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19

Die alte Frau stand auf der Veranda ihres Hauses und winkte ihren Besuchern nach, so lange sie sie zu sehen vermochte. Und immer wieder wandten Wegherr und Gertrud van Weert den Kopf und grüßten zurück und nahmen das Bild in sich auf, um es mit sich ins Leben zu nehmen.

Wie zwei Kameraden schritten sie aus, dicht nebeneinander und in gleichem Schritt, nur daß sich ihre Augen häufiger suchten und ihre Blicke wie verwundert durcheinander wirrten.

»Du!« sagte Wegherr. »Die ganze Welt ist verhext. Mitte Februar und warme Sonne.«

»Das bildest du dir nur ein. Für mich ist es Mai.«

»Gib mir ein bißchen ab von deinem Mai.«

»Komm mir nicht zu nahe. Ich freue mich, daß ich noch atmen kann.«

»Ach du –« sagte er verträumt, »dein lieber Mund ...«

Und sie gingen weiter, immer im gleichen Schritt, und sprachen nicht mehr, weil sie nicht Worte genug fanden.

Durch die frische Morgenlandschaft fuhren sie den Weg zurück nach Neuyork und langten am Nachmittag an und ließen sich ohne Aufenthalt nach dem Bahnhof bringen, der die Züge nach Boston entließ.

»Noch diese eine Fahrt,« sagte Wegherr und atmete erleichtert auf, »dann können wir planen, was wir wollen, und ich weiß, was wir wollen.«

»Soll ich denn mit nach Boston?« fragte sie zurück. »Geht es auch an?«

»Ob das angeht?« wiederholte er. »Wir sind tausende von Meilen miteinander gefahren, und wenn ich dich als Freundin wert hielt, so werde ich dich doch als zukünftige Ehre meines Hauses noch tausendmal mehr wert halten.«

»Ja,« sagte sie, und ihre Augen blickten ihn an.

»Zum letztenmal als Bruder und Schwester. Du! Zum letztenmal. Wenn es die Leute wüßten, daß wir Mann und Weib werden wollen, sie würden es nicht verstehen, daß wir so reisen können. Denn die Leute tragen immer ihre eigenen ungewaschenen Gedanken hinein und nennen das Mischmasch ›Moral›. Wir beide wollen lieber weniger von der Moral der Leute und mehr vom eigenen Selbstvertrauen haben. Das schafft ein kräftigeres Rückgrat. So – da hätten wir den Bahnhof.«

Und nun saßen sie im Salonwagen und hatten die Sessel einander zugekehrt und versuchten, wie ernsthafte Reisende miteinander zu plaudern, aber die Augen leuchteten ihnen bald, daß das geringfügigste Wort seinen Schein erhielt.

Der Zug hatte Neuyork verlassen. Noch einmal winkten die stolzen Gebäude der Columbia-Universität. Dann ging es über den Harlem River den blauen Long Island-Sund entlang, der ihnen den Duft und die Grüße des Meeres brachte. Sie blickten auf die Wasser, die Wasser waren vom Atlantischen Ozean, den sie beide einst heimatsuchend durchquert hatten, und sie blickten sich an und dachten dasselbe.

»Bald werden wir noch einmal über seine Wasser fahren. Denselben Weg zurück. In den deutschen Hafen. Bald ...«

Landhaus reihte sich an Landhaus im blauen Sund, Sommerfrischlerstädtchen an Sommerfrischlerstädtchen. Es lag eine Heiterkeit über der Landschaft, die die Seele wanderlustig machte, wanderlustig ins Glück hinein.

Der Zug durchbrauste den Staat Connecticut, den Muskatnußstaat, und brauste an blühenden Industriestädten und lachenden Hafenorten vorbei, Massachusetts entgegen, dem Buchtenstaat. Was sich dem Auge bot, suchte Wegherr seiner Begleiterin zu erklären, und in die trockenen Daten flocht er bunte Bilder aus der Geschichte des Landes ein. Und mitten in die Erläuterungen ein Liebeswort, das nur sie beide verstanden. Und sie saß und horchte auf seine Rede und horchte auf ihr Herz, und seine Ritterlichkeit wob einen Schleier um alles, was um sie war, durch den sie nun hindurchsah wie durch den Schleier der Poesie.

Wie da das Leben blühte und ihr so weich schien und doch so stark ...

Früh kam der Mond, und das harte Land wurde zu fließendem Silber, und Flüsse und Seen lagen unter spiegelnden Gläsern. Und der Mond stieg höher und suchte das Ziel der Reisenden und fand den Charles River, an den sich Cambridge schmiegte, die Stadt der Harvarduniversität, und auf dem gegenüberliegenden Ufer Boston, das ehrwürdige, mit der weithin leuchtenden Kuppel des Staatsgebäudes.

Gertrud van Weert erwachte. Und ihr Blick fiel auf den Mann, der sich zu ihr neigte, und wollte nicht von ihm weichen.

»Nie,« sagte sie leise, »fand ich amerikanisches Land so schön.« Und sie strich sich über die Augen und lachte in sich hinein. »Wie töricht ich spreche.«

Sie wählten ihre Zimmer im Hotel, wie sie sie immer auf ihren Reisen gewählt hatten, und reichten sich zur guten Nacht kameradschaftlich die Hände.

»Schlafe wohl!«

»Schlafe wohl!«

Und ein jeder nahm von den Lippen des anderen ein Lächeln mit sich in seine Kammer. –

Der Morgen war da. Wegherr riß die Gardine zurück und starrte ins Frühlicht, als hätte er nie einen Morgen gesehen. Wenn dieser Morgen sich in Abend verwandelte, war er frei der übernommenen Pflichten, war er der Herr seiner Tage.

Nie war ihm ein Morgen so herrlich erschienen.

Im Frühstückssaal traf er Gertrud van Weert. Sie sprang auf, als sie ihn kommen sah, wurde rot bis unter die Haarwurzeln, als sie an ihre Umgebung dachte, und setzte sich schleunigst wieder hin.

»Ich falle aus der Rolle,« sagte sie und lachte ihm heimlich zu.

»Du siehst so frisch aus wie eine Wiesenblume. Hast du gut geschlafen?«

»Ich habe keine Ahnung. Mal war ich wach, mal war ich im Traum, und wieder mal wußte ich nicht, ob ich nun wirklich wach oder wirklich im Traum war. Es ging kunterbunt durcheinander.«

»Mach's nur immer so. Es bekommt dir wundervoll.«

»Du – Ernst!«

»Ja –?"

»Ich hab' dich lieb.«

»Ich dich ganz schrecklich.«

»Dann ist es gut. Dann können wir frühstücken.«

Er nahm die Schüsseln, die der Kellner herantrug, selber in die Hand und legte ihr vor. Sie saß ganz still und hielt den Atem an vor Freude.

»Es passiert mir zum erstenmal im Leben,« sagte sie leise. »Aber es ist schön.« Und nach einer Pause: »Und Hunger hab' ich auch.«

Dann langte sie tapfer zu wie ein rechtes, gesundes Menschenkind.

In der Halle leistete sie ihm Gesellschaft, während er seine Morgenzigarre rauchte. Sie saßen tief zurückgelehnt in ihren Klubstühlen und warfen sich nur hin und wieder ein Wort wie einen Fangball zu. Sie wähnten sich mutterseelenallein unter den Blicken der Angestellten.

Wegherr warf den Rest seiner Zigarre in den Becher und zog die Uhr.

»Nun werde ich dich vor Abend nicht mehr wiedersehen. Es kann spät werden. Hoffentlich wird's dir nicht zu lang.«

»Natürlich wird's mir zu lang. Aber es schadet nicht. Ich habe so schöne Zeit zum Denken.«

»Was wirst du denn denken?«

»Das werde ich dir morgen sagen, wenn ich es gedacht habe.«

»Hast du mich lieb? Du?«

»Ich tu' überhaupt nichts anderes mehr als dich liebhaben.«

Noch einen Augenblick wärmte er sich an ihren Worten, dann griff er nach Mantel und Hut und nahm Abschied.

»Jetzt muß ich zur Universität hinaus. Nimm dir einen Wagen und sieh dir Boston an. Auf Wiedersehen, du!«

»Auf Wiedersehen, du!«

Als er durch die Straßen der alten Hauptstadt Neu-Englands schritt, die so reich waren an großen amerikanischen Erinnerungen, die im Bostoner Blutbad und der Teerevolution den Auftakt zum gewaltigen Befreiungskriege erlebt und George Washington als Befreier von englischer Besetzung begrüßt hatten, durch die der Fuß der großen Dichter und Denker gewandelt war, deren Namen ganz Amerika heilig hielt, als Wegherr die Straßen durchschritt, war er wieder der Forscher geworden, der das Blut ruhig hält und den Blick geschärft. Er betrachtete die öffentlichen Gebäude und die Zahl der Standbilder, das wiederhergerichtete alte Staatsgebäude aus englischer Kolonistenzeit mit dem britischen Löwen und Einhorn auf dem Dache, den gewaltigen Renaissancebau der öffentlichen Bibliothek, der größten Bildungsstätte, die je einem Volke geboten wurde, die Kirche, in der einst Ralph Waldo Emerson lehrte. Und bei jedem Schritt, den er weiter tat, fühlte er: hier war nicht Amerika, hier war Neu-England. Das lag in der Luft und auf den Hausdächern, das haftete dem Straßenleben an und den einzelnen Bewohnern, das war nicht zu greifen, und doch war es da: ein vornehmerer Geist, der sich seiner Vornehmheit bewußt war, ein Hauch von überlegenem Weltmanntum, das seine Säfte zog aus alter und reiner Abstammung und der Gelehrsamkeit, die wie ein edler Strom von der Jahrhunderte alten Harvarduniversität sich in die Lande ergoß.

Sie hatten ein begründetes Recht, sich als eine Klasse für sich zu fühlen, die Bürger Bostons, und sie nutzten es. Das spürte Wegherr an der Haltung der Leute, die ihm begegneten.

Über die Brücke schritt er, die den breiten Charles-River überspannte, und war in der Zwillingsstadt Cambridge, auf dem Wege zur Harvarduniversität. Ein Staat in der Stadt, ein Staat im Staate, so lag die Masse der Universitätsgebäude durch die Mauer des Geistes vom Leben des Alltags geschieden, durch tausend Kanäle desselben Geistes innig mit ihm verbunden.

Wegherr wandte sich dem Germanischen Museum zu. Ein Schriftwechsel hatte ihn mit dem vielgerühmten Leiter bekannt gemacht, und er fand einen Mann vor von tiefem Wissen und deutscher Herzlichkeit. Gemeinsam besichtigten sie die Bildwerke und Silberschätze des deutschen Mittelalters und der Renaissance, die in trefflichen Nachbildungen die Halle schmückten, und in stundenlanger Wanderung gingen sie von Gebäude zu Gebäude, und Wegherr lernte die Professoren kennen, die Harvards Namen leuchtend erhielten, amerikanische und englische, französische und deutsche, und es war ihm eine Genugtuung, daß die deutschen nicht an der Spitze fehlten.

Er nahm an einem Mahle teil, das ein hervorragender deutscher Gelehrter ihm gastfreundlich bot, und es war ihm zumute, als säße er bei einem Fakultätsessen in der alten Heimat unter Freunden und Bekennern derselben Geistesrepublik.

Dann kam der Nachmittag, und es wurde Zeit, an Boston zu denken und an seine Abschiedsrede. Die Professoren beschlossen, mit ihm hinüberzufahren und nach der Versammlung noch ein Stündchen mit ihm zusammen zu bleiben zu guter Aussprache bei frohem Nachtmahl. Die Wagen fuhren vor, und eine Stunde später stand Wegherr auf der Rednerbühne im menschengefüllten Saale.

Seine Gedanken schweiften zu Gertrud van Weert. Einen Herzschlag lang. Und die Gedanken waren Wirklichkeit.

Dort saß sie, im Hintergrunde, wie sie in Philadelphia gesessen hatte, als er zum erstenmal zu den Deutschen Amerikas sprach. Und heute war sie wiedergekommen, ohne es ihm zu sagen, unauffällig und doch selbstverständlich, und er meinte, der Hintergrund des Saales wäre ganz hell beschienen von ihrem hellen Wesen.

So freudig war seine Stimme noch nie erklungen, so stolz hatte er die Sätze noch nie gefügt wie an diesem Tage, an dem er den Zuhörern die politische Macht und die wirtschaftliche Größe Deutschlands vor Augen erstehen ließ seit seiner Wiedergeburt im Glanz der Kaiserkrone. An der Seite seines ehrwürdigen Herrn schritt die Reckengestalt Bismarcks durch den Saal und schlug die eisernen Nägel in das Reichsgefüge. Der Frühlingskaiser Friedrich hob segnend die Hände gegen den Sohn, der mit seinem Namen das Zeitalter benennen sollte, das in der Geschichte ohnegleichen stand an Geltendmachung und Steigerung aller Kräfte und dem riesenhaft wachsenden Aufschwung des gesamten Wirtschaftslebens. »Nicht, weil die Deutschen zahlreich waren wie die Halme im Feld, wuchs ihre Bedeutung in der Wertung der Völkerschaften, sondern weil sie Halm für Halm zusammenfügten und zusammenwachsen ließen zu einem Lanzenschaft und zu einem unzersplitterbaren Mastbaum, wurden sie sichtbar, wehrhaft und weltbedeutend für Freund und Feind, und wie eine Mutter vorangeht, ihre Kinder zu lehren durch vorbildliches Tun, so zeigt Deutschland den Kindern seiner Abstammung, wie sie zu Macht und Ehren gelangen können durch das Zusammenfassen ihrer Stammeskräfte im heiligen Glauben an die Säfte, die ihnen einst die Mutter gab als Blut von ihrem Blut. Dieser Staat hier ist vorbildlich. Neu-England ist fest und wortkarg seinen Weg gegangen, der ihn immer zum Ziele führte. In der großen Germanenfamilie darf es in drängenden Zeiten keine Stiefkinder mehr geben, darf es nur noch Brüder geben. So geht denn hin und erweist eure eheliche Geburt durch deutsche Taten, wo immer ihr steht.«

Die deutschen Professoren hatten sich um ihn geschart. Sie fühlten sich als Vorkämpfer und Pioniere deutscher Geisteskultur, und sein lodernder Vaterlandsglaube hatte sie tief bewegt. Sie drückten ihm die Hände und ließen ihn nicht mehr aus ihrer Mitte, bis sie im engen Kreise an der Tafel saßen und mit ihm anstießen auf das Blühen der alten, fernen Heimat.

»Es ist,« sagte der hervorragende Gelehrte, in dessen Hause das Mittagsmahl stattgefunden hatte, »als ob seit Bismarck die ganze deutsche Erde unter den Rigolpflug gebracht worden wäre. Mager und mißmutig lag das Land, und plötzlich kam unter den tief einschneidenden Eisen die saftige Mutterkrume zum Vorschein und wurde nach oben geworfen und stellte über Nacht eine neue unverwüstliche, unerschöpfliche deutsche Erde dar.«

Und ein anderer fügte hinzu:

»Aus der neuen Erde ist nicht nur die wogende Ernte, ist ein neues Volk gewachsen, das mit dem Herzen am Boden hängt und wie ein Herr über die Äcker geht.«

»Es hat durch die Ungunst der Zeiten und die Eifersucht der Menschen lange auf sich warten lassen, dies Herrenbewußtsein,« sagte Wegherr. »Aber als es einmal auferstanden war und verwundert an seinem starken Leib herabgesehen hatte, da wuchs es auch rasch in den Geist hinein und wurde sich seiner Rechte und Pflichten bewußt. Es ist der Cincinnatus am Pflug, der da weiß, daß Pflugeisen und Schwerteisen beides – Eisen ist. Und Sie werden verstehen, daß wir diesen heute so berechtigten Stolz auch auf die deutschen Zweige in anderen Ländern übertragen möchten. Denn das Ansehen des Ganzen leidet unter dem Zurückbleiben eines Teiles.«

»Wir dürfen eines nicht übersehen,« rief ein Dritter. »Wenn früher der Amerikaner gar zu leicht geneigt schien, auf alles, was nicht amerikanischen Ursprungs war, herablassend und verächtlich niederzublicken, wie es bei allen jungen und nicht reifen Menschen der Fall ist, und sein Selbstbewußtsein erheblich in den Vordergrund zu schieben, so hat der immer stärker zunehmende Bildungshunger doch auch hier schon ein neues Geschlecht geschaffen, das die alten Fehler zu vermeiden trachtet und über die äußeren Güter hinweg an die inneren denkt. Im Grunde ist er ja doch, wie jeder junge Mensch, selbst in der Verfolgung seiner geschäftlichen Unternehmungen ein großer Idealist, und das ist wieder das Bestechende an ihm.«

Wegherr nickte lebhaft.

»Ja,« bestätigte er, »ein solcher Bildungshunger ist beispiellos, und er wird das Geistesleben Amerikas sicherlich auf eine besondere Warte heben. Aber gerade deshalb ist es um so notwendiger, daß die Deutschen ihren Platz behaupten und daß ihr Stolz geweckt wird, lieber Hammer als Amboß zu sein. Wer imstande sein wird, die kulturelle Erziehung zu beeinflussen, wird in der Geschichte niemals spurlos untergehen. Trotz des deutschen Zuschnittes der amerikanischen Schulen und Universitäten wird dieser Zuschnitt eine rein äußere Form bleiben, wenn nicht die Macht dahinter steht, auch den Inhalt zu beeinflussen. Auch Erziehungsfragen sind Machtfragen, das sehen Sie bei den Parteien aller Parlamente.«

»Der Deutsche, der herüberkommt, ist politisch entweder träge oder unreif.«

»Ihm geht es ums Geldverdienen. Das andere ist ihm Hekuba.«

»Es fehlt ihm an der Sprachgewandtheit.«

»Das ist es,« sagte Wegherr, »da liegt die Wunde offen. Der Strom der Auswanderer dachte von alters her, drüben finden wir Millionen Landsleute. Da werden wir uns schon verständigen, und das übrige wird im Lande gelernt. Daß aber die Geschäfts- und Verkehrssprache die englische ist und sie wie Waisenkinder auf der Straße stehen, wenn ihnen die Verkehrssprache fehlt, und sie in die niedrigsten Stellungen abgeschoben werden, das kommt kaum einem in den Sinn. Wie mancher hochbegabte Mensch ist dadurch in Amerika auf das Pflaster gekommen. Ich habe Künstler, Juristen, Offiziere, die so ganz nichtsahnend hier ein neues Leben beginnen wollten, unter dem Mob wiedergefunden, weil der Mob ihre erste Zufluchtsstätte war, aus der es dann nicht mehr hoch ging. Die trübe Flut schwemmte sie unterschiedslos hinweg, die Masse der Intelligenz und die Masse des Unflats. Und hierin kann nur das alte Vaterland helfend eingreifen.«

Die Herren horchten angeregt auf. Das Temperament Wegherrs riß sie mit.

»Man sollte,« sagte Wegherr, »in Deutschland weniger Wert darauf legen, daß uns amerikanische Gelehrte Vorlesungen über die ungeheuren Fortschritte Amerikas halten, als daß die auswanderlustigen Söhne Deutschlands darüber aufgeklärt werden, wie sie in dieser fortschrittlichen Bewegung ihren Platz finden und wie nicht. Gerade die Kehrseite der Münze müßte die Hauptsache werden, der Niederbruch der vielen Tausende und ihr jämmerliches Verkommen, weil sie ohne das nötige Rüstzeug kamen. Die Menge hört nur immer: Der ist in Amerika reich geworden, und der hat es zu etwas gebracht, und der ist als Krösus gestorben, und seine Erben werden gesucht. Daraus folgert die Menge gleich: In Amerika wird jeder Mensch steinreich. Man braucht die Auswanderlustigen nicht abzuschrecken, denn jeder ist zuletzt ein Pionier des Deutschtums in der Welt, und ihre Zahl regelt sich zuletzt doch nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Aber aufklären soll man sie durch Auskunftsstellen in Stadt und Land, durch Behörden, Presse und Vereine: ›Deutscher, du bist der Knecht eines Knechtes im fremden Lande, wenn du nicht der Herr seiner Sprache bist.‹ Und der deutsche Name ist zu gut, als daß er in den fremden Gassen herumliegt.«

»Es ist wahr,« sagte eine Stimme.

»Und ich meine,« schloß Wegherr, »es wäre nun endlich an der Zeit und es wäre die allerhöchste Zeit, daß die Deutschen Amerikas mit allen Kräften dahin streben, den Einfluß zu gewinnen, der ihrer überwiegenden Menschenmasse und ihrem überwiegenden Bildungsgrade entspricht, zu ihrem eigenen Zukunftsheil und zur Sicherung der neueinwandernden Stammesbrüder. Eine Verschmelzung der Bevölkerung wird kommen und muß kommen. Aber den Deutschen Amerikas wird die ungeheure Aufgabe zufallen, dafür zu sorgen, daß einst der späte Geschichtsschreiber spricht: ›Die Kultur dieses mächtigen Landes ist germanischen Ursprunges, und daher blieb sie dauernder als Stein und Erz.›«

Und die Männer im Kreise mit den scharfgemeißelten Köpfen hoben ihre Gläser und tranken auf die Geburtsstunde, die sie erwarteten.

Am späten Abend kehrte Wegherr in sein Hotel zurück. Als er im Büro den Schlüssel zu seinem Zimmer forderte, sagte der Angestellte geschäftsmäßig:

»Wir haben Ihnen und der Dame leider andere Zimmer anweisen müssen, weil diese Zimmer auf längere Zeit für eine Familie nötig wurden.«

Wegherr achtete nicht weiter darauf und erkundigte sich nach der Lage.

»Das Ihre ist auf demselben Stockwerk gelegen, das der Dame zwei Stockwerke höher.«

Er stutzte ein wenig.

»Weshalb sind die Räumlichkeiten für uns nicht wieder angeordnet worden wie vorher?«

»Es ließ sich leider nicht bewerkstelligen, mein Herr. Die zusammenhängenden Räumlichkeiten werden, wie gesagt, für Familien aufbewahrt.«

Wegherr überhörte den Nachsatz. Einen Augenblick wollte sein Blut rebellieren. Dann wurde es eiseskalt.

»Es ist nicht von Bedeutung,« sagte er, »da ich die Räume nur bis zum Abend wünschte. Beauftragen Sie den Hausdiener, das sämtliche Gepäck herunterzuschaffen und einen Wagen zum Nachtzug nach Neuyork zu besorgen. Bitte, schließen Sie die Rechnung ab.«

Und er ging zum Fahrstuhl und ließ sich zu Gertrud van Weerts Zimmer bringen.

»Wir fahren in einer halben Stunde,« rief er ihr zu, als sie auf sein Klopfen Antwort gab. »Es ist eine Programmänderung.«

Nach kurzem war sie draußen, in Mantel und Hut, reichte ihm die Hand und fuhr mit ihm im Fahrstuhl zur Halle hinunter. Ruhig saßen sie sich in den Klubsesseln gegenüber, und er erzählte ihr von dem Verlaufe des Abends, bis ihm die Rechnung überreicht und der Wagen gemeldet wurde.

»Nun?« fragte er ärgerlich lachend im Wagen. »Du sagst ja gar nichts?«

»Soll man diesen Menschen noch die Ehre antun, über ihre Albernheiten zu sprechen, Ernst? Es urteilt eben ein jeder aus seinen mehr oder weniger sauberen Gedanken heraus. Hier waren es nun mal die weniger sauberen.«

»Verdammte Muckerbande,« wetterte er. »Dir das anzutun.«

»Nein,« lachte sie, »da irrst du. Mir haben sie nichts antun können. Ich habe sie nur bedauert, daß sie Ernst Wegherr nicht kannten.«

»Du – gib mir mal deinen Mund. Ach du. Darauf hätte ich mich nun den ganzen Abend vergeblich gefreut, und die Leute haben mir eigentlich eine Wohltat erwiesen.«

»Uns, Ernst, uns!« Und sie ließ ihre Hände über sein Gesicht streicheln.

Ihm war, als streichelten ihn Mutterhände zur Ruhe. Dann fuhr er noch einmal auf:

»Wie mag die Bande nur darauf gekommen sein? Wir haben uns doch betragen wie normale und gesittete Menschen. Seit einem halben Jahre reisen wir zusammen, und so ein scheinheiliger Unfug ist mir doch noch nirgendwo begegnet. Diese Moralheuchelei ist die widerwärtigste Erscheinung hier.«

Sie saß in der Wagenecke, sah ihn immerfort an und lachte.

»Ist das die einzige Antwort, du Lachtaube?«

»Ernst! Ernst! Es ist wahrhaftig die einzige. Natürlich sind wir ein halbes Jahr zusammen gereist, und natürlich hat man uns respektiert. Aber hast du denn vergessen, daß ich damals nichts, aber auch nichts anderes als deine Privatsekretärin war? Und du für mich der freundliche Arbeitgeber? Solche Leute pflegen sich nicht in den Hotels mit weltvergessenen Blicken zu betrachten oder sich zwischen zwei Redensarten ein zärtliches Wort zuzustecken. Nein, das haben wir ganz gewiß nicht getan.«

»Du,« fragte er verdutzt, »haben wir das wirklich getan?«

»Ach du lieber, guter Mensch, wir haben es beide getan. Ich erst heute morgen, als du an den Frühstückstisch kamst und ich vor Freude aufsprang. Und wir werden es morgen wieder tun und übermorgen wieder, ohne daß wir es wissen, nur weil wir es müssen.«

»Ja,« sagte er und nahm ihre Hände, »weil wir es müssen.«

Und sie sahen sich in atemlosem Schweigen in die Augen.

»Du – Gertrud –?"

»Sag es, Ernst ...«

»Ich mag es aber nicht mehr dulden, daß ein Mensch sich das Recht nimmt, sich seine irrsinnigen Gedanken über dich zu machen. Ich dulde es überhaupt nicht mehr, daß ein Mensch das Fräulein van Weert auch nur noch mit einem Gedanken berührt. Und um dem abzuhelfen, und zwar ein für allemal, werde ich das Fräulein van Weert so schnell wie möglich verschwinden lassen. Verstehst du? Verschwinden lassen. Und es als Frau Gertrud Wegherr wieder zum Vorschein kommen lassen. Die braucht dann nur nach ihrem Mann zu rufen.«

Sie hielt die Augen geschlossen. Aber ihre Hände hielten die seinen wie unlöslich umkrampft.

»Ich hatte gedacht,« sagte er leise, »wir würden bis Deutschland warten. Aber nun scheint es mir so viel schöner. Wir wollen uns ein ganz helles Erinnern an die nicht immer hellen Jahre in Amerika schaffen, damit keine dunkle Lücke in unserem Leben ist. Und wenn wir einmal ganz alt geworden sind und am Kamin beisammensitzen, und die Kinder fragen uns nach unseren amerikanischen Errungenschaften, dann wollen wir einer auf den anderen deuten und sagen: ›Das habe ich mir von Amerika mitgebracht.›«

Sie löste hastig ihre Hände, legte sie ihm fest um den Nacken und küßte ihn auf den Mund.

Der Wagen hielt vor dem Bostoner Bahnhof. Ein paar Neger luden die Gepäckstücke ab und liefen damit in die Halle. Ernst Wegherr trat an den Schalter und wählte zwei Plätze in dem Schlafwagen nach Neuyork. Dann fuhr der Zug ein.

Herren und Damen fluteten in den großen, gemeinsamen Schlafwagen, machten es sich bequem und suchten bald die Ruhe. Ernst Wegherr lachte.

»Hier dürfen wir sogar nebeneinander oder übereinander im selben Raume liegen. Es ist doch eine Heuchelei.«

»Gute Nacht,« sagte sie, schlüpfte in ihre Koje und zog die Gardine vor.

In der Morgenfrühe trafen sie in Neuyork ein. Und wieder ging sie an seiner Seite, schlank und spannkräftig im gleichen Schritt, und sie besprachen die Stunde, in der sie sich treffen wollten.

»Ich brauche nur ein Bad und die Zeit, mich von Kopf zu Fuß umzukleiden,« erklärte sie.

»Also dieselbe Zeit, die ich gebrauche. Sagen wir in zwei Stunden, damit du nicht zu hasten brauchst. Ich treffe dich vor deinem Hause.«

Sie stand schon bereit, als er kam, gestrafft und blühend, und trug den schmalen Kopf frei und fröhlich auf dem schlanken Halse.

Es ist eine Veränderung mit ihr vorgegangen in den letzten Tagen, dachte er, als er sie begrüßte. Nie trug sie so frei und sicher den schönen Kopf. Übt denn die Liebe bei Frauen auch auf den Körper Einfluß aus? Sie soll ihr Köpfchen nie anders tragen.

Wohl eine Stunde gingen sie, bis sie den Zentralpark erreichten, die wundersame Waldeinsamkeit Neuyorks, mitten im brandenden Leben der Riesenstadt wie ein Atemzug Gottes gelegen. Noch stand er braun und kahl, aber mit heimlich schwellenden Knospen, die nur auf das feurige Werben der Sonne warteten. Kaum ein Mensch erging sich in den meilenweiten Baumwegen, nur Scharen mausgrauer Eichhörnchen trieben ihre munteren Spiele im Gezweig und auf den Ruhebänken und sprangen den Wanderern zutraulich auf die Schultern.

Wegherr und Gertrud van Weert gingen die stillen Wege. Sie gingen wie ernsthafte Menschen, die ihr Wesen nach der Bedeutung der Stunde zu richten vermögen, und sie besprachen die nächsten Schritte.

»Jan hatte schon in der ersten Zeit alle Papiere vom Rathaus daheim kommen lassen, die zur Beglaubigung meiner Person vonnöten sind,« sagte sie. »Ich habe sie gut aufbewahrt, und nun gehören sie dir. Ich bin bereit, wenn du mich rufst, Ernst.«

»So haben wir nur noch den Weg zum Bürgermeisteramt vor uns.«

Er dachte nach und schüttelte den Kopf.

»Nein,« meinte er, »so stimmungslos darf es schon um deinetwillen nicht sein. Ein deutsches Mädchen braucht ihren bräutlichen Tag für ihr Rückerinnern. Ich werde einen deutschen Pastor aufsuchen und ihn bitten, uns nach der standesamtlichen Vermählung in der Kirche nach deutscher Art zu trauen. Georg Wuppermann und Frank Willart sollen unsere Zeugen sein, wenn sie es wollen. Frau Mary wird noch nicht reisen können. So werden nur Männer um dich sein, und du wirst keine Frau zur Seite haben.«

»Ich werde mir an diesem Tage Frau genug sein,« entgegnete sie hastig und ging, den Blick in die Ferne gerichtet, mit festen Schritten an seiner Seite weiter.

Zwischen den Standbildern der großen englischen und amerikanischen Staatsmänner und Dichter lugten die Bronzebüsten Schillers, Beethovens und Alexander von Humboldts aus dem Gebüsch und sahen sie mit Heimataugen an. Deutsche Sehnsucht und deutscher Stolz hatten ihnen ihren Platz geschaffen. Und sie standen und warteten in olympischer Ruhe auf die Einlösung der Gelöbnisse.

Noch einen Blick warfen die Abschiednehmenden vom Belvedere aus über die Schönheit des weiten Parkes, den die Natur sich als letzten Zufluchtsort gerettet hatte, und über die Wasserkünste, die sich malerisch einfügten. Der rosengranitenen Nadel der Kleopatra aber, dem ragenden Obelisken, der schon anderthalbtausend Jahre vor der Geburt Christi auf das ägyptische Land niedergeschaut hatte und nun als Schaustück der amerikanischen Menge sein uralt weltgeschichtliches Leben fortsetzte, schenkten sie im Vorüberschreiten ein wehmütig Lächeln.

»Ein altes Baudenkmal eines Landes,« sagte Wegherr, »ist der Träger seiner Geschichte. Nehmt den großen Zeugen einer Vergangenheit hinweg, und die Vergangenheit verliert ihre Sprache und das Land seine bezwingende Ehrwürde. Aus den Trümmern von Heliopolis hob sich die Nadel der Kleopatra als steingewordene Erinnerung. Aus diesem Boden aber saugt sie keine Erinnerungen und ist zum Kinderspiel geworden. Nein, so äußerlich verpflanzt man keine Kultur.«

Er lachte und holte ein anderes Bild hervor.

»Es steht noch die Sykomore bei Heliopolis, in deren Schatten der Sage nach Joseph auf der Flucht nach Ägypten mit Maria und dem Jesuskinde gerastet haben soll. Vielleicht holt man auch noch die Sykomore nach Amerika. Ich fürchte nur, die heilige Familie wird vom Himmel aus darüber lächeln.«

»Ist es schön im Ägypterland?«

»Es ist überall schön, wo sich Arbeit und Freude findet.«

»Ernst, dann soll es uns an der Schönheit im Leben nicht fehlen.«

Gleich am Abend noch schrieb er an Georg Wuppermann und Frank Willart und bat sie, als Zeugen seiner Vermählung nach Neuyork zu kommen.

»Ihr verspracht mir, mich vor meinem Abschied noch einmal zu sehen und mir das Geleit an das Schiff zu geben, das mich heimtragen soll mit allem, was ich in Amerika fand. Ihr verwieset mich oft auf die Zukunft, und daß ich nach einem Menschenalter reichere Beute davontragen würde. Ich aber nehme das reichste mit, was Amerika besitzt und je zu bieten haben wird: ein kristallklares Frauenherz – mein Weib. Wenn ich sie Euch nenne, werdet Ihr gläubig werden. Sie ist Euch keine Unbekannte, es ist Gertrud van Weert. Deinem Hause, lieber Georg, diesem deutschamerikanischen Hause, dem die Zukunft gehören wird, dank Deiner Kraft, Frau Marys Frauensorge und Frank Willarts hellen Augen, danke ich dieses reichste Gastgeschenk des Landes. Und Frau Mary küsse ich die Hände noch besonders für alles, was sie mir Liebes über Gertrud van Weert sagte und was ich schon wußte.

Am zweiten März geht unser Schiff. Am Tage vorher wollen wir die Handlung vornehmen, die die Menschen die Eheschließung nennen. Als ob man nicht eine Ehe schlösse am Tage, an dem man sich zum erstenmal in rückhaltloser Liebe in die Augen blickte. So kommt denn herüber und nehmt auch noch an diesem Tage teil, Ihr, die Ihr teilnahmt an jedem Tage meiner amerikanischen Zeit, Du, lieber Georg, und Frank Willart. Bessere Begleiter weiß ich nicht in diesem Lande. Frau Mary aber bitte ich, uns einen der Gedanken herüberzusenden, wie ihn nur echte und rechte Frauen denken, deren Vaterland die Liebe ist.

Habt Dank. Lebt wohl. Auf Wiedersehen.«

Dann war der erste März gekommen mit Brausen und blitzendem Sonnenschein. Und Ernst Wegherr stand in dem Hause am Broadway, in dem Zimmer, das Gertrud van Weert bewohnte, und stand mit zusammengefügten Händen vor ihr und staunte.

»Mädchen, Mädchen, bin ich denn blind gewesen in all den Tagen?«

»O Gott, wenn du das blind nennst!«

»Was ist denn mit dir geschehen? Das Kleid kenne ich doch. Du trugst es, als wir den ›Parsifal‹ hörten. Und das Mädel, das darin steckt, ist doch auch dasselbe und ist doch eine ganz andere.«

Er nahm behutsam ihre Hände, und sie spürte, wie das Blut von ihrem Herzen kam bis in ihre Wangen.

»Du – jetzt weiß ich es. Es sind deine Augen.«

»Es sind dieselben Augen, Ernst.«

»Nein,« sagte er, »gestern waren es die Augen des Fräuleins van Weert. Heute sind es die Augen der Frau Gertrud Wegherr. Es sind Frauenaugen geworden, die über Nacht von den Mädchenaugen Abschied nahmen. Es sind die Augen meiner Frau« ...

»Wenn du hineinblickst, bei Tag oder Nacht, wirst du dich nur darin finden, Ernst.«

»Wir wollen uns küssen, Gertrud.« Und sie küßten sich mit verschlungenen Händen.

Ein Mädchen klopfte an und meldete zwei Herren. Georg Wuppermann und Frank Willart betraten das Zimmer. Sie gingen auf Gertrud van Weert zu und schüttelten ihr die Hände.

»Ich hatte eine prachtvolle Rede auswendig gelernt,« sagte Wuppermann, »Frank Willart kann es bezeugen. Er hat auf der Fahrt nach Neuyork zusehen müssen, wie ich sie im Schweiße meines Angesichts studierte. Und vor diesen glänzenden Augen ist sie weg, so glatt weg, als ob ein Rasiermesser über Kopf und Kragen gefahren wäre. Liebe Gertrud van Weert, ich nehme an, Sie brauchen keine Worte. Sie brauchen nur noch den Ozean. Dann werden Sie sich und ihm schon weiterhelfen.«

Und Frank Willart fügte hinzu:

»Es ist gut, daß Sie ihn beschenken und mit ihm gehen, Fräulein van Weert. Nun weist er doch, daß auch in Amerika Herzen zu finden sind, wenn man nur sucht, ohne vor der Zeit mutlos zu werden. Jetzt kann er gar nicht anders, als mit warmen Gefühlen an dieses junge Land zurückdenken, das auch noch im Zustand des Suchens ist und nach der rechten Ehemischung Ausschau hält. Solche Menschen mit warmen Gefühlen für unsere Werbezeit brauchen wir aber im alten Europa. Bleiben Sie unsere Freunde.«

In großer Verlegenheit hatte Wuppermann, während Willart sprach, eine Schatulle aus der Rocktasche geholt. Jetzt öffnete er sie und entnahm ihr eine lange Kette, die er Gertrud van Weert um den Nacken hing.

»Es ist eine kleine Erinnerungsgabe von Frank Willart, Mary und mir,« schmunzelte er. »Sie enthält sämtliche Edelsteine, die in diesem Lande gefunden werden. Bis auf einen. Und wenn Sie sie um den Hals tragen, ist dieser Hauptedelstein mitten unter ihnen. Sehen Sie doch mal zu, Frank Willart, ob das nicht stimmt wie der Segen vom Pastor.«

Gertrud van Weert hatte nasse Augen. Sie drückte den Freunden die Hand und konnte kein Wort hervorbringen. Sie sah Bilder vor sich aus nebelhaften Tagen: die Eltern, Jan, die Präsidentin – –

Wegherr berührte ihren Arm.

»Der Wagen ist unten. Wir fahren zum Bürgermeisteramt und von dort in die Kirche.«

Da schritt sie aufrecht neben ihm die Treppe hinab, und die Freunde folgten.

Die amtlichen Förmlichkeiten waren schnell und ohne Feierlichkeit erledigt. Wenige Minuten später schon führte sie der Wagen zu der kleinen Kirche, die sie sich ausgewählt hatten.

Kein Mensch war außer ihnen zugegen. Ihre Schritte hallten über die Fliesen und verhallten vor dem Tische des Herrn. Im Ornat stand der silberhaarige Geistliche, der noch die Narben trug aus alter, deutscher Studentenzeit. Und er sprach zu ihnen mit den Worten des Psalmisten:

»Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten.«

Wegherr horchte auf. Das war wie ein Erinnerungsklang. Und nun wußte er es.

Das waren die Worte des Psalmes, den Frau Mary im Wuppermannschen Hause zum Harmonium gesungen hatte am friedendurchtränkten Abend nach der Nacht, in der er dem Freund erzählt hatte von der Flucht vor seinem zerschlagenen Leben und dem Willen, es neu zu bauen.

»Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten.«

Die Worte des Psalmisten hatten sich bewahrheitet wie seit tausenden von Jahren.

Und Gertrud van Weert sprach in ihrem Herzen: Ich war am äußersten Meer, ich war am grauen Meer, wo es für den Menschen am äußersten ist. Da hielt mich deine Rechte und führte mich heimwärts. Ich will so dankbar sein, daß nur meine Liebe die Dankbarkeit überflügelt.

Der Geistliche hatte die Frage gestellt, ob sie sich lieben und achten wollten als Mann und Weib und einer dem andern anhängen in Freud und Leid. Ihr Ja war erklungen.

Der Geistliche legte ihre Hände ineinander und sprach sie zusammen für das Leben. Er sprach ein Gebet und hob die Hände zum Segen.

Und Ernst Wegherr schlang den Arm um seine Gefährtin und küßte sie.

»Guten Tag, Frau Gertrud Wegherr,« murmelte er.

Und das schlichte Wort klang ihr so feierlich, daß sie jäh aufschluchzte und den Kopf an seine Schulter preßte.

Sie nahmen nur ein kleines Mahl in einem besonderen Raum des Astor-Hotels. »Ich trinke auf eine gesegnete Lebensfahrt,« sagte Georg Wuppermann und hob sein Glas. Und Frank Willart hob das seine und fügte hinzu: »Ich trinke auf eine gesegnete Lebensarbeit.«

Am Nachmittag nahmen die Freunde Abschied.

»Morgen früh um zehn Uhr fährt euer Dampfer hinaus,« meinte Wuppermann. »Ich kann mir wohl denken, daß ihr lieber einen stillen Blick auf das Land tun wollt, das ihr verlaßt, als auf zwei armeschwenkende Menschen, die sich krampfhaft bemühen, eure Aufmerksamkeit auf sich Zu lenken. Fahrt wohl! Auf Wiedersehen in Deutschland!«

»Donnerwetter,« unterbrach er sich, »da hätte ich ja beinahe den Brief meiner Frau, den Brief von Frau Mary Wuppermann an Frau Gertrud Wegherr vergessen. Gott sei Dank, hier ist er. Die ganze Hochzeit hätte noch einmal stattfinden müssen.«

Man nahm sich noch einmal in den Arm, fest und wortlos. Dann waren Wegherr und die junge Frau allein.

Und Gertrud Wegherr las: »An meine Schwester! Laß – wie die Freuden – die Sorgen Deines Mannes Deine Freunde sein. Denn sie geben Dir die Gelegenheit, die reichste Liebe zu betätigen, die Frauenliebe, die auch ohne streichelnde Manneshand im Glück bleibt.«

Sie faltete das Blatt sacht zusammen und schob es an ihre Brust. Nun war doch an ihrem bräutlichen Tag eine Frau an ihrer Seite gewesen.

»Komm,« sagte er, »dies ist unser Tag.«

Und sie fuhren hinaus zu einem Pier des Hudson und mieteten eine Motorbarkasse und fuhren stundenlang den gewaltigen Strom hinauf, zur Rechten die himmelansteigende Weltstadt, zur Linken die Steinpyramide des jäh abstürzenden Basaltrückens, in den Staat Neu-Jersey hinein, durch das seenartige Becken, weiter und weiter, bis im Abendschein das Tor der Highlands sich öffnete, der hohen Berglandschaft, die das stille Silber des breiten Stromes wie eine Edelfassung umsäumte.

»Der amerikanische Rhein,« sagte Wegherr und deutete in das verträumte Flußtal hinaus. »Man nennt wohl den Hudson so.«

»Es ist schön, wunderbar schön, aber der Rhein ist es nicht. O nein, dazu langt es nicht. Die alten Burgen fehlen und die alten Stadtnester und –«

»Und die Poesie der Vergangenheit, von der die Lieder melden. Moos muß wachsen und Edelrost, wenn unsere Seele auf die Suche gehen will nach Bildern, die sie selber schmückt. So ist es am Rhein. Wir rufen, und es kommt ein Widerhall aus längstvergangenen Tagen, und Ruf und Widerhall sind wie eins. Hier wissen wir nur, daß dort an den Ufern die Mohikaner saßen und drüben die Delawaren und Irokesen. Aber die hastige Amerikanisierung mit ihren Städtegründungen und technischen Anlagen hat jede Erinnerungsmöglichkeit getilgt, und die Poesie ist sterben gegangen.«

»Ich freue mich auf den Rhein,« sagte Gertrud Wegherr still und faltete die Hände. »Wie ein Kind freue ich mich.«

Es dunkelte stark, als sie an Land gingen und mit der Bahn nach Neuyork zurückkehrten.

»Um acht Uhr fahren wir zum Dampfer, Gertrud. Morgen, Gertrud, morgen ...«

Sie standen vor dem Hause am Broadway, in dem sie auch diese Nacht wohnte, und sie hielt noch für einen Augenblick seine Hände.

»Morgen,« sagte sie, und ein Lächeln zitterte über ihr Gesicht, »morgen fahre ich ins Glück.«

»Gute Nacht.«

»Gute Nacht ...«


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