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»Man erzählt, o König, daß einmal ein Vogel hoch gen Himmel stieg und sich dann auf einen Stein mitten in einem fließenden Gewässer niederließ. Während er nun dort saß, trieb das Wasser das Aas von einem Menschen an den Stein heran, bis sich dasselbe an seine Seite gelegt hatte, wobei es auf der Oberfläche schwamm, da es aufgedunsen war. Infolgedessen trat der Vogel an das Aas heran und nahm es in Augenschein, wobei er gewahrte, daß es ein menschlicher Leichnam war, an welchem die Spuren von Schwerthieben und Lanzenstichen zu erkennen waren. Da sprach der Vogel bei sich: »Dieser Erschlagene war ein Missethäter, gegen den sich eine Schar zusammengethan hat; sie haben ihn erschlagen und haben nun Ruhe vor ihm und seiner Bosheit.« Und der Vogel hörte nicht auf sich über jenes Aas höchlichst zu verwundern, bis er sah, daß von allen Seiten Geier und Adler dasselbe umschwärmten. Als er dessen gewahr wurde, sprach er, von großer Furcht gepackt: »Ich vermag es nicht mehr, an diesem Orte zu bleiben.« Dann flog er auf, um sich nach einem andern Orte umzusehen, wo er sich niederlassen könnte, bis jenes Aas verzehrt wäre, und die Raubvögel fortgeflogen wären. Nach längerm Umherfliegen fand er einen Baum mitten in einem Fluß, auf den er sich, bekümmert und betrübt über die weite Trennung von seiner Heimat, niederließ, indem er bei sich sprach: »Der Kummer hört nicht auf mich zu verfolgen, wo ich schon der Sorgen ledig war, als ich jenes Aas erblickte und mich darüber mächtig freute und sprach: Das ist eine Gabe, die Gott mir zugetrieben hat. Nun ist meine Freude in Kummer und meine Fröhlichkeit in Trauer und Sorge verkehrt, und die Raubvögel packten und zerrissen es und schnappten mir meine Beute fort. Wie kann ich hoffen in dieser Welt wohlbehalten zu bleiben und mich auf sie zu verlassen? Heißt es doch auch im Sprichwort: Die Welt ist die Wohnung dessen, der keine Wohnung hat; wer keinen Verstand hat, der läßt sich durch sie betrügen und baut auf sie im Vertrauen auf sein Gut, seine Kinder, sein Volk und seine Familie. Und der von der Welt Bethörte verläßt sich immerdar auf sie und giebt sich seinem Wahn auf der Erde hin, bis er unter ihr liegt, und bis die Menschen, die ihm am teuersten sind und ihm am nächsten stehen, den Staub auf ihn streuen. Nichts aber dient einem Jüngling besser als daß er das Mißgeschick der Welt geduldig erträgt, und so hab' auch ich meine Stätte und meine Heimat verlassen, wiewohl es mir schwer fiel, mich von meinen Brüdern und meinen Gefährten zu trennen.«
Während der Vogel in dieser Weise seinen traurigen Gedanken nachhing, kam plötzlich eine männliche Schildkröte im Wasser zum Vogel herangekrochen und begrüßte ihn und sprach: »Mein Herr, was hat dich von deinem Wohnort fortgetrieben?« Der Vogel antwortete: »Die Einkehr der Feinde daselbst; kann doch der Verständige nicht seines Feindes Nachbarschaft ertragen, und wie schön lautet ein Dichterwort:
Kehrt der Bedrücker in eines Volkes Land ein,
So bleibt den Bewohnern nichts übrig als fortzuziehen.«
Da sagte die Schildkröte: »Steht die Sache so, wie du es beschrieben hast, und verhält es sich nach deinen Worten, so will ich immerdar dir zu Händen sein und mich nimmer von dir trennen, um deine Bedürfnisse zu besorgen und dir treu zu dienen, da es doch heißt, daß keiner verlassener ist als der Fremdling, der von seiner Sippe und seiner Heimat geschieden ist, und weiter, daß kein Unglück der Trennung von den Guten gleichkommt; doch der beste Trost für den Verständigen bleibt Geselligkeit in der Fremde und Geduld im Kummer und Unglück. Und so hoffe ich, daß du meine Gesellschaft preisen wirst, denn ich will dir ein Diener und Helfer sein.«
Als der Wasservogel die Worte der Schildkröte vernommen hatte, sagte er zu ihr: »Fürwahr, du hast wahr geredet, und, bei meinem Leben, seitdem ich meinen Wohnort verlassen und mich von meinen Brüdern und Freunden getrennt habe, habe ich nur Leid und Kummer in der Trennung gefunden; in der Trennung liegt eine Lehre für alle, die sich belehren lassen, und ein Grund zum Nachdenken für alle Nachdenkenden, und der Mann, welcher keinen findet, der ihn über den Verlust seiner Gefährten tröstet, ist immerdar von der Freude gemieden, und ewig bleibt das Leid ihm zur Seite. Dem Verständigen bleibt nichts anderes übrig als sich in allen Lagen der Sorgen zu entschlagen, indem er an seinen Brüdern Trost sucht und sich mit Geduld und Standhaftigkeit wappnet, zwei hochgepriesenen Eigenschaften, welche wider der Zeiten Schicksalswechsel helfen und in allen Dingen Angst und Furcht abwehren.« Da sagte die Schildkröte: »Hüte dich vor Sorgen, denn die Sorge verdirbt dir dein Leben und raubt dir deine Mannheit.«
In dieser Weise unterhielten sich die beiden, bis daß der Wasservogel zur Schildkröte sagte: »Nimmer werd' ich's lassen, mich vor den Wechselfällen der Zeit und dem Unheil des Schicksals zu fürchten.« Als die Schildkröte diese Worte des Wasservogels vernahm, trat sie an ihn heran, küßte ihn zwischen die Augen und sagte zu ihm: »Nimmer möge die Gesellschaft der Vögel die Belehrung durch deinen guten Rat entbehren! Wie wolltest du dich mit Sorge und Kummer beladen?«
So ließ die Schildkröte nicht ab das Herz des Vogels zu beruhigen, bis er seinen Frieden wieder gefunden hatte. Dann flog er wieder zu der Stelle, an welcher das Aas lag. Als er aber dort angekommen war, sah er weder etwas von den Raubvögeln noch von jenem Aas, außer den Knochen, so daß er wieder zu der Schildkröte zurückkehrte, um ihr mitzuteilen, daß der Feind seine Wohnstätte verlassen hätte, und sagte zu ihr: »Ich möchte gern zu meiner alten Stätte zurückkehren und mich an meinen Freunden erfreuen, denn der Verständige erträgt nicht die Trennung von seiner Heimat.« Da ging die Schildkröte mit ihr zu jener Stätte fort, und da sie nichts fanden, wovor sie sich zu fürchten gehabt hätten, blieben beide auf jener Insel wohnen. Während aber der Vogel in Sicherheit und Freude, Fröhlichkeit und Unbesorgtheit lebte, trieb ihn das Schicksal einem hungrigen Falken in den Weg, der seine Fänge in ihn hieb und ihn tötete, so daß ihm seine Vorsicht nichts genützt hatte, da sein Termin abgelaufen war. Schuld jedoch an seinem Tode war seine Nachlässigkeit in Gottes Lobpreisung; und man sagt, daß des Wasservogels Lobpreisung Gottes also lautete: »Preis unserm Herrn, für das, was er denkt und lenkt! Preis unserm Herrn für das, was er beschert und verwehrt!« Das war die Geschichte vom Vogel.«
Da sagte der König: »Schehersad, du hast mir durch deine Geschichte noch mehr Ermahnungen und Lehren zu teil werden lassen; weißt du aber nicht noch irgend eine Tierfabel?« Schehersad hob darauf an: