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11

Morgendämmerung wob in den Lüften. Eine feine graue Spinnwebe, die unmerklich zitterte, farbloser wurde, ganz erblaßte und vom jungen Tage spurlos aufgesogen wurde. Über den Himmel lief ein Gewoge von Tönen, ein Tanz von Farben. Und aus dem jähen Gewirr heraus trat still und einsam die leuchtende Sonne.

Wegherr stand auf dem Hügel, der die alten Indianergrabstätten überwölbte, und ließ das Schauspiel des Himmels auf sich wirken, als hätte er es nie gesehen. Beim ersten Tagesgrauen war er hinausgewandert aus der noch schlafenden Stadt, um ein Bad zu nehmen, das ihn auffrischte, ein Bad in Luft und Sonne. Nun spielte der Morgenwind in seinem Haar, und die Augen tranken sich satt an dem großen Sonnenglanz.

Nicht denken, nur wandern und schauen. Dabei klärte sich Kopf und Herz ohne Gedankenarbeit.

Und er wanderte den Mississippi entlang, weit und breit der einzige Mensch, und nur die Natur war bei ihm und hielt wie ein lächelnder Arzt seinen Puls.

Dort, oberhalb St. Pauls, lag die Zwillingsstadt Minneapolis, die Mühlenstadt des fruchtbaren Minnesota. Noch schlief auch sie, und die gewaltigen Mahlwerke harrten noch mit hungrigen Mäulern der endlosen Kornzufuhr, die Sägewerke mit bleckenden Zähnen der Waldriesen. Nur das Raunen und Rauschen der Wasser sprach von nie ersterbendem Leben.

Wieder waren es die Wasser, die Wegherr mit ihren geheimnisvollen Kräften an sich zogen. Und mit dem kräftiger erwachenden Tag schritt auch er kräftiger aus, und als vor ihm und hinter ihm in den Städten die Menschen sich zu regen begannen, bog er in ein verstecktes, liebliches Tälchen ab und befand sich vor den Minnehahafällen, den ›lachenden Wassern›.

Longfellows Gedicht zog ihm durch die Seele. Ein Spielzeug nur waren diese Fälle wie tausend andere, aber eines Dichters Mund hatte sie gesegnet vor den tausend anderen und ihrem Namen Unsterblichkeit geschenkt.

Versonnen wanderte er weiter, und schweigsame Inseln grüßten aus dem Mississippistrom und schmückten die Landschaft aus zu einem Bild voll stiller Reize, und in seine Augen trat das Leuchten des Empfindens und Genießens.

Als er nach stundenlanger Wanderung Minneapolis erreicht hatte, umbrandete ihn der Lärm der Arbeit mit voller Kraft und fand doch keinen Zuweg zu der stillen Heiterkeit der Seele, die ihm die Natur auf seinem Morgengange beschert hatte.

Bis zur Mittagsstunde sprach er in der Universität mit der alten Ruhe und Festigkeit, die auch seinen begeisterunggetränkten Sätzen das Mark verlieh, und wanderte am Nachmittag denselben weiten Weg zurück, aber schnelleren Schrittes, wie ein Gesundeter tut, der seine Kraft spüren will.

In einem deutschen Hause St. Pauls sollte er den Abend verbringen, und als er sich im Hotel erfrischt und umgekleidet hatte, begab er sich zu dem deutschen Gastfreunde, ohne auch nur ein einziges Mal Winifreds gedacht zu haben, und erfreute sich an der Wärme, mit der er von dem aufrechten Hausherrn und der mädchenhaft schönen Hausfrau empfangen und dem Kreis der Gäste vorgestellt wurde.

Die Hausfrau beobachtete ihn, als sie bei der Abendtafel saßen. Deutsche Gerichte kamen auf den Tisch und vermehrten das Wohlbehagen, und zu deutschem Wein klang kein anderer Laut als der der Muttersprache. Da stellte sich schnell das Heimatgefühl ein, das die Herzen näher zusammenrückt, je ferner das Land der Sehnsucht liegt.

»Was wünschen Sie mich zu fragen, gnädige Frau? Ich sehe die Frage in Ihrem Blick.«

»O,« sagte sie und errötete leicht, »dann müssen Sie auch schon die Antwort in meinem Blick gelesen haben.«

»Ja,« erwiderte er, »ich fühle mich seit langer Zeit zum erstenmal wieder daheim. Das ist alles so traulich und warm bei Ihnen, so ganz frei von fremden, künstlich aufgesetzten Lichtern, daß man nur ausruhen und das tiefe Behagen in sich aufnehmen möchte.«

»Sie machen uns von Herzen froh, Herr Wegherr. Nicht, weil für uns ein Lob in Ihren Worten liegt, sondern weil Sie sich daheim fühlen. Das ist wie ein gegenseitiges Gastgeschenk.«

»Ich danke Ihnen aufrichtig. Ich hatte ein solches Gastgeschenk gerade nötig.«

»Soll ich,« fragte sie, »Ihnen dasselbe Wort zurückgeben? Wir hier draußen in der Einsamkeit haben Geschenke, wie Sie sie bringen, immer nötig.«

»Wenn ich Sie und Ihren Gatten ansehe, vermag ich kaum daran zu glauben.«

»Doch,« sagte sie, »denn wir stehen hier im Kampf, und der verbraucht vieles, und so muß vieles immer wieder neu aufgefüllt werden. Und dabei ist es nicht einmal ein frischer, offener Kampf. Mein Mann betrachtet sich als einen deutschen Vorposten, der nicht zugibt, daß im Bereich seiner Wirksamkeit das Deutschtum bestohlen und geplündert wird. Der kleine Kreis, den Sie hier sehen, denkt wie er. Aber der große Kreis, den Sie hier nicht sehen, will nicht gern im Geldverdienen nach links und rechts gestört sein und legt ihm Hindernisse in den Weg und bringt so manches, was mein Mann mühsam aufgebaut hat, zu Fall, nur um sich nach der anderen Seite hin lieb Kind zu machen. Da kann es vorkommen, daß man einmal den frohen Mut verliert und die Begeisterung am fast erfolglosen Werk, und daß ein Mann kommen muß wie Sie, der unseren Kriegsschatz auffüllt und unseren Willen stählt, den begonnenen Weg zu Ende zu gehen.«

Wegherr hörte ihr aufmerksam zu.

»Wie schön ist es, daß Sie ›wir‹ sagen, wenn Sie von den Kämpfen Ihres Mannes sprechen.«

»Es wäre vielleicht schön, Herr Wegherr, wenn es nicht selbstverständlich wäre.«

Rings am Tisch sprach man von deutschen Angelegenheiten. Mit einer ernsten Leidenschaftlichkeit, wie sie im alten Vaterlande nur selten angetroffen wurde, und die Zeugnis davon ablegte, daß es sich nicht um einen Gesprächsgegenstand, sondern um eine Herzenssache handelte. Und Wegherr vernahm zu seiner Freude, daß der Hausherr die gleiche Ansicht betonte, die er selber damals in St. Louis aufgestellt hatte.

»In einem Kriege, den Deutschland eines Tages zu führen haben wird,« sagte der Hausherr, »hat Brot und Mehl als Konterbande zu gelten. England hat im Transvaalkrieg so gehandelt, und die amerikanische Regierung muß wegen ihrer Millionen Bürger deutscher Herkunft zu dieser Erklärung gezwungen werden.«

»Ja, wenn sie gezwungen wird. Dazu gehören Zwangsmittel.«

»Die Zwangsmittel sind da. Wir selber sind sie. Sorgen wir, daß wir nicht mehr beiseitegeschoben werden wie törichtes Stimmvieh, dem bis zum nächstenmal schleunigst wieder das Maul verbunden wird. Erheben wir auch in der Zwischenzeit unsere Stimmen. Mit aller Bestimmtheit. Wenn es darauf ankommt: mit voller Lungenkraft. Bis es hin und her durch das ganze Land hallt: Die Deutschen Amerikas bitten nicht, sie fordern.«

»Zukunftsbilder, schöne Zukunftsbilder,« warf ein anderer ein.

»Die aber morgen schon Gegenwart sein können, wenn mir uns ermannen und auch für unsere Hand den nötigen Platz am Ruder verlangen. Ermannen aber heißt: ein Mann werden! Einmal haben wir es doch schon bewiesen, daß wir es können. Damals, in den Samoawirren, als wir die Regierung zwangen, den Admiral abzurufen, der sich unhöflich gegen den deutschen Kapitän gezeigt hatte. Nur ein bißchen Stolz gehört dazu und ein festerer Schritt. Und so Gott will, lernen wir ihn schnell, diesen Schritt, wenn wir erst im ganzen Lande Schulter an Schulter im neuen Bund der Deutschen Amerikas marschieren.«

Er hob sein Glas, als tränke er ein Wohl. Und alle tranken wie er.

»Ich möchte Sie beneiden,« sagte ihm Wegherr, als sie sich vom Tisch erhoben. »Selber ein ganzer Mann, dazu eine Kameradin zur Frau, was bleibt Ihnen noch zu wünschen.«

»Der Tag, Herr Wegherr,« antwortete der Hausherr ernst, »an dem es mir gleich sein kann, ob ich unter Deutschen in Europa, Asien, Afrika oder Amerika und Australien sitze.«

»Der Tag wird kommen,« erwiderte Wegherr. »Vielleicht durch einen Schicksalsschlag. Aber er wird kommen und ist schon auf dem Marsch.«

»Gott geb's. Wir, die wir hier draußen sitzen, brauchen ihn mehr, als man davon in Deutschland weiß und wissen will.«

Die Hausfrau entführte den Gast ins Musikzimmer. »Ich möchte, daß Sie sich wirklich in Behaglichkeit daheim fühlen, und das sollen Sie nun hier in meinem Reich. Die Männer werden, wo Sie sich blicken lassen, sofort mit der Politik über Sie herfallen, und ich sehe Ihnen doch an, daß Sie ein wenig Ruhe brauchen.«

»Das sehen Sie mir an?«

»Setzen Sie sich, Herr Wegherr. Bitte, machen Sie es sich ganz bequem. Auch rauchen dürfen Sie. Hier ist Feuer und Aschenteller.«

»Sie weichen meiner Frage aus, gnädige Frau.«

Sie saß ihm gegenüber am Flügel, über dessen Tasten sie verwirrt die Hand spielen ließ.

»Verzeihen Sie mir. Ich habe natürlich gar kein Recht zu meiner Bemerkung. In der Fremde nur möchte immer gern der eine dem andern helfen. Und es ist auch nicht heute, es war gestern, wie Sie Ihre Vorlesung begannen, als ich in Ihren Augen ein Ruhebedürfnis zu lesen glaubte.«

»Ich hatte einen dummen Streich gemacht, gnädige Frau. Sonst nichts.«

»Das ist schön.«

»Schön?«

»Eine steinalte Frau, die in mehreren Ehen die Männer kennen gelernt hatte, sagte mir einmal: »Solange ein Mann noch einen dummen Streich machen kann, kann noch was aus ihm werden. Unrettbar für die Menschheit verloren sind nur die Blutlosen.«

»Sollte die steinalte Frau,« meinte Wegherr, »nicht eine junge, schöne und hilfsbereite Frau sein, die nie anders als in einer einzigen glücklichen Ehe gelebt hat?«

Da lachte die Hausfrau herzlich.

»Die steinalte Frau mit der großen Männererfahrung hätte mir nur besser gelegen. Wie käme ich sonst dazu, Ihnen zu raten?«

»Also raten wollen Sie mir? Leider lohnt es der Gegenstand zu wenig.«

»Es war keine Aufdringlichkeit, Herr Wegherr. Nur, wenn ich ein wenig hätte helfen können – bitte, vergessen Sie meine Worte.«

Wegherr blickte sie ruhig an.

»Es gibt unter euch Frauen einige,« sagte er, »die die Mütterlichkeit mit auf die Welt bringen. Sie gehören dazu. Und es ist leicht, mit Ihnen über Dinge zu reden, die von Frauen handeln.«

»Herr Wegherr, in diesem Lande reist man nicht mit schwerem Gepäck.«

Er nickte nur.

»Ich habe diese Wahrnehmung schon an mir selber gemacht. Und es wird mir zum zweitenmal nicht geschehen. Trotzdem – wenn Sie meine Beichte hören wollen?«

»Ich sehe, es ist eine Sache, in der eine Frau raten kann.«

Da erzählte er ohne Namennennung sein Zusammentreffen mit Winifred. »Mein Herz war ausgehungert,« schloß er, »das entschuldigt die törichte Verblendung allein. Und nun harr' ich Ihres Spruches.«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Und beugte sich vor, blickte ihn an und schüttelte wieder lächelnd den Kopf.

»Sie haben Glück gehabt, großes Glück. Aber ich möchte nicht philosophieren und nur meinen Spruch sagen.«

»Tun Sie es.«

»Behalten Sie Ihr Herz für Deutschland. Hier kommen Sie mit kleinerer Münze aus. Herz – das ist so ziemlich das einzige, was hier keinen Dollarwert hat. Drüben aber steht es noch im Preise. Und Sie haben ein sehr reiches Herz, um das es in Amerika schade wäre.«

»Sie sind sehr freundlich zu mir, gnädige Frau.«

»Vielleicht ist es nur Zorn nach der andern Seite hin. Diese Frauen, die nur zum Spielen auf der Welt zu sein glauben, schänden unser Weibtum. Und da es fast immer die besten Männer sind, die ihnen zum Opfer fallen, so hasse ich sie mit meinem heißesten Frauenhaß.«

»Wie schön sind Sie mit Ihrem Haß. Wieviel Liebe für Ihr Haus entspringt daraus.«

»Und für meine Freunde,« sagte sie mit lachenden Augen und reichte ihm die Hand. »Sehen Sie, nun haben Sie das alles, was Sie erregte und verstimmte, laut ausgesprochen, was sonst leise noch lange in Ihnen weitergearbeitet hätte. Und während Sie es laut aussprachen, haben Sie gemerkt, wie wenig es Ihnen in der Tat bedeutete. Ich meine immer, wir sollten das öfter tun, die Dinge, die uns bestürmen und verfolgen, laut und deutlich vor uns hinstellen. Gleich haben sie ihre große Wichtigkeit verloren, und wir werden mit ihnen fertig.«

Er küßte ihr die Hand. »Sie sind eine glückliche Frau. Wenn man von Männern des Glücks spricht, sollte man nach ihren Frauen sehen.«

An seinem Arm kehrte sie zu den übrigen zurück und widmete sich nacheinander jedem Gaste. Und doch war es Wegherr, als ob alle ihre Heiterkeit ihm gewidmet wäre, so stark fühlte er den Einfluß der frohen Frau.

»Ich wiederhole,« sagte er dem Hausherrn zum Abschied, »daß ich Sie beneide.«

»Und ich beneide Sie. Wer so durch die Welt fahren und an den großen Aufgaben mitwirken kann.«

»Es kommt zum Schluß doch nur darauf an, in der ganzen großen Welt einen einzigen Menschen gefunden zu haben, der die ganze große Welt ersetzt. In Ihrem Hause lernt man, daß das möglich ist.«

»Wohin geht die Reise?«

»Durch Iowa, Nebraska, Kansas nach Colorado. Es ist eine lange Fahrt.«

»Möge Sie Ihnen Glück bringen,« sagte die Hausfrau, die an die Seite ihres Mannes getreten war, und schüttelte ihm zum Abschied fest die Hand.

Tage hindurch fuhr Wegherr nach Südwesten. Oft verließ er den Zug an einem Eisenbahnknotenpunkt und ging in die Stadt hinein, in der Stille Land und Leute zu studieren. Was verschlug es ihm, ob die Fahrt länger wurde. Sein Wissen bereicherte sich ohne Führer am stärksten.

Eine Woche weilte er im Indianerterritorium, das den fünf Stämmen der Rothäute für ewige Zeiten überwiesen und ihnen in den besten Teilen durch Industriegesellschaften und Eisenbahnen kaltblütig wieder abgenommen worden war, und saß bei den Enterbten im Hauptort des Tscherokesenlandes, und der ›Indianische Sommer‹ fiel ihm ein, dieser verglühende schwermütige Herbst, von dem er einst Wuppermann gesagt hatte, damals, am ersten Tage in den pennsylvanischen Bergen: Sorgt, daß man ihn nicht einmal den ›deutschen Sommer‹ nennt.

Nicht viel mehr als Fünfzigtausend zählten diese fünf indianischen Stämme noch, die einst als Herren die Wälder und Prärien durchritten hatten von Sonnenaufgang bis Sonnenniedergang. Was vom Pulver und Blei der Weißen verschont geblieben war, war durch den Whisky unschädlich gemacht.

Durch das südliche Kansas brauste der Zug gegen Westen. Nur noch die Stadt Denver im Staate Colorado gedachte Wegherr zu besuchen und sich dann Ferien zu gönnen, ein, zwei Monate lang, bis in den Herbst hinein, irgendwo in der Schönheit des Landes.

Es war Abend, als Wegherr den Zug durchschritt, um den Rauchwagen aufzusuchen. Einer der Wagen enthielt abgeschlossene Abteile für Reisende, die gegen dreifachen Preis eine Fahrgelegenheit für sich allein wünschen mit Tisch und Bett und allen Bequemlichkeiten. Ein Neger trat aus einem der Abteile. Die Tür blieb nur einen Augenblick geöffnet. Aber Wegherr hatte die beiden Insassen erkannt und rief ihnen fröhlich einen »Guten Abend« zu.

Vorsichtig wurde die Tür noch einmal geöffnet. Der lange und hagere Baron von Dachsberg lugte durch den Spalt, riß die Tür ganz auf und zog Wegherr in das kleine Gemach.

»Doktor, sind Sie es? Was tun Sie in Kansas? Pferde stehlen? Zu Büchsenfleisch verkochen? Was gibt's für Sie in den Prärien zu tun?«

Die Tür war zugeklappt. Die drei waren allein.

»Guten Abend, Herr Baron. Guten Abend, Herr Unkelbach. Das nenne ich eine frohe Überraschung.«

Der alte Unkelbach hatte sich aus seiner Ecke erhoben und den Händedruck erwidert. Sein Gesicht war von einem tiefen Ernst überschattet, aber seine Augen leuchteten doch auf, als er Wegherr begrüßte.

»Immer noch im Lande, Doktor? Immer noch? Sie halten durch, das muß ich sagen.«

»Was man sich vorgenommen hat, muß man ausführen, Herr Unkelbach. Das ist ein alter deutscher Brauch.«

»Weiß Gott, Doktor. Weiß Gott!«

»Nehmen Sie Platz, Doktor,« rief der Baron, »und starren Sie meinen Freund Unkelbach nicht wie ein Wundertier an, weil er ›weiß Gott‹ gesagt hat. Ich sag' es auch, und wenn mich der Deubel holt.«

Wegherr hatte sich niedergesetzt. Mit leiser Verwunderung blickte er von einem zum andern. Aber die Leute waren nüchtern und blickten aus scharfen Augen. Und er scheute sich, eine vordringliche Frage zu stellen.

»Wohin soll's denn nun, Doktor?«

»Nach dem Staate Colorado und weiter.«

Der Baron und Unkelbach sahen sich schweigend an. »Hm,« machte dann der Baron. »Nach Colorado. Was Sie sagen.«

»Finden Sie das so absonderlich, Herr Baron, daß ein Mensch von Kansas nach Colorado reist? Es liegt doch nebenan.«

»In der Tat, Doktor. Es liegt nebenan.« Und wieder sahen sich die alten Freunde ins Gesicht.

Ein peinliches Schweigen entstand. Und Wegherr wußte nicht, was er mit den beiden beginnen sollte. Dann nickte der alte Unkelbach dem hageren Baron zu und wandte sich an Wegherr.

»Die Sache ist nämlich: wir reisen auch nach Colorado.«

»Ist das ein Geheimnis?«

»Ja, es ist ein Geheimnis. Und ich bin sicher, Sie sprechen nicht weiter darüber.«

»Was ist das für ein seltsamer Scherz, meine Herren.«

Der alte Rheinländer saß in sich gekehrt in seiner Ecke. Der Baron rauchte gedankenvoll.

»Kam ich Ihnen ungelegen, meine Herren?« Wegherr machte Miene, sich wieder zu erheben. »Dann habe ich um Entschuldigung zu bitten.«

»Bleiben Sie, Doktor. Wir beide, der alte Unkelbach und ich, sind Ihnen dankbar, wenn Sie uns ein bißchen Gesellschaft leisten. Wir – wir – nun ja, wir machen nämlich gerade Abschiedsbesuche, und das stimmt den Menschen immer ein bißchen aufs Wortkarge.«

Der alte Unkelbach lachte in seiner Ecke hart auf.

»Abschiedsbesuche,« wiederholte er nur.

»Zigarre gefällig, Doktor?« fragte der Baron und hielt Wegherr die gefüllte Zigarrentasche hin.

Wegherr nahm dankend an, und der Baron beeilte sich, ihm Feuer zu bieten.

»Sie machen Abschiedsbesuche?« fragte Wegherr. »So wird es Wahrheit mit Ihrem kleveschen Gut?«

»Ob es mit meiner kleveschen Klitsche Wahrheit wird, das steht in Gottes Hand. Das richtet sich danach, wie unser Abschiedsbesuch ausfällt. In Colorado, wissen Sie. Na, Unkelbach, weshalb soll er nicht gut ausfallen.«

Der alte Unkelbach starrte vor sich hin auf die Tischplatte. Mit dem Finger zeichnete er gedankenlos Figuren. Hin und her.

»Sie haben Ihre Pferdezucht verkauft, Herr Baron?«

Wegherr fragte nur noch, um das drückende Schweigen zu unterbrechen.

»Mit Huf und Schweif und Weideland. Genau so wie der Unkelbach seine gesegnete Rindviehfarm!«

»Und Sie sind beide mit dem Abschluß zufrieden?«

»Hätten wir sonst verkauft, Doktor? Wir müssen doch für unseren Lebensabend in Deutschland genügend zu verjuxen haben.«

»Also nun geht es wieder nach Deutschland,« sagte Wegherr nach einer Weile. »Und als getreue Nachbarn vereint. Sie und Vater und Sohn Unkelbach. Aber ich vermisse noch den Sohn?«

Der Baron hüllte sich in eine Rauchwolke.

»Der fehlt vorläufig noch,« knurrte er ingrimmig.

In dem sonst so fröhlichen Gesicht des alten Unkelbach stand ein schmerzlicher Zug. Der Finger hatte aufgehört, Figuren auf die Tischplatte zu zeichnen. Die Lippen schlossen sich fest. Aber ein dumpfes Stöhnen stieg aus seiner Brust.

Wegherr legte ihm die Hand auf den Arm. Tiefes Mitgefühl bebte durch seine Stimme.

»Vater Unkelbach ...«

»Jawohl, Doktor, der bin ich. Und der denk' ich zu bleiben. Der Vater Unkelbach.«

»Ihr Sohn ist krank? Steht es schlimm mit ihm? Ist das der Abschiedsbesuch?«

»Er ist sein Leben lang nicht krank gewesen. Aber es steht schlimm mit ihm. Verdammt schlimm.«

»Ich verstehe Sie nicht, Herr Unkelbach. Wollen Sie mir nicht erklären? Oder Sie, Herr Baron? Weshalb schweigen Sie denn? Haben Sie kein Zutrauen zu mir? Sie waren die ersten, die auf amerikanischem Boden einen fröhlichen Becher mit mir leerten. Das vergesse ich Ihnen nicht. Denn ich hatte auch schon mein Schicksal erfahren, als ich herüberkam.«

»Doktor,« sagte der Alte zögernd, »es ist kein Mißtrauen. Sie zu sehen ist uns eine Freude und ein Trost. Ich – ich möchte es als ein gutes Zeichen nehmen, daß ein so deutscher Mann wie Sie mir in so schwerer Stunde erscheint. Fahren Sie mit, wenn Sie wollen. Aber als unbeteiligter Zuschauer.«

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Herr Unkelbach?«

»Nein. Es genügt, daß der Baron schon seine Freundschaft übertreibt.«

»Larifari,« sagte der Baron. »Hätten Sie mich vielleicht im Dreck sitzen gelassen? Hie gut niederrheinische Nachbarschaft allwege.«

»Baron, Sie können scherzen. Wo's ums Leben gehen kann, Baron.«

»Was denn? Auch noch Aufhebens darum machen? Hab' ich's früher nicht oft genug um einen Pappenstiel eingesetzt? Um ein paar verrückte Frauenzimmeraugen oder einen Korb Sekt oder einen Wettritt, daß die Hufeisen in die Weltgeschichte flogen? Lauter betrunkene Geschichten, Mann, Prahlhansgeschichten, Großtuereien. Und hier, wo's um einen Einsatz geht, um einen lebendigen Einsatz, um unseren lieben Jungen, da soll ich zurückzoppen und meiner großen, schönen, heillos lustigen Vergangenheit wie ein speichelnder Betbruder gegenüberstehen? Nee, alter Kamerad, da lachen ja die Hühner. Pfui Deubel, das bißchen Hals, das man dransetzt. Im übrigen wird's der Herrgott schon fingern.«

»Baron,« sagte der alte Unkelbach schnaufend, »Baron, mein Hals reicht aus. Ich hab' den Jungen herübergebracht.«

»Die Sache ist erledigt, Unkelbach. Wir wollen doch hier kein Turnier in Edelmut abhalten. Schluß.«

Und wieder saßen sich die beiden mit verschlossenen Gesichtern gegenüber.

»Das also ist es,« brach Wegherr das Schweigen. »Jetzt sehe ich klar.«

»Gar nichts sehen Sie, Doktor, gar nichts.«

»Jedenfalls sehe ich, daß ich Ihnen zu gering erscheine, mich zum Mithelfer zu nehmen, Baron.«

»Zu gering? Nun fängt auch der Doktor noch an, den Empfindsamen zu spielen. Zu gering? Umgekehrt, Herr. Zu wertvoll sind Sie uns. Wir sind zwei alte Kracher, der Unkelbach und ich. Daran ist nicht viel verloren, wenn's auch verdammt schad' um unsere schönen Häute wär'. Wir haben unsere Aufgabe erfüllt und riechen doch über kurz oder lang an der Totengräberschippe. Sie aber haben noch ein ganzes, großes Leben vor sich, ein gesegnetes Leben, Herr, nicht nur für sich, sondern für Zehntausende. Da können Sie uns den einen ruhig allein überlassen.«

Er ergriff Wegherrs Hand und drückte sie herzlich.

»Ich kann nicht mehr tun als mich anbieten,« erwiderte Wegherr. »Sie haben mich abgelehnt. Sie müssen das am besten wissen. Aber vielleicht wäre es doch gut, wenn Sie mir mitteilten, um was es sich handelt. Für den Fall, daß nicht alles glatt ginge und einer da sein müßte, der den Hebel von der anderen Seite ansetzte.«

Der alte Unkelbach tat einen schweren Atemzug.

»Es muß glatt gehen, Herr, es muß

»Hm,« meinte der Baron, »immerhin, man soll sich bei jeder Attacke auch die Rückzugslinie sichern.«

Und wieder lachte der alte Unkelbach ein hartes Lachen.

»Ich kenn' meine Rückzugslinie, Baron. Ohne Sorgen, ich kenn' sie. Darüber ist nichts mehr zu reden.«

»Vater Unkelbach,« fragte Wegherr leise und streichelte des Erregten Hand, »wollen Sie mir nicht sagen, wo Ihr Sohn ist?«

In dem Gesicht des Alten zuckte es. Die Lippen bebten, und ein Flackern war in den Augen. Er fuhr mit dem Handrücken darüber hin und setzte sich hastig aufrecht. Der Baron blickte zum Fenster hinaus in die Nacht.

»Gut, Doktor,« sagte der Alte und mühte sich, seine Stimme in die Gewalt zu bekommen. »Also der Junge – der Junge also – wo der ist, meinen Sie? Der ist in Colorado, nicht wahr? Unten, an der südlichen Grenze nach Neu-Mexiko. In so einem verfluchten Bergwerksstädtchen. Da hat man ihn festgesetzt. Da macht man ihm morgen den Prozeß. Sehen Sie, das ist alles.«

»Weshalb hat man ihn festgesetzt?«

»Weshalb? Weshalb? Weil er ein ganzer Kerl war unter dem mexikanisch-amerikanischen Gesindel, das sich da im Gold- und Silberbau zusammenfindet. Weil er sich seiner Haut wehrte, als man ihn angriff. Weil er einen der Satansbraten in die Hölle schickte, als der Kerl ihn mit Revolverkugeln traktierte. Und dafür – dafür soll er nun selbst daran glauben.«

Der Alte schlug sich mit der geballten Faust aufs Knie. »Der Junge. Mein Junge.«

»Wenn er doch unschuldig ist, Herr Unkelbach, und in der Notwehr gehandelt hat –«

»Fragt das Pack danach? Wie? Dies Mischlingspack, das in Deutschland in keinem Straßengraben geduldet würde? Hier hat's das Heft in der Hand. Hier gibt's nichts anderes in den Grubenstädten.«

»Doch, Herr Unkelbach, die Justiz gibt's.«

»Was? Was? Die Justiz? Die gibt's ja kaum im zivilisierten Amerika. Und hier in der Wildnis? Bestochene oder eingeschüchterte Richter, bestochene Anwälte, bestochene Zeugen. Alles bereits abgekartet. Der Junge soll dran glauben. Aber noch bin ich auf der Welt.«

Er schüttelte die Fäuste, stemmte dann die Ellbogen auf den Tisch und vergrub sein Gesicht in den Händen.

Der Baron wandte den Kopf. Tiefes Mitleid lag in seinen Zügen. Er nickte Wegherr zu.

»Ist es wirklich so schlimm, Herr Baron? So wenig Hoffnung?«

»Gar keine. Man muß die Gesellschaft kennen. Ein Glück, daß sie den Jungen nicht gleich gelyncht haben.«

»Können Sie mir die traurige Geschichte nicht ein wenig lückenloser erzählen?«

»Weshalb nicht? Nachdem der Unkelbach davon geredet hat. Also die Sache ging folgendermaßen vor sich: Wir hatten gerade unsere Farmen verkauft, ich meine Gäule, der Unkelbach sein Rindvieh, denn nun wollten wir wieder übers Wasser und Deutschland liebhaben. Das lernt man nämlich erst so richtig, wenn man mal eine Zeitlang draußen vor der Tür gestanden hat und sich von jedem Schweinehund ›Gut Freund› anreden lassen muß. Schön. Nach den Verträgen sollten wir Land- und Vieh- und Pferdebestände gleich übergeben, und wir machten uns an die Arbeit, um im Herbst schon die Rebhühner am Niederrhein schießen zu können. Der Junge gedachte sich, da er bei der Übergabe nicht dringend vonnöten war, noch ein bißchen in der Nachbarschaft umzusehen; er reiste herum und landete eines Tages in einem der Bergwerksnester an der Colorado- und Neu-Mexiko-Grenze. Wenn einer so lange in Amerika war, muß er doch wissen, wo und wie das Gold und Silber wächst.

Am Abend steht er unter den wüsten Kerlen an einer der gottverfluchten Bars und trinkt sich eins. Kommt so ein Ungewaschener und drängelt sich an ihn heran, greift in die Hosentasche und zeigt ihm ein Stück Gold, frisch aus dem Gestein gehauen. Das soll der Junge kaufen. Der Junge aber dankt, da er sich ganz richtig sagt, daß der Kerl das aus der Grube heimlich hat mitgehen heißen. Der Kerl wird wütend und schimpft den Jungen ›Dutchman‹ mit allerlei Beiwörtern. Der Junge, in seinem Deutschtum beleidigt, verbittet sich das und heißt den Kerl das Maul halten. Der schreit wie ein Besessener durchs Lokal, zur Tür hinaus, zu den Fenstern hinaus. Das Lokal füllt sich wie ein Bienenstock. Was will der elende Dutchman? Was er will? Ehrenwerte Gentlemen zum Diebstahl verleiten. Zum Grubendiebstahl. Er kauft's, der Betrüger. Das wagt der elende Dutchman einem Gentleman zu bieten!

›Du Lügenlump,‹ schreit der Junge.

›Was? Lügenlump? Spricht man so zu einem Gentleman?› schreit's aus der Menge. ›Stopft ihm das Maul!‹

»Gib ihm eine Portion blaue Bohnen in den Hungerbauch, Billy.‹

›Drauf, Jungens, macht nicht viel Federlesens!‹

Revolver fliegen aus den Taschen. Schüsse knallen. Der Junge spürt Blut an der Stirn. Er springt über die Bar, die Menge johlend nach. Nun hat er den eigenen Revolver aus der Hosentasche. Er sieht Feuer aus dem Revolver des Spitzbuben sprühen, gibt selber Feuer. Der Kerl fällt aufs Gesicht. Die Menge weicht zurück. Polizisten drängen vor und bringen den Jungen, der sofort die Waffe hinreicht, von der wütenden Menge verfolgt ins Gefängnis.«

»Und Sie erfuhren es sofort?«

»Der alte Unkelbach. Ich nicht. Der kriegte ein Telegramm von dem Jungen und reiste auf der Stelle. Die Voruntersuchung hatte nur Belastendes ergeben. Die Bande schwur, der Junge hätte den Kerl, den Billy, zum Grubendiebstahl verleiten wollen und, um ihn mundtot zu machen, den redlichen Familienvater glattweg niedergeknallt. Da wußte sich kein Rechtsanwalt zu helfen. Vater Unkelbach fuhr schleunigst heim, um die Übergabe seiner Farm zu beschleunigen, erbat telegraphisch meinen Besuch; ich kam, wir berieten, ich fuhr zurück, erledigte auch meinerseits die Übergabegeschäfte, hielt mit meinen alten, wilden Pferdeboys noch eine kleine Abschiedsandacht, die nur uns anging, fuhr wieder zu Vater Unkelbach, und nun sind wir unterwegs, um dem Prozeß des lieben Jungen morgen ein wenig beizuwohnen.«

Er schwieg und zog an seiner Zigarre. Der Alte aber saß noch immer, die Ellbogen aufgestützt und das Gesicht in den Händen verborgen. Es war, als nähme er keinen Anteil mehr.

»Armer, alter Mann,« sagte Wegherr leise.

Draußen flog das Licht eines Bahnhofs vorüber. Der Baron zog die Uhr.

»In einer Stunde hält der Zug. Dann sind wir am Ziel. Sie tun gut, Doktor, sich jetzt um Ihr Gepäck und nicht mehr um uns zu kümmern.«

»Ich werde an der nächsten Haltestelle ebenfalls aussteigen, Herr Baron.«

»Daran kann ich Sie nicht hindern. Ich hätt's auch getan. Aber es ist besser, Sie kennen uns nicht mehr und suchen sich einen anderen Gasthof. Ihr Wort darauf, Doktor. Wir haben einige Gründe, möglichst wenig Aufsehen mit unserer werten Person zu verursachen, und ich habe noch einen Spaziergang vor. Es ist ein Uhr nachts. Leben Sie wohl, Doktor.«

»Leben Sie wohl, Baron. Glück zu. Ihr Vorhaben wird Ihnen gelingen.«

»Jeder Schelmenstreich ist mir noch immer prachtvoll gelungen. Da muß doch diesmal, wo's ein verdienstvolles Werk gilt, der Himmel seine ganz besondere Freude an mir altem Sünder haben.«

»Baron, Sie sind ein ganzer Mann.«

»Weiß ich. Gut' Nacht.«

»Gute Nacht, Vater Unkelbach.«

Keine Antwort kam.

»Auf morgen.«

Da hob der Alte seinen zerwühlten Kopf, blickte Wegherr ein paar Sekunden starr in die Augen und ließ sein Gesicht wieder in die Hände sinken. Der Baron öffnete die Tür, und Wegherr schritt durch den Zug, der nur wenige Reisende barg, seinem Abteil zu.

Der Baron hatte die Tür hinter ihm geschlossen. Nun saß er neben dem alten Freunde und hatte ihm den Arm um die Schulter gelegt. So saßen die beiden Alten lange.

»Bruderherz,« sagte dann der Baron, »es wird Zeit. Na, nun sieh mich noch einmal aus den alten, kühnen Augen an, die nie einen Teufel fürchteten.«

Es war das erstemal, daß er das ›Du‹ anwandte. In dieser Stunde, in der keiner von ihnen wußte, was die nächsten ihnen bringen würden, gaben sie sich wie von selbst dies letzte Geschenk. Und der alte Unkelbach sagte ruhig: »Ich danke dir, Baron.«

»Der Doktor hat uns eine Wohltat erwiesen,« fuhr der Baron fort. »Es gibt nichts Gräßlicheres, als durch die Nacht einem Abenteuer entgegenzufahren. Erst macht's einem einen wilden Spaß. Dann hat man den Fall erschöpft, grübelt und kommt auf allerlei Bedenken, die einem die Spannkraft benagen. Zum Schluß wird man müde und unwirsch. Da hat uns der Doktor bei der Sache gehalten und über die zermürbende Wartezeit weggeholfen. Er ist ein famoser Kamerad. Ein Wort, und wir hätten einen aktiven Helfer mehr. Aber der Mann wäre für seine Aufgabe unmöglich geworden. Ich hätte ein Verbrechen an ihm begangen.«

»Und die armen Kerls, deine Pferdeboys?«

Der Baron lachte.

»Arm? Meine alten, wilden Jungen? Ich sage dir, als ich sie zu der letzten stillen Andacht lud, in mein Arbeitszimmer, und sie befragte, ob sie für einen tollen Streich zu haben wären, der ihrem Herrn einen Freund retten sollte, da hättest du es an ihrer Begeisterung merken können, wie reich ich meine Jungs gemacht hab'. Es ist eine auserlesene Gesellschaft, jeder von ihnen knapp am Galgen vorbeigekommen, und ich hab' sie gehegt und gepflegt alle die vielen Jahre hindurch, daß sie sich wieder Mensch fühlten und wieder in der Sonne schreien lernten wie besessen. Wie zärtliche Schoßhündchen hingen die wilden Banditen an mir, und wenn einer von ihnen das Fieber kriegte, hab' ich bei ihm gesessen und ihm Chinin zu schlucken gegeben und ihm den Eisbeutel auf die Herzgrube gehalten. Mann, ich habe die Leute nur gefragt, ob sie den Kopf für mich einsetzen wollten. Ich hätt's ihnen auch befehlen können. Ihr Leben gehört mir von Rechts wegen.«

»Dir, Baron. Aber was gehen ich und mein Junge deine Boys an?«

»Genau so viel. In der Prärie versteht man, was Freundschaft heißt. Du und ich, wir haben's ja auch immer verstanden. Und nun höre zu. Ich wiederhole: Ich habe ein Automobil gemietet, zum Wegschaffen meiner Koffer und Sammlungen. Das fiel nicht auf. Einer meiner Leute war Fahrer in San Franzisko, bevor er sich auf den Tramp machte und bei mir als Pferdehüter unterkam. Der ist nun gemächlich mit dem Wagen über die Neu-Mexiko-Grenze gefahren, soll in dieser Nacht draußen vor der Stadt ankommen und die auserwählten fünf Mann landen. Vier von ihnen werden sich als Zuhörer im Gerichtssaal einfinden, der fünfte hat draußen vor der Stadt etwas am Telegraphendraht zu tun und läßt sich entschuldigen. Der Wagen faßt sechs Mann, dazu kommen die beiden Führersitze, macht acht. Wir sind aber mit deinem Jungen neun. Also wird sich der Telegraphenliebhaber, der sowieso nichts in der Stadt zu tun hat, allein auf die Socken machen, bis er eine Fahrgelegenheit erwischt. Wenn die Gerichtsverhandlung begonnen hat und es auf den Straßen keine Neugierige mehr gibt, komme ich mit dem Automobil ins Städtchen gefahren und halte in der Nähe des Gerichtsgebäudes. Ich werde schon pünktlich zur Stelle sein.«

Er reichte dem alten Freunde die Hand.

»Da ist die Haltestelle. Morgen, lieber Alter, haben wir deinen Jungen oder – kein Heimweh nach Deutschland mehr. Nimm die Handtasche. Ich schlag' mich gleich ins Dunkle. Fertig, los!«

Der Zug fuhr langsamer. Jetzt fuhr er in den Bahnhof ein. Die hagere Gestalt des Barons war im Wagengang verschwunden.

Der alte Unkelbach hatte sich erhoben. Die mächtige Figur reckte sich auf. Als das Wagengerassel innehielt, war er todesruhig.

»Nun sei auch du ruhig, mein Junge,« murmelte er. »Sei du ganz ruhig. Dein Vater kommt.«

Er nahm die Handtasche und stieg aus. Der kleine Bahnhof lag öde und verlassen. Ein Neger nur mühte sich am Zuge mit dem Gepäck des Doktors Wegherr. Der Bahnhofsvorsteher stand neben der Lokomotive und plauderte mit dem Zugführer. Gerade verschwand die Gestalt des Barons von Dachsberg neben dem Bahngebäude in der Finsternis.

Ein Pfiff, und die Lokomotive zog wieder an.

Seine Tasche in der Hand, ging der alte Unkelbach einsam in das schlafende Städtchen hinein. In der schwarzen Dunkelheit fand er sicher seinen Weg. Sein fester Schritt hallte auf dem Pflaster. Er mäßigte ihn nicht.

Vielleicht, dachte der Alte, hört ihn der Junge und lacht sich eins.

Dann pochte er im Gasthof den Wirt heraus.


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