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Katerinuschka, Mütterlein

Es war eine Winternacht mit klarem Sternenlicht, die den Einsamen weinen macht, ohne daß er weiß, warum. Den bekränzten Schnapspapst, der soeben durch Moskaus Straßen geführt worden war, hatte das Volk schweigsamer begrüßt als sonst, und mitten unter den losgelassenen Possen der Butterwoche flüsterte man von Haß, Verschwörung und Gefangenschaft. Wo zwei Menschen sich unbeachtet trafen, verfluchten sie den Zaren. Die Pfaffen murmelten bei ihrem Weihrauchfaß, daß er Fleisch esse in den Fasten, und daß er die römischen Götter verehre statt der Heiligen. Die Bojaren klagten, daß sie des Nachts nicht in Frieden schlafen könnten, sondern Arbeitssklaven geworden seien, die ganz Rußland umbauen müßten vom untersten Keller bis hinauf zur Turmhaube. Sie erzählten, daß er wahnsinnig geworden sei. Saß er nicht im Reisewagen oder beim Mikroskop, dann heilte er Kranke wie ein Arzt, machte Stiefel wie ein Schuhmacher, Schiffe wie ein Schiffsbaumeister, Elfenbeinsachen wie ein Schnitzer, oder er hieb auch Köpfe ab wie ein Henker. Nach einem solchen Tagewerk hatten sie mitunter bei der Tafel ihn weggehen und unter die Musikanten sich setzen sehen, und er hatte die Trommel mit einer Geschicklichkeit gerührt, daß auch in dieser Kunst kein anderer ihm hätte Meister sein können. Die Kaufleute murrten an ihren Tischen über die langen Kriege, und die Bauern rissen erbittert an ihren dicken Röcken und verbargen ihre heiligen, abrasierten Bärte in der Tasche.

Je weiter die Nacht vorrückte, um so funkelnder blitzten die Sterne, und Alexei, des Zaren Sohn, saß einsam in seiner Kammer, die in der Decke gewölbt und ganz und gar scharlachrot, mit grünem Laubwerk bemalt, war. Ringsherum auf dem Boden lagen theologische Werke und kleine dünne Bücher mit frommen Heiligenlegenden. Er hielt noch die Feder über einen halbgeschriebenen Brief an seine Affrosinja, die rothaarige finnische Sklavin, aber die Arbeit ermüdete ihn, und die Feder sank. Er vergaß, daß man den Degen und sein Erbrecht aufs Reich von ihm genommen hatte. In dem steifen Seidenpelz der früheren Zaren und den kleinen türkisbesetzten Stiefeln glaubte er in seinem abgesperrten Schlosse die Arbeiten des Hofgoldschmiedes zu prüfen und mit gelahrten Mönchen zu reden. Schon träumte er, in die Kapelle hinunterzugehen und seine Andacht in der Winterdämmerung unter dem starrblickenden Christuskopf des Gewölbes zu verrichten, aber es breitete sich weit um ihn ein altertümliches Reich, woselbst die Dorfglocken läuteten, wo man spät aus dem Bett stieg und früh das Licht löschte. Da stieg ihm des Zaren Peter Blut zu den Schläfen, und er bildete sich ein, den Abend mit einem Trinkgelage zu enden und die geleerten Zinnkrüge dankbar den jubelnden Bojaren an die Schädel zu schleudern.

Die Tür öffnete sich hinter ihm, aber er glaubte, daß es die Diener seien, und blieb ruhig bei seinem Grübeln sitzen. Erst als er Schritte und Lachen in den Gängen hörte, wandte er sein mageres und graubleiches Antlitz mit den eingefallenen Wangen und den klugen Augen. Es war der Vater. Es war der Zar, der mit seinen Nachtgästen kam, und zwischen sich trugen sie einen langen Tisch, auf dem zehn brennende Wachslichter in gleich viel Brote eingesteckt standen. Wie oft hatte Alexei nicht Medizin genommen, um krank zu werden und der Anwesenheit bei Tafel zu entgehen! Wie ängstlich war er nicht mit seiner Affrosinja verkleidet bis hinunter zu den Weinbergen Neapels geflohen, um sich vor diesem Vater zu verstecken, der nun den Stock über seinem Kopfe hob! Er ging rückwärts nach der Ecke.

»Alexei,« befahl der Vater, »du wirst der Wirt sein heute nacht. Setz dich mir gegenüber!«

Im selben Augenblick, da alle sich setzten, gab der Zar seinem nächsten Nachbar eine schallende Ohrfeige und rief:

»Laß sie um den Tisch herum weiter gehen! Keiner glaubt, wie sehr solch große Herren, die hier mit einem Fürsten zusammensitzen, eine Ohrfeige verdienen.«

Die Ohrfeige flog aus Herzensgrund Schlag für Schlag um den Tisch herum bis zu dem Adjutanten Wjasemskij, der der nächste Nachbar des Zaren auf der anderen Seite war. Es war ein ganz junger und noch unerfahrener Offizier, und mit halberhobener Hand erbleichte er und sah starr auf den Zaren. Es war niemand bei dem Gelage, zu welchem der Zar eine solche Zuneigung gefaßt hatte, wie zu diesem gelblockigen Jüngling, aber das Gerücht hatte in der Nacht geflüstert, daß er sich dem Sohne und den Aufrührern angeschlossen habe. Deshalb wollte der Zar ihn prüfen, und mit der Wut Iwans des Schrecklichen in den Augen und der Gutmütigkeit eines moskowitischen Handwerkers im Lachen sagte er zu ihm:

»Wjasemskij, mein Junge. In meinem eigenen Reiche wagt bald niemand mehr meinen Namen auszusprechen, ohne mich zu verfluchen. Hier ist meine Wange. Bei Gott und seinem eingeborenen Sohne verlange ich Aufrichtigkeit von dir! Gibst du den Lästerern recht, so schlage zu! Ich verdiene dann nichts Besseres als die anderen. Was ich begehre, ist Wahrhaftigkeit ... und ich werde dir danken.«

Wjasemskij erhob sich und schob den Stuhl zur Seite, als ob er knieen wollte, aber dann heftete er seinen Blick auf die Lichtflamme und flüsterte:

»Meine Hände sind unrein. Laß sie mich erst waschen.«

Der Zar bejahte mit schwermütiger Kopfbewegung und sah ihm nach.

»Auch er! Ich hatte es anders erwartet.«

Er hielt den leeren Becher vor sich in der Luft, und die Zarin, die ihn den ganzen Tag verstohlen beobachtet hatte, kam in einem schlichten blauen Gewand herein und setzte sich auf den leergewordenen Stuhl. Er legte seine Hand auf ihren Arm und wandte sich zu Alexei:

»Nun, warum schenkst du dir nicht ein und trinkst uns zu? So, ja. Noch einmal! Und noch einmal! Steh auf! Schneller! Nein, ihr anderen sollt sitzen, aber du sollst stehen. Du sollst Rede stehen. Ist es wahr, daß die Mönche dir einreden, du seiest des ganzen Volkes Liebe und Hoffnung?«

Alexei stand an der anderen Seite des Tisches, wie vom Fieber geschüttelt, und sein faltiges Gesicht wurde aschgrau und alt. Der Zar sah aus wie sein Sohn, und bei jeder neuen Frage drehte Alexei das lange Spitzenhalstuch immer fester um die Finger, aber er antwortete nicht ein Wort.

»Ist es wahr, daß du mich hassest, mich, deines Lebens Ursprung, daß du sehnsuchtsvoll meine Todesstunde erwartest, um meiner Tage und Nächte Werk umwerfen zu können? Ist es wahr, daß dein Beichtvater dir zugeredet hat, ein Märtyrer für das Volk zu werden. Ach, es gibt andere Märtyrer in der Welt als die, welche ihr Blut für das Volk auf dem Markte lassen! Ich wollte für euch alle ein Vater und Wohltäter sein... aber wer kann sagen, daß er eine Goldtafel aus den Himmeln herabgeholt hat, auf der es eingeritzt steht, daß sein Vollbringen das Rechte war? Vielleicht werdet ihr einmal rufen, daß der Tor, in dessen Adern das Blut gefault ist, der Mann ist, dessen ihr zu eurer Glückseligkeit bedürft. Aber ihr sollt vergebens rufen. Das Leben, das ich angezündet habe, kann ich auch auslöschen. Katerinuschka, Mütterlein, was habe ich getan, um so einsam zu werden?«

Er beugte sich mit geschlossenen Augen vornüber gegen den Arm der Zarin und lachte weinend, so daß die Tafelgäste einer nach dem anderen aufstanden und sich hinter die Zarin auf die Seite schlichen. Sein Lachen klang so gutmütig und warm, wie sie nie eines gehört hatten, außer vielleicht in einem ehrsamen Hüttchen auf dem Lande, aber sie kannten seit langem dieses Lächeln, über das sich Schritt für Schritt Verzweiflung und Verachtung breitete, und sie fürchteten für ihr Leben.

»Katerinuschka, mein Kind ... wo man im ganzen Europa eine Denkmünze schlägt oder eine Flugschrift druckt, da macht man mich zum Narren! Was habe ich getan, um so einsam zu werden? Jener ist ein ebenso einsamer Mensch, der jetzt in Schweden seine Truppen sammelt und sie gegen die norwegischen Berge führt ... Warum zaudert der Adjutant? Ich sehne mich danach, zu sehen, ob unter allen sich nicht einer findet, der ehrlich und offen genug ist, mir zu zeigen, wie weit er mich liebt oder nicht. Möge er zuschlagen.«

Er hob das verweinte und lachende Gesicht, aber die Zarin strich sanft schmeichelnd über sein krauses Haar und sang halblaut nach einer Volksweise mit dünner und längst gebrochener Stimme:

»Den Großen dient Knecht und Gefolge zur Wacht:
Doch einsam gleich Bettlern der Heide sie liegen,
Wenn alle die Englein zur Dämmerung sacht
Geringe und Kleine in Schlummer wiegen.«

»Ich frage nach Wjasemskij, dem Adjutanten. Ist er ein armseliger Tropf, der durchgegangen ist, weil er sich nicht getraut, den Zaren zu schlagen? Oder steht er draußen vor der Tür und zaudert? Oder vielleicht ... Liebt er mich?«

Menschikow, der sitzen geblieben war, erhob sich mit seiner großen, gepuderten Perücke und seinen Ordensbändern.

»In alten Tagen, als ich noch ein Zuckerbäckerjunge war, der seine Pasteten durch die Straßen Moskaus trug, da konnte ich dich froh machen, Väterchen, wenn ich sprach. Ich konnte meine Geschichten so ausschmücken, daß du glaubtest, fürchterliche Eulen und Uhus vor dir hereinflattern und drollige Zwerge auf den Händen gehen zu sehen, aber wir sind alt geworden, beide, du, mein Wohltäter, und ich ... Ich habe deinem kaiserlichen Befehl zu gehorchen.«

Er ging hinaus in den Gang, und der Zar rief ihm nach:

»Weshalb zaudert der Adjutant, sage ich? Waren seine Hände so unrein, daß er so lange braucht, sie zu waschen? Das Waschwasser würde mich zu sehen gelüsten.«

Als Menschikow zurückkam, trug er ein großes, bauchiges Zinngefäß in den Händen, zur Hälfte mit einer roten Flüssigkeit gefüllt, die einem schäumenden Weine glich.

»Dein Adjutant Wjasemskij ist tot,« sagte Menschikow. »Er wusch seine Hände in dem eigenen Herzblut.«

Der Zar schloß wieder die Augen und beugte sich über den Arm der Zarin, und während sie sein Haar strich und zwischen ihren Fingern kämmte, hörte sie ihn flüstern:

»Er liebte mich nicht ... er fürchtete mich nur ... Katerinuschka, Mütterlein!«


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