arbeiten müssen, um eine Frau wie mich zu verdienen.«
»Ich hoffe, gnädige Frau,« entgegnete Wegherr heiter, »mein alter Freund Finkler gibt Ihnen von Tag zu Tag weniger Grund zur Klage.«
»O, er ist sonst ein sehr lieber und umgänglicher Mensch.«
»Das freut mich von Herzen. Es wird etwas Tüchtiges aus ihm werden.«
Finkler verneigte sich, nahm die Hand seiner Frau und küßte sie und küßte auch die andere Hand.
»Wenn du es wünschest, liebe Cony, tue ich sogar den großen Schritt des Journalisten zum Börsenspekulanten. Da das der Feiertage wegen aber erst übermorgen sein kann, so möchte ich mich heute einmal nach dem Lunch erkundigen.«
»Nach dem Lunch?« fragte sie erstaunt. »Ich hatte erwartet, die Geschäfte zwängen die Herren, den Lunch in der Stadt zu nehmen?«
»So ist es,« erwiderte er mit einer Verneigung. »Und was beabsichtigst du für den Abend?«
»Ich bin zu einer Freundin eingeladen. Wir können ja noch miteinander telephonieren.«
»Gewiß, das können wir. Ja, lieber Doktor, die Stunde schlägt. Wir müssen weiter.«
Wegherr hatte sich erhoben. Er beugte sich über der Hausfrau Hand und sprach seinen Dank aus für den liebenswürdigen Empfang.
»Ich bin sehr unglücklich,« sagte sie, »daß Sie schon gehen müssen. Auf Wiedersehen. Oft.«
An diesem Tage hatte Wegherr eine schwere Aufgabe. Der ehemalige Schulgefährte wich ihm nicht von der Seite und zechte am Abend so wacker, daß er ihn heimfahren mußte, um seine wilde Schwermut zu beschwichtigen.
»Doktor – wenn ich nach Australien ginge? Oder nach Kapland? Auch in der Mandschurei soll es sich leben lassen.«
In der Haustür drehte er sich noch einmal um und ergriff des Freundes Hand.
»Vergiß es nicht, Doktor. Was du mir versprochen hast. Ich bekomme dein neues Werk zur Übersetzung und lasse es in Feuilletons erscheinen. Tag und Nacht muß gearbeitet werden. Tag und Nacht. Denn ich habe eine elegante Frau.«
»Gute Nacht, Finkler.«
»Gute Nacht, Wegherr. Und wenn du nach Deutschland kommst und siehst die Herzbachstraße, dann sag ihr – ja sag ihr: der Wilhelm Finkler aus dem vierten Haus sei in Amerika ein scheußlich vornehmer Herr geworden, sehr, sehr glücklich. Aber er lasse sie doch von Herzen grüßen, die Herzbachstraße, von allem, was ihm an Herz noch übriggeblieben sei. Ja – das vergiß nicht. Besten Dank, Wegherr.«
Was wird von ihm übrigbleiben? grübelte Wegherr auf der Heimfahrt. Er schreibt für englische Blätter und hat eine deutsche Zeitschrift gegründet, für die er bei den Deutschen mit dem Klingelbeutel herumgeht. Beides in einem Atem. Kein Mensch verübelt es ihm, daß er so oder so seine Einnahmen erhöht. Aber jeder würde ihm das Gegenteil verübeln. Und nun wird diese kühlwägende, hübsche Frau aus dem Restchen von Idealisten einen Geschäftspolitiker erstehen lassen, und im nächsten Jahre werden wir Will Finkler in Wallstreet sehen oder in Broadstreet an der Börse. Heute hat er zum letztenmal im Leben an die Herzbachstraße gedacht. Aufgesogen ...
Seine Stimmung war ernst geworden. Noch einmal dachte er an die Ehe des einstigen Freundes. Es schüttelte ihn in den Schultern.
So beschloß er den Weihnachtstag.