Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

14

Noch dehnte sich die große Mojavewüste bis an den Horizont, grau, sandig und salzig. Aber hier, dort, überall stießen haushohe Yuccapalmen vor, vom Wetter verdreht und verbildet, aber mit grünen Fächerkronen, in denen es wie von Ahnungen rauschte.

»Im Pacificgebiet,« sagte Wegherr, als sie den Schlafwagen mit dem Aussichtswagen vertauscht hatten, und wies hinaus. »Noch ist es Wüste, aber am Rande kauert der Frühling und lacht sich ins Fäustchen.«

»Weil er sich auch diese Wüste unterwerfen wird,« antwortete Gertrud van Weert. »Jan nannte dies unermeßliche Hinterland den jungfräulichen Boden Amerikas, der seit Jahrtausenden seine Kräfte aufgespart hätte und sie tausendfach hergeben würde, sobald die künstliche Bewässerung ihn erst zum Atmen brächte.«

»Da hat er Recht gehabt, der Bruder Jan. Sehen Sie nur dort oder dort. Wo nur eine Handvoll Wasser sickert, schießen grüne schöne Haine empor, und die Palmen bilden kerzengerade Gruppen. Ein Arbeitsfeld für ein Jahrhundert und ein Segenstrom für die Ewigkeit.«

Der Tag wurde heiß in der Sandwüste. Und sie setzten sich in die bequemen Stühle auf der freien Plattform und ließen sich den Luftzug durch die Haare wehen. Massig baute es sich in der Ferne auf. Und als sie nach Stunden näher kamen, unterschieden sie in dem Gewoge der grauen, blauen und roten Töne die gewaltigen Schneegipfel der Bernardinokette und hinter ihnen die vierfachen Felsenketten des noch immer unerforschten Berglandes, das nur den Schritt schleichender Indianerwildlinge kannte.

Die Bahn kletterte durch einen Felsenpaß. Sie überwand die Höhe und senkte sich zu Tag. Überrascht reckten sich die Reisenden auf.

»So muß es Moses zumute gewesen sein, als er aus der Wüste kam und vom Berg aus das Gelobte Land zu seinen Füßen sah,« sagte Wegherr leise.

Da lag hinter der Wüste Kaliforniens in voller Pracht, blühend und Früchte tragend in eins, der Garten Kaliforniens, Amerikas Paradies. Wogende Kornfelder, strotzende Weingärten, leuchtende Obsthöfe und golddurchwirkt die Fülle der Oliven-, Orangen- und Zitronenhaine.

Sie saßen nebeneinander und staunten in die Pracht der Erde hinaus. Und verließen staunend wie Kinder, die in einen Traum hineinwandern, in Pasadena den Zug und gingen durch den Abend zu ihrem Hotel.

»Morgen,« sagte Wegherr, »morgen, wenn die Sonne so wach ist wie unser Auge.«

Und weich und lächelnd lag die Stadt und das Land in der Morgensonne, als Wegherr und Gertrud van Weert die breiten Alleen dahinschritten, die eingesäumt waren von mächtigen Fächerpalmen und Dattelpalmen, und die langen Straßenzüge, in denen die Reihen der Pfefferbäume im Blütenrausch zu brennen schienen. Saftgrüne Parkwiesen rückten bis dicht an die Alleen vor und lockten den Wanderer weiter, immer weiter, von Park zu Park, von träumenden Landhäusern zu Märchenschlössern, den Wintersitzen der Geldfürsten Amerikas, den Wintersitzen, die nur den Frühlingszauber kennen, der sich immer aufs neue vermählt mit dem im Rausch gebärenden Sommer.

Wortlos schritten Wegherr und Gertrud van Weert dahin, und sie schritten durch ein hohes Tor in den üppigsten der Parks hinein, in dem kleine gelbe japanische Gärtner die Blumen hegten und in stillem Stolze nach den Baumriesen blickten, den Palmen aller Arten, den Bananen und Guaven und Dattelpflaumen, den Eukalyptus-, Gummi- und Pfefferbäumen, den Korkeichen und Akazien, den goldenen Oliven, Limonen und Orangen. Kein Laut zitterte durch die Luft. Hoch und still stand das Pampasgras mit weißen Federbüschen, der launenhaft geformte Kaktus mit den weltfremden Blütenaugen, die märchenhaften Callas in roter Pracht. Von Marmorsäulen nickten traumverloren die schweren Rosenkelche, tropften blutdunkel die Geranien, lächelten großblumige Klematis in weißen, blauen und bordeauxfarbenen Sternen.

Und kein Laut zitterte durch das weiße Schloß am silbernen Weiher, auf dem zwei Schwäne versonnen ihre Kreise zogen.

»Sind die Herrschaften nicht daheim?« fragte Wegherr einen der kleinen gelben Gärtner.

»O nein. Sie gehen nach Europa, nach Paris, nach London, wenn bei ihnen der Winter kommt.«

»Und wo wohnen sie sonst?«

»In St. Louis, Herr.«

Er brach eine schwere Rosenblüte und überreichte sie lächelnd der Dame.

Sie wandelten weiter und atmeten in tiefen Zügen die Luft, als wäre der Park ihr eigen.

»Da haben Sie den Amerikaner, Fräulein van Weert. Er schafft ein Wunder aus dem Nichts und macht sich von dannen. Die Krönung allen Schaffens, die Genießerfreude, ist ihm fremd. Er ist ein genialer Tagelöhner und müßte ein Künstler sein. Da zigeunert er mit den Seinen durch Paris und London, um die leere ›Saison‹ mitzumachen, und könnte in diesem seinem eigenen Parke sich und den Seinen die Seele erfüllen mit unvergänglicher Schönheit. Nein, nein, es fehlt ihm die Kultur, und die er draußen sucht, ist nie die seine.«

»Ich wollte,« sagte Fräulein van Weert verträumt, »dieser Park gehörte mir.«

»Sie Kind,« lachte Wegherr. »Und was würden Sie tun?«

Da lachte auch sie. »Ich würde Sie zu Gast laden, und als Gast dürften Sie nicht schelten.«

»Ich schelte ja gar nicht. Ich bedaure nur diese armen reichen Menschen.«

»Und ich – ich bin ein reicher armer Mensch. Gott, wie bin ich heute reich. Den ganzen Park nehm' ich mit mir und behalt' ihn bis an mein Lebensende.«

Er nickte ihr nur zu. Er hatte seine Freude an dem Jauchzen ihres Körpers und ihrer Seele. Und die Weihnachtsstimmung der Bescherten blieb ihr treu den Tag und die folgenden Tage, während sie die in Üppigkeit schier vergehenden Täler durchstreiften und nach Los Angeles hinabstiegen, der Stadt, die einst die Spanier gründeten und der Königin der Engel weihten, der Stadt, die vergraben in Schönheit liegt und in einhundertdreißig Kirchen ihr Glück zu bereuen sucht.

»Gibt es so viele Sünden?« fragte Gertrud van Weert. »Denn für die Andacht der Stadt würden weniger Gotteshäuser genügen.«

»Sie dienen nicht nur der Andacht,« erwiderte Wegherr, »sie sind in Amerika Modesache geworden. Gewiß gibt es von Herzen Fromme hier, die es einfach zum Hause Gottes drängt, aber die Mehrzahl will auffallen, will sich einen Schein und ein Ansehen geben vor den Leuten, und gerade die, die im Geschäftsleben am skrupellosesten verfahren, greifen im Gottesdienst nach immer seltsameren und auffälligeren Formen, um selbst hier die Augen der Mitbürger auf sich zu ziehen. Den Frauen aber, nun den Frauen, die über soviel Zeit verfügen, ist es ein wohlgefälliger Sport.«

»Ah, sehen Sie dort,« rief Gertrud van Weert. »Das ist der reichste aller Tempel.«

Wegherr befragte einen Vorübergehenden. »Es ist der Tempel der Gesundbeter,« erklärte er dann. »Augenblicklich höchste Mode.«

Gertrud van Weert schüttelte den Kopf. »Das faßt mein Verstand nicht.«

»Da haben Sie Recht,« bestätigte Wegherr. »Auch der meine faßt es nicht und spürt nur eine grenzenlose Überhebung heraus. Gott, den sie den Allmächtigen, Allwissenden und Allgegenwärtigen nennen, von dem es heißt: ›seine Wege sind wunderbar und nicht für Menschenaugen›, der sollte seinen großen Kurs ändern auf das Geschrei einer Masse hin, wenn er in seinem unerforschlichen Ratschluß dem einsamen Gebet einer verzweifelten Mutter, eines zusammengebrochenen Vaters die Gewähr versagen mußte? Es liegt etwas Negerhaftes in solchem Vorgehen. Nur schreien, nur schreien, bis der große Geist es leid wird, sich die Ohren zuhält und ja, ja nickt, um dem Geschrei für eine Weile zu entgehen. Und die Leute fühlen nicht, daß sie sich und ihren Herrgott mit solchem Glauben entwürdigen, und der Tempel wird der reichste, weil die Modesüchtigen mit ihm sind. Was aber ist hier nicht modesüchtig!«

In einem Hotel der Stadt nahmen sie ein Mahl. Wegherr wählte einen Wein nach der Weinkarte und rief den Aufwärter herbei.

»Bedaure, mein Herr, geistige Getränke dürfen heute in der Stadt nicht verkauft werden.«

»Weshalb denn nicht? Ist ein Kirchenfest?«

»Es ist ein Wahltag.«

»Wahltag? Ach, jetzt verstehe ich. Es könnte ein freier Mann und Bürger durch ein Glas Bier beeinflußt werden. O freies Amerika!«

Sie beeilten sich, in die prangende Schönheit der Natur zurückzugelangen. Im bequemen Wagen fuhren sie durch den blauen Nachmittag bis in den silbernen Abend hinein. Ein großer Geier schwebte dicht über den Straßen. So nahe waren sich Wildheit und Menschenwerk.

Im Hotel zu Pasadena fanden sie am Abend eine Negertruppe vor. Drei ebenholzschwarze Damen in schreienden Gewändern sangen und tanzten kindisch ausgelassene Niggerlieder. Stürmisch verlangte das Publikum zum Schluß den Yankee-Doodle. Wer eine Stimme hatte, sang begeistert den Kehrreim mit:

»Yankee Doodle keep it up,
Yankee Doodle dandy,
Mind the music and the step,
You Yankee Doodle dandy.«

Gertrud van Weert hatte ihr helles Vergnügen daran. »Der Text ist töricht, aber die Musik so köstlich, wie eine volkstümliche Weise nur sein kann. Man hört wirklich das tanzende Volk aus ihr heraus.«

»Aber nicht das amerikanische,« lachte Wegherr.

»Wenn nicht das amerikanische,« meinte sie verblüfft, »welches denn? Es ist doch das amerikanische Volks- und Nationallied.«

»Die mehr als harmlosen Verse,« erklärte er, »sind in der Tat alten Yankeeursprungs. Der Regimentsarzt Schuckburg dichtete sie um 1750, als er die Kolonisten in schauerlichen Uniformen tapfer gegen Franzosen und Indianer anrücken sah. Die Melodie aber ist hessisch, ist einem uralten Schwälmer Tanz entnommen, den die an England überlassenen hessischen Truppen in Heimaterinnerung spielten und später, als sie im Kriege Englands gegen das freiheitentflammte Amerika verwendet wurden, mit über den Ozean in die Neue Welt trugen. Ein hessischer Volksliederforscher hat das jüngst noch festgestellt.«

»Also eine Verschmelzung des Yankeetums und des Deutschtums im volkstümlichsten amerikanischen Lied,« lachte sie fröhlich. »Das ist doch schon im kleinen, was Sie im großen erstreben.«

Nun war die Reihe des Verblüfftseins an ihm. »Wahrhaftig,« gestand er, »das ist mir noch gar nicht eingefallen. Sehen Sie nun, wie gut es ist, daß ich Sie bei mir habe?«

»Sie wollen mich verspotten. Geben Sie mir bald zu arbeiten.«

»Erst noch die Ferien an der See. Am Stillen Ozean wollen wir Kräfte sammeln. Dann wieder vorwärts.«

Ein sonnenheller Tag lag über dem Land, als sie in Los Angeles die Küstenbahn bestiegen. Mächtigen Wellen gleich hoben sich die Felsklötze der Sierra Madre, in der Ferne abgelöst von den Steinwällen der Sierra Nevada. Und zwischen Gebirge und Meer dampften weithin die Äcker, die sich nicht genug tun konnten an Fruchtbarkeit, und langgeschirrte Gespanne von zehn Pferden oder Maultieren vor jedem Pflug zogen wie Riesenspielzeuge über die braune Scholle.

Plötzlich sprang Wegherr auf und riß Gertrud van Weert mit sich hoch. »Da,« rief er nur, »da – da!«

Da lag der Stille Ozean, und seine Wasser murmelten die Lieder Asiens, Australiens und Amerikas. Da lag er in seiner schimmernden Unendlichkeit.

Die beiden standen tief erregt. Meer – Meer!

In den Buchten, die das Meer ins Land gefressen hatte, schwammen Scharen großer Wildenten, Fischreiher harrten in philosophischer Ruhe im Uferwasser, Strandläufer rannten durch den feuchten Meeressand, ein Pelikan betrachtete mit verbogenem Hals seine eigene, wunderliche Schönheit. Austernboote trieben dahin. Fischkutter zogen mit weißen Segeln. Immer näher rückten die Felsen des Landes dem Ufer der See.

»Was sind das für seltsame braune Flecke, die auf dem grünen Wasser zu schwimmen scheinen?« fragte Gertrud van Weert.

»Sie zeigen die Petroleumquellen des Meeres an.«

Hart an die See drückten die abstürzenden Felsen die Bahn. Meer und Gebirg, wohin das Auge traf. Ein überwältigendes Bild.

Und nun eine Hafenstadt – Santa Barbara. Weithinaus winkte und leuchtete vom Hügel das rote Dach der zweitürmigen Missionskirche der Franziskaner. Blendende Dünen schichteten sich hoch gegen das grüne Meer, gegen den blauen Himmel. Unter Sirenengeheul verließ ein großer Ozeandampfer den Hafen und suchte längs den vier vorgelagerten Inseln San Miquel, Santa Rosa, Santa Cruz und Anacapa die offene See.

»Was ist Ihnen?« fragte Gertrud van Weert besorgt, und ihr Blick suchte des Begleiters zusammengezogene Stirn zu enträtseln.

Wegherr wandte sich vom Fenster ab.

»Es ist der Ozeandampfer,« murmelte er. »Der erste seit einem Jahr. Ich glaube fast, der macht mich heimwehkrank.«

Da saß sie still und blickte schweigend zum Fenster hinaus. Und sah das Schiff durch die Wasser fliegen und die Seeadler durch die Lüfte und ihre eigenen Gedanken mit denen des Mannes an ihrer Seite vereint hinterdrein.

Am Abend stiegen sie am kleinen Bahnhofe von Castroville um in das Bähnchen, das sie in kurzer Fahrt nach Del Monte brachte. Durch breite Alleen rasselte der Hotelwagen in verträumte Parkanlagen hinein. Und der Park und das Hotel in des Parkes Herrlichkeit – sie waren Del Monte. Ein Traum am Stillen Ozean.

Und sie träumten ihn, eine stille, leuchtende Woche lang. Sie träumten ihn in den Dünen der rauschenden See, die zu erzählen wußte von allen Herrlichkeiten der weiten Welt. Sie träumten ihn unter den schlanken Palmen und den schwerbelaubten Steineichen des Parkes. Sie träumten ihn, wenn ihre Blicke den Riesenfaltern folgten, die von Blume zu Blume schwankten, und dem lustigen Schwarm der winzigen, grellbunten Kolibris, die wie Edelsteine in den Lüften glitzerten und wie Bienen in den Blütenkelchen verschwanden; wenn die schwarzen Schwäne über den Weiher ruderten, aus dem die Zweige der Trauerweiden tranken, und wenn sie wanderten, immer weiter den Strand entlang, der im Rahmen der Berge und Wälder lag, und in dem ruinenhaften Städtchen Monterey Einkehr hielten, das unter den Spaniern und Mexikanern einst die Hauptstadt des Landes war.

Und jeder Morgen begann mit einem Schwimmbad im großen Badehaus, mit einem Dehnen und Strecken des Leibes in den Fluten des Meeres, und jeder Abend schloß mit einem stillen Gespräch, das aus den Fluten der Vergangenheit kam, bis die Seele sich dehnte und streckte in die Fluten der Zukunft hinein. In dieser Woche kamen sie sich nahe wie Geschwister und blieben es hinfort.

In der zweiten Hälfte des Oktober siedelten sie nach San Franzisko über.

»Ich habe zwar erst im November wieder zum Volke zu reden,« sagte Wegherr, »aber ich möchte die Wochen bis dahin mit der Ausarbeitung meiner Studien ausnützen, sonst überblicke ich den Stoff nicht mehr.«

»Ah,« entgegnete sie, und ihre Augen leuchteten auf, »meine Arbeit beginnt.«

»Ja, die Arbeit, Fräulein van Weert. Und wenn wir uns müde gearbeitet haben, fahren wir über die Bucht oder laufen hinaus und liegen am Strande wie zu Del Monte.«

Sie schlang die Hände ineinander, fest, ganz fest. So stark war ihre Freude.

Vor ihren Augen tat sich die Bai von San Franzisko auf. Das ›Goldene Tor‹ öffnete dem Meer den Eingang in die lebendurchpulste Bucht. Von steilen Hügeln kletterte die Stadt herab und umschlang das Juwel mit ausgebreiteten Armen.

In einer der Riesenkarawansereien nahmen sie ihre Zimmer. Und kaum hatten sie ihre Koffer ausgepackt und sich eingerichtet, als Gertrud van Weert an Wegherrs Tür klopfte.

»Schon wieder flügge? Wohin geht der Wunsch?«

»Ich möchte eine Schreibmaschine kaufen, eine kleine, wissen Sie, eine Reiseschreibmaschine. Die genügt uns vollständig und ist nicht teuer.«

»Mädel,« lachte er, »können Sie denn gar nicht abwarten, bis es an die Arbeit geht?«

»Nein, ich kann's nicht abwarten.«

»Na, denn in Gottes Namen. Obwohl's mir nicht halb so auf den Nägeln brennt wie Ihnen.«

Und er nahm Hut und Stock und suchte mit ihr das Geschäftsviertel auf, und die Reiseschreibmaschine wurde eingehandelt und ein Stoß Papier, daß ihn schier das Grauen faßte.

»Das soll ich alles vollschreiben?«

»Nein, ich!« erwiderte sie vergnügt und gab dem Verkäufer die Hoteladresse an.

»Es ist gut so,« sagte er, als sie draußen waren. »Bis Sie das für mich vollgeschrieben haben, haben wir beide graue Haare bekommen. Mir soll es recht sein.«

»Nicht spotten,« bat sie. »Jetzt erst ist mir ganz, ganz wohl. Und Sie verstehen mich.«

»Ich verstehe Sie, Fräulein van Weert. Aber morgen fahren wir erst auf diese Märchenbucht hinaus, die so blau ist wie das Wasser von Capri.«

Sie nickte übermütig. »Morgen, ja, morgen, wenn wir gearbeitet haben.«

Und ihr Übermut steckte ihn an, daß es ihm ganz schaffensselig in allen Sinnen wurde.

Er war eine glückliche Schaffenszeit. Sein Arbeitsstoff war geordnet, und die Gedanken flogen ihm zu wie Vögel, die ihr Nest suchen. Knapp und klar baute er seine Sätze auf, zog er die Schlußfolgerungen, daß sie wie Scheinwerfer die Wege beleuchteten, die in das Land der Zukunft führten. Und während er sprach, hörte er die Tasten unter ihren Fingern schwirren, sah er ihre schlanken Schultern sich leise heben und senken und das ernste Gesicht sich röten im Eifer der Arbeit, in der Freude der Mitarbeit.

Oft stockte er, brach im Satz ab und besprach lebhaft eine Frage mit ihr, da sie gewisse Erscheinungsformen des amerikanischen Lebens aus nächster Berührung und langjähriger Betrachtung kennen gelernt hatte. Fand sich bestätigt, was er meinte, so führte er ohne weiteres den Satz zu Ende. Wußte sie aber eine Antwort zu geben, die ein schärferes Licht warf und eine Seite beleuchtete, die noch im Dunkel geblieben war, so griff er sofort die Antwort auf, durchdrang sie mit heißer Forscherlust, trieb seinen Stollen wie ein Bergmann und pochte das Gold aus dem Gestein.

Und wieder schwirrten die Tasten unter ihren Händen, färbte sich ihr Gesicht dunkler und bog sich ihr schlanker Hals nach vorn, als wollte sie sich unsichtbar machen in ihrer Arbeit.

»Wieviel Sie wissen und begriffen haben,« sagte er.

»Sie holen es nur aus mir heraus,« erwiderte sie, »sonst wüßte ich es nicht.«

»Nein, nein,« beharrte er, »es ist schon so. Ich habe mich an Ihnen nicht verkauft.«

Und aufs neue formten sich seine Gedanken zu Sätzen, und die Worte reihten sich auf dem Papier wie Gedanken in Wehr und Waffen.

Es war eine glückliche Schaffenszeit.

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ich ohne Sie überhaupt habe fertig werden können,« sagte er am Schluß eines Arbeitstages. »Hätte ich Sie doch sofort mit auf die Reise genommen! Damals – wissen Sie noch, als Sie den jungen Ladies das Heideröschen vortrugen, und wir nachher auf dem Campus spazierengingen, bis wir Abschied nahmen und Sie allein auf dem öden Felde standen und mit den Augen in die Ferne starrten, die ganz krank waren vor Heimweh.«

»Das haben Sie gesehen? Sie waren doch schon so weit.«

»Ich brauchte Ihre Augen nicht mehr zu erkennen. Die Frauengestalt, die da sturmverweht auf dem einsamen Felde stand, war die Verkörperung des Heimwehs. Ich habe das Bild nicht vergessen, Fräulein van Weert. Und nun sagen Sie mir, ob es heute noch ist wie damals.«

Sie hatte den Schutzdeckel über die Schreibmaschine gelegt und die beschriebenen Bogen geordnet. Jetzt wandte sie sich ihm zu. In ihren dunklen Mädchenaugen war kein Geheimnis zu lesen.

»Weshalb heute davon sprechen?« fragte sie leise. »Es schläft alles so schön.«

»Und eines Tages wird es wieder erwachen?«

»Ja,« sagte sie und zwang ihren Atem, »eines Tages wird es wieder erwachen. Aber es ist ja noch nicht so weit.«

»Ist es – ist es das Heimweh nach Deutschland?«

Die Hände, die die Bogen hielten, zitterten unmerklich. Aber ihr Gesicht erschien ihm plötzlich so blaß, daß er schnell auf sie zutrat.

»Was haben Sie? Ich wollte Sie doch nicht quälen. Es ist doch nur rein brüderliches Mitgefühl, das mich alles das fragen läßt.«

»Vielleicht,« erwiderte sie wie aus einer Ferne, »ist es auch Deutschland. Ich kann es nicht sagen, denn ich weiß ja nicht, was ich dort finden werde. Finden. Das ist es. Ich bin wie auf der Suche. Ich suche etwas – etwas so Schönes, daß ich es wohl nie finden werde. Etwas, dem man sich ganz aufopfern könnte, um doch sich selbst erst zu gewinnen. Etwas, das unter allen Himmelsstrichen so schön ist wie die Heimat.«

»Was ist das ...?« fragte Wegherr bewegt.

»Ein Mädchentraum,« sagte sie, schüttelte den Kopf und reckte sich in den Schultern. »Torheit. Es ist Feierabend.«

»Ja, Feierabend,« nickte er. »Das gehört auch zu den Dingen, von denen wir träumen. Ich wenigstens. Ich – ich! So, und nun laufen Sie in Ihr Zimmer, holen Sie Mantel und Hut und kommen Sie mit einem Lachen zurück. Wir fahren auf die Bai hinaus.«

Nach Minuten war sie zurück, in der alten Frische und Spannkraft. Und sie hielt mit ihm Schritt, als sie die Straße hinabeilten, um den Dampfer zu erreichen, der sie hinüberbrachte nach Berkeley, dem berühmten Universitätsstädtchen Kaliforniens. Sie kletterten die Straßen hinauf und umkreisten die Universitätsgebäude. Und sie sahen den Studenten zu, die mit Büchse und Seitengewehr zum militärischen Exerzieren antraten und unter Hurra und Hörnerklang gegen die Universitätsgebäude anstürmten, als säße dort ihr grimmigster Feind. Aus den Treibhäusern strömte der schwere Duft seltsamer Orchideen, und als sie sich wieder wandten, lag die Bai wie eine azurne Schale und die tiefblaue Glocke des Himmels über ihr.

»So sah ich den Golf von Neapel zum erstenmal,« sagte Wegherr, »so wunderblau, und die fernen Inseln schimmerten wie Smaragde. Herrgott, wie mir das Herz aufging.« Und er begann zu erzählen von seinen Fahrten durch hie klassischen Länder und die Meere der Alten, und er erzählte noch, als sie längst wieder auf dem Dampfer standen, über die Brüstung gelehnt, und im Abendschein die Inseln auftauchten und schwanden, und durch das im Sonnenrot prunkende Goldene Tor die Wasser des Stillen Ozeans wanderten und wanderten hinein und hinaus.

Von den Stadthügeln San Franziskos blitzte ein Licht über die Bai. Hunderte Lichter jetzt, Tausende. Wie ein leuchtendes Märchengebilde lag die gewaltige Stadt über dem geheimnisvollen Wasserdunkel.

In einer italienischen Garküche saßen sie bis spät in die Nacht, ließen sich italienische Gerichte zubereiten und tranken roten Chiantiwein. Um sie her wirrte und wogte die Unterhaltung in allen Sprachen. Lebhaft, leidenschaftlich, aufblitzend wie Klingen und lachend wie helles Knabenlachen. Wegherr und Gertrud van Weert blickten sich an.

»Kalifornien ist nicht Amerika,« warf er ihr zu. »Kalifornien ist – Kalifornien. Gewiß, dasselbe Blut vom Stillen Ozean bis zum Atlantik. Allerweltsblut. Hier aber: in ein Temperament getaucht. Was waren das für Kerle, die im Goldfieber nach Kalifornien strömten, die San Franzisko aus der Erde stampften! Abenteurer, Tollkühne, Leute, die nichts zu verlieren und alles zu gewinnen hatten. Heute arm, morgen reich, übermorgen wieder beim Anfang. Einerlei, wenn sie nur die Stunde packten und auspreßten wie eine Zitrone und in ihrem unbändigen Freiheitsdrang den Teufel zu fragen brauchten nach Sitte und Gesittung. Das ist natürlich längst anders geworden, aber die leichtere und heißere Auffassung des Lebens hat sich doch von diesen alten Abenteurerseelen vererbt auf die Kinder und Enkel und sie zu fröhlichen Temperamentsmenschen gemacht.«

Gertrud van Weert saß mit glänzenden Augen. Sie lauschte in das Gewirr der Gespräche hinein und suchte die Gebärden zu erforschen.

»Wie schön ist es doch, alles das ergründen zu können, ergründen zu dürfen. Plötzlich sieht man dem Leben bis ins Herz.«

»Ja, es ist wahr.«

»Früher sah ich nur Gesichter, hörte ich nur Worte. Jetzt sehe ich hinter den Gesichtern die Menschen, höre ich hinter ihren Worten lange Geschichten, die sie verschweigen. Es ist mir oft, als ob ich früher blind und taub gewesen wäre, so schwillt das Leben jetzt gegen mich an. Ja, wirklich, ich lebe erst jetzt. Und diese Zeit mit Ihnen hat mir dazu verholfen.«

»Schwärmerin,« erwiderte er, »Schwärmerin.«

»Ist das schwärmen, wenn man das Sprechen lernt?«

Ein andermal lenkten sie am Feierabend ihre Schritte nach Chinatown, dem Chinesenviertel der Stadt. Er reichte ihr seinen Arm, als sie die engen, übel beleumundeten Gassen zwischen den hohen Miethäusern durchstreiften, und sie fühlte sich so sicher an seiner Seite, als spazierten sie über die Hauptstraßen der Stadt. Die schmutzigen Häuser waren mit bunten Lampions geschmückt wie verkommene Dirnen mit bunten Steinen, und in den kleinen Theatern wurde das Ohr von dem Mißklang schreiender Musikinstrumente gemartert, während das Auge im Farbenglanz der Bühnengewänder schwelgte. Die Handlung des Stückes war langweilig und kindlich, aber die Zuhörerschaft war ein Theater für sich, die hageren Kulis, die eben erst der Heizraum eines Schiffes ausgespien hatte, die feisten Kaufleute, die buntgekleideten Weiber und bezopften Kinder, die alle in Entzücken schwammen und sich in den Tälern des Jangtse wähnten oder in den Städten der ›großen Ebene›.

»Wissen Sie auch,« fragte Wegherr seine Gefährtin, als sie ihre Wanderung durch das Chinesenviertel fortsetzten, »was einer der lohnendsten chinesischen Einfuhrartikel ist? Nein, Sie kommen nicht darauf. Es ist nichts anderes als Erde, ganz gewöhnliche chinesische Erde. So sehr hängen die Söhne des himmlischen Reiches an ihrer Heimat, die sie wegen der Übervölkerung und aus Nahrungssorgen gezwungen verlassen, daß sie wenigstens in der Erde der Heimat begraben zu sein wünschen. Darum lassen sie die heimische Erde übers Meer zu sich kommen, da sie nicht mehr zu ihr gelangen können.«

»Das ist ein ergreifender Brauch,« bekannte Gertrud van Weert. »Jetzt sind mir diese Menschen mit einem Male wertvoller geworden.«

»Auch der da?« fragte Wegherr lachend. »Achtung. Biegen Sie ihm aus. Er selber kann es nicht mehr. Er lebt im Unbewußten.«

Ein Zopfträger kam ihnen entgegen, mit gespensterhaftem Schritt, verwahrlosten Kleidern, die Augen im eingefallenen Gesicht stier und starr. Er zog an ihnen vorbei, ohne sie zu gewahren, ohne den Straßenlärm zu gewahren und das Gedränge der Menschen. Gleichgültig machten ihm die chinesischen Volksmassen Platz. Keiner drehte sich auch nur nach ihm um.

Unwillkürlich hatte Gertrud van Weert Wegherrs Arm fester ergriffen. »Was war das? Ein Kranker?«

»Der Kerl kommt aus einer Opiumkneipe. Er trägt den schönen Dusel heim, den er sich aus der Opiumpfeife gesogen hat. Nun ist er glücklich.«

Sie erschauerte in den Schultern. Und erschauerte aufs neue, als sie in einem der chinesischen Restaurants Platz gefunden hatten und aus Suppe und Ragouts allerlei unbestimmbare Dinge hervorholten, die den Schmausenden um sie her als größte Leckerbissen zu gelten schienen.

»Alles, was sich nicht wehrt, kommt hier in den Topf,« erklärte Wegherr lachend. »Dieses köstliche Gemüse ist weich gekochter Bambus. Aber am besten ist, Sie essen, ohne nach der Herkunft all der Leckereien zu fragen. – Sie können nicht? Sie schütteln sich? Schnell, nehmen Sie eine Schale von dem grünen Tee zu sich. Der ist wirklich ausgezeichnet und zaubert einen anderen Geschmack auf die Zunge.«

Aber sie atmete doch befreit auf, als das Mahl zu Ende war und bald das Chinesenviertel hinter ihnen lag.

»Sie haben sich ganz tapfer gehalten, Fräulein van Weert.«

»Das nächste Mal wird es besser,« entgegnete sie hastig. »Ich werde mich schon besiegen.«

Oft fuhren sie mit den steilen Kabelwagen die Straßen auf und ab und stiegen aus, wo sie Sehenswertes erhofften. Da gab es bald keine große Werft, kein Handelshaus und keinen Hafenspeicher mehr, die sie nicht besucht hatten, und saßen sie heute mit Deutschen zusammen, so fanden sie sich morgen unter Irländern, Mexikanern, Japanern oder selbst Filipinos. Es war ein ständiger Wechsel und ein immerwährender Vergleich.

Schon war es Mitte November geworden, aber die Natur kümmerte sich nicht um den Kalender. Es grünte und blühte weiter aus einem unerschöpflichen Kraftgefühl heraus.

Wegherr hatte seinen Vortrag ausgearbeitet, den er den Deutschen San Franziskos zu halten gedachte. Die Deutschen bildeten eine starke Kolonie, traten fest auf, waren stolz auf den Grundsatz der Freiheit und Gleichheit, und der Bäckermeister und Metzgermeister schlugen dem gelehrten Professor von Berkeley auf die Schulter, daß es krachte. Die Mitteilungen ihrer deutschen Vereine aber erschienen in englischer Sprache.

Noch einmal waren Wegherr und Gertrud van Weert hinausgefahren zum Golden Gate Park, dem herrlichsten Garten der Stadt mit dem Blick auf das Meer und die Felsen des Goldenen Tores. Die hohen Zypressen raunten ihre dunklen Sprüche in den Seewind, und in den Zweigen der Eukalyptusbäume rieselte es geheimnisvoll.

»Abschiedslieder,« sagte Wegherr nach einer Weile. »Das raunen sie immer, wohin wir kommen.«

»Aber dafür singt es in den Bäumen fern von uns schon wieder zum Empfang.«

»Weshalb? Es ist immer das gleiche. Der Schluß macht die Melodie, nicht der Anfang.«

Schweigsam schritten sie durch die Anlagen und sahen die tropischen Pflanzen nicht mehr, die sich ihnen sehnsüchtig entgegenstreckten. Sie hatten selber den Sehnsuchtsblick, wie ihn die kleine Japanerin hatte, die ihnen im Teepavillon die zerbrechlichen Schälchen kredenzte. Und es hielt sie nicht in der weichen Luft des Parkes, und sie fuhren hinaus in die herbere Luft der See und lagerten zwischen den Klippen und blickten lange hinüber nach den Seelöwenfelsen im blauen Wasser. Da lagen die Untiere wie vorsintflutliche Gebilde und ließen sich die Sonne auf den glitzernden Rücken scheinen, und ein speckiger Riese von gewaltigen Fleischmassen mühte sich immer wieder, aus dem Wasser emporzusteigen und seinen Lieblingsplatz zu erreichen, bis er sich schwerfällig von einer Woge hochtragen ließ und sich an den Felsen klebte wie eine feiste Schnecke.

Prall und heiß schien die Sonne hernieder, und der weiße Strand lag still und glühend. Ein paar Dampfer zogen vorüber. Nach Japan, nach Honolulu ging die Reise. Wegherr erhob sich schon wieder. Es war seit kurzem eine Unruhe in ihm.

»Man versteht sein eigenes Wort nicht,« entschuldigte er sich und hatte überhaupt nicht gesprochen. »Die Brandung donnert heut wie toll, und die Seelöwen brüllen noch lauter. Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir.«

Weiter und weiter gingen sie und warfen kaum einen Blick auf die starrenden Befestigungen des Goldenen Tores, die den Eingang in die San Franzisko-Bai schirmten, und ein jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

»Ich habe Ihnen den Sonntagsspaziergang verdorben,« sagte Wegherr, als sie in ihrem Hotel angelangt waren, »und ich kann Ihnen nicht einmal einen Grund dafür nennen. Sie müssen mir schon blindlings verzeihen.«

»Wollen wir arbeiten?« fragte sie und sah besorgt nach ihm hin.

»Ich bin das Arbeiten so satt wie das Spazierengehen. Man muß doch den Zweck einsehen, und den seh' ich plötzlich nicht mehr. Ich soll hier für das Wohl des Volkes sorgen und weiß nicht einmal in mir selber Bescheid. Arzt, hilf dir selber! Jawohl. Aber ich bin wohl nur ein Stümper.«

»Was haben Sie denn nur?« fragte sie mit zitternder Stimme.

»Ja, wenn ich es wüßte. Es ist doch nicht der Abschied von San Franzisko. Alles Bisherige erscheint mir nur so leer. Ich bin das alles so leid.«

»Nein,« sagte sie, »Sie wissen es nicht. Sie wissen nicht, wieviel Gutes Sie gewirkt haben, wie vielen tausend Menschen Sie ein Tröster und ein Helfer geworden sind und ein Heimatgruß.«

Er saß ganz still an dem Fenster, und sie nahm Hut und Jackett und ging leise hinaus.

Am nächsten Tage stand er vor den Deutschen San Franziskos, und seine Feuerseele strömte über in Worten und Bildern, die von dem Wagemut der Altvordern erzählten, den Altvordern, die ihr Leben nicht in die Schanze geschlagen hätten, damit die Enkel von den Renten lebten, sondern auf daß sie eine noch höhere Stufe des Herrschens erreichten und Höhenmenschen würden, wo sie nur wilde Bergkletterer gewesen wären. »Frei und gleich aber können wir nur werden, wenn wir uns von den stärksten Werten der Kultur befruchten lassen und in einem Reiche miteinander leben, in dem es auf die Schulterhöhe des Geistes ankommt. Denn der Geist ist der Herrschende, und der deutsche Geist soll es sein und kann es für euch allein nur sein, so wahr kein Fahnenflüchtiger unter euch sein will und wird. Es geht um mehr als um Gelderwerb und des Lebens Sorglosigkeit. Es geht um die Zukunftsfrage: Herr oder Knecht. Es geht um die Führerschaft! Der Bedientenrock des deutschen Michels ist zur Legende geworden im alten Vaterland. Wir sind Männer geworden hüben wie drüben, und darin laßt uns wetteifern in der Brüderlichkeit des Blutes, die allein zu Recht besteht, wollen wir vor unseren Müttern bestehen. Im Namen unserer Mütter – an die Front, Deutsche der ganzen Welt!«

Mit kalifornischer Leidenschaftlichkeit war man auf ihn eingestürmt, hatte man an seinen Armen und Händen gezerrt und ihn nicht freigeben wollen. Jetzt wurde Gertrud van Weert im Strome vorbeigeschoben. Sie lachte mit blitzenden Augen und nickte ihm zu. Dann saß er in einem Wagen, der vollgepfropft von Menschen war, und fuhr zum Bankettsaal. Und ein großer, dicker Herr zog ihn im Triumph von Tisch zu Tisch, schlug ihm schallend auf die Schulter und streckte die andere Hand gegen die Gäste aus: »Da habt ihr ihn, den berühmten Doktor, meinen Freund! Ich habe ihn hergebracht! Gebt mal ein Glas her!«

Sie waren nicht alle wie der große, dicke Herr, der viele Freunde und Gesinnungsgenossen hatte. Es waren auch andere, die sich erhoben und Wegherr einen Platz boten und mit ihm die riesenhaften Aufgaben besprachen, mit den neuesten Mitteln der Technik das Hinterland zu bewässern und das kalifornische Paradies zu vergrößern. Und wieder einmal sah Wegherr die Deutschen als Pioniere marschieren und ihre Spur verlängern quer durch Amerika von Ozean zu Ozean.

An einem Ecktischchen saßen zwei Männer wortlos beieinander. Sie warteten, bis Wegherr sich am späten Abend ihrem Tischchen näherte, standen auf und verneigten sich.

»Guten Abend,« sagte Wegherr und reichte ihnen die Hand.

Die beiden nannten ihre Namen. Es war ein Schiffskapitän und ein Maler.

»Sie haben den schönsten Platz, meine Herren. Hier ist es ruhig.«

»Wollen Sie uns die Ehre schenken, Herr Doktor? Wir rücken zusammen. Gesprochen haben wir den ganzen Abend noch nicht.«

Er saß bei ihnen und sah sie an. »Nicht gesprochen? Ist die Stimmung nicht danach?«

»Die Stimmung ist so groß, daß man nichts Gescheiteres tun kann als das Maul halten. Ihre Worte im Ohr, wollen wir an das alte Ende den neuen Anfang knüpfen.«

»Heißt das, daß Sie sich zu verändern gedenken? Wohin die Fahrt?«

»Nach Hause,« sagten die beiden wie aus einem Munde und staunten hinter ihren Worten her, als sähen sie sie leibhaftig werden.

Und die beiden schlichten Worte packten auch Wegherr, und er nahm sein Glas und stieß mit den stillen Heimfahrern an. »Auf Deutschland ... Und nun erzählen Sie mir, was Sie hergetrieben hat und was Sie wieder heimtreibt. Ich möchte mich mit Ihnen freuen.«

Da löste die Freude den beiden die Zunge, und sie rückten sich zusammen, und der Maler erzählte zuerst.

»Ich kam mit dreiundzwanzig Jahren nach Amerika und bin heute achtunddreißig. Fünfzehn Jahre habe ich mir hier das Leben um die Ohren geschlagen, und weiß Gott, anders als daheim. Ich bin Hamburger und studierte auf der Düsseldorfer Kunstakademie. Wir nannten das damals studieren. Aber wir stahlen dem Herrgott den Tag ab, lagen in den Kneipen, machten die Umgegend unsicher, prahlten gewaltig mit der Kunst und fochten mehr mit dem Mund als mit dem Pinsel. Die Akademie war ein Zopf, der Studiengang für Handwerker, und wir selber waren junge Meister, die sich die Bevormundung und Knechtung ihres Genies nicht gefallen ließen. Das bißchen Geld, das der Alte zu Hause sich absorgte, war bald vertan, die Schulden wuchsen; bald kreidete mir kein Mensch ein Glas Bier mehr an, und Wohnung und Atelier wurden mir auch gekündigt. Ein Dekorationsmaler bot mir an, bei ihm zu arbeiten, bis ich mich wieder erholt hätte! Pfui Teufel, der Kerl! Ein Künstler und Zinshäuser bemalen! So minderwertig war ich noch nicht geworden. Da waren noch andere Länder, und Amerika wartete auf mich! Als Zwischendecker kam ich herüber. Nach acht Tagen hatte ich nichts mehr zwischen den Zähnen als die eigene Zunge. Dann lernte ich das Arbeiten. Aus dem Effeff. Was ich in Düsseldorf als gemeines Gras verschmäht hatte, mußte ich hier als Heu verdauen. Ein halbes Jahr habe ich im Hafen von Neuyork Schiffe kalfatert und geteert, daß der Pinsel dampfte. Dann stieg ich eine Stufe höher auf der Leiter des Ruhmes und erhielt eine Stellung, in der es mir oblag, Wände und Decken zu tünchen. Zuerst wollt' ich es mit Teer. Der jähe Übergang zum Weiß war zu gewaltig. In den Abendstunden begann ich wieder zu skizzieren. Einige Zeitungen wurden Abnehmer, und ich konnte mir einen neuen Anzug kaufen. Dann entwarf ich Ornamente für meinen Arbeitgeber, künstlerisch und kühn, die er für verrückt erklärte und die ich eines Tages mit meinem letzten Mut in das Welthaus Tiffany trug, das die wundersamen Goldarbeiten liefert und die herrlichen Gläser. Der Direktor sah sie an und legte sie ruhig in seinen Schrank, den er ebenso ruhig abschloß. ›Morgen früh um acht,‹ sagte er, nickte und nahm seine Feder wieder auf. Am anderen Morgen um acht trat ich bei Tiffany als Angestellter ein. Zwei Jahre hatte ich vom Künstler bis zum Kunsthandwerker gebraucht. Heimlich rechnete ich mir aus, wie lange es wohl vom Kunsthandwerk bis zum Künstler dauern würde. Das wurde die große Hoffnung meines Lebens. Das blieb sie zwölf Jahre lang. Und in den zwölf Jahren sparte ich zwölftausend Dollar. Das reicht, um es in Deutschland noch einmal gründlich mit dem Studium zu versuchen. Nur noch diese Studienreise nach Kalifornien. Ich mußte doch Amerika gesehen haben. Und dann heim, heim, heim. Herrgott, ein deutscher Künstler werden!«

Wegherr stieß mit ihm an. Ein ganzer Freudenhimmel schwamm in den Augen des anderen.

»Sie werden es erreichen,« sagte er. »Jetzt wissen Sie, daß es auf die Arbeit ankommt und das Klingklanggloria nur die Begleitmusik zu spielen hat.«

»Deutschland,« wiederholte der Maler immer wieder, »Deutschland«.

Und sein Freund sprach das Wort nach, wie aus einem Traum heraus.

»Stöhnen Sie nicht, Kapitän, jetzt haben wir's bald.«

»Sie sind Schiffskapitän?« fragte Wegherr und wandte sich ihm zu.

»Jawohl, Herr Doktor.«

»Da kommen Sie doch sicher oft in einen deutschen Hafen?«

»Das letztemal vor sechzehn Jahren. Wie das so kommt, Herr Doktor, wenn man sich nicht beisammen hat.«

»Wie kam es denn, Kapitän? Darf man darüber sprechen?«

Der Kapitän trank sein Glas leer. »Es ist eine Frauenzimmergeschichte,« sagte er dann. »Es ist das Dümmste auf der Welt.«

Der Maler schenkte ihm ein. »Los, Kapitän. Ich habe auch nichts Gescheites gebeichtet.«

»Ich fahre nun schon seit sechzehn Jahren die Linie von San Franzisko,« berichtete der Kapitän. »Mit San Franzisko als Heimathafen. Nee, meine Absicht war das nicht. Ich hatte mein Examen mit Auszeichnung bestanden und träumte wohl davon, langsam zum ersten Offizier auf einem der schönen Kasten aufzurücken, die die Herrschaften zwischen Hamburg und Neuyork spazierenfahren, und später mal als Kapitän so einen Mordskahn selber zu kommandieren. Ich wohnte damals bei einer Zimmermannswitwe, die eine Tochter hatte. Und die Tochter enterte mich, als ich in der Examensfreude heimgesegelt kam, und warf mich aus dem Kurs. Gott, in dem Rausch! Man glaubt, die ganze Welt freut sich mit einem, und nun war's noch was Weibliches, wenn auch kein Staat mit ihr zu machen war; aber, wie gesagt, in dem Freudenrausch! Von Stund an ging die Jagd los. Ich war vierter Offizier und mußte mich höllisch zusammenreißen, um den Ansprüchen auf gute Führung zu genügen. Das tat ich zur Zufriedenheit; aber ob mein Schiff ankam oder absegelte, die vertrackte Dirn stürmte als erste an Bord und betrug sich wahnsinnig wie meine verlobte Braut, daß sich Mannschaften und Passagiere die Seiten hielten, und eines Tages brachte sie einen lütten Jungen mit und schrie allem Volk zu, daß ich ihr die Ehe versprochen hätte. Und das war nicht wahr und bei Gott gelogen, und sechs Jahre älter als ich war sie auch und hinreichend gewöhnlich.

Sehen Sie, meine Herren, man soll sich auch, wenn man sein Examen bestanden hat, beisammen haben, oder es ist alles für die Katz. Daran denkt man nur nicht immer, wenn man jung ist, und nachher kann man für eine unsinnige Stunde ein Lebenlang die Verzugszinsen bezahlen. Meine großen und stolzen Träume wurden Schlickwasser. Ich bat um eine Versetzung ans Ende der Welt und konnte Gott danken, daß ich hier zu der Linie kam. Denn nach Honolulu reiste sie mir nicht nach, und die Neger hätten sie doch nicht verstanden. Aber als Ehrenmann habe ich Jahr für Jahr einen Teil meines Gehaltes nach Deutschland geschickt und mich lieber krumm gelegt, als daß ich es an etwas hätte fehlen lassen; und doch war es ein riesengroßer Schwindel, den man mit meiner Gutmütigkeit getrieben hatte, denn als ich mich vor knapp einem Jahr mal durch das Konsulat nach dem lütten Jung erkundigte, den sie mir vor sechzehn Jahren an Bord getragen hatte, erhalte ich nach ein paar Monaten die Auskunft, daß der lütte Jung schon vor vierzehn Jahren verstorben sei und die Zimmermannsdirn ebensolange schon mit einem mecklenburgischen Heringsfischer verehelicht dahinlebte. Das Geld aber hatte sie trotzdem ruhig weiter genommen. Meine Herren, das wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre. Denn sie hatte mir für die paar Groschen auch die Heimat genommen.«

Er nahm sein Glas und leerte es auf einen Zug.

»Weg damit. Das war das erste- und letztemal, daß ich noch ein Wort an das, was war, verschwendet hab'! Ist nicht deutsche Seemannsart, meine Herren. Wir haben vorneweg über die Nase Auslug zu halten, geradeaus und nix als geradeaus. Sehen Sie, und nun krieg' ich doch noch mein Schiff, und im Frühjahr mache ich als Überzähliger die Fahrt von Neuyork nach Hamburg, und dann soll das Leben anfangen. Prosit, meine Herren. Das Leben fängt immer dann an, wenn man die Augen aufmacht.«

Wenn man die Augen aufmacht, dachte Wegherr noch, als er längst in seinem Hotelzimmer lag und an die Heimatfrohen zurückdachte. Der Satz ist so kindisch einfach, und doch kann ich ihn bei all meiner Wissenschaft nicht erlernen. »Wenn man die Augen aufmacht! ...«


 << zurück weiter >>