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Die alte Gunnel

In einem Gewölbe der Festung zu Riga saß die achtzigjährige alte Gunnel und spann. Die langen Arme waren stark geädert und sehnig, die Brust war mager und flach wie die eines Greises. Einige dünne, weiße Strähnen hingen über die Augen herunter, und sie hatte das Tuch wie eine runde Mütze um den Kopf gebunden. Das Spinnrad schnurrte, und ein Trompeterjunge lag auf dem Steinboden vor dem Feuer.

»Großmutter,« sagte er, »kannst du nicht was singen, wenn du spinnst? Ich habe dich nur immer schimpfen und schelten hören.«

Sie wendete ihm einen Augenblick ihre müden und bösen kalten Augen zu.

»Singen? Vielleicht von deiner Mutter, die auf einen Wagen gesetzt und zum Moskowiter gebracht wurde? Vielleicht von deinem Vater, den sie auf dem Waschhaus im Schornstein aufhängten? Verfluchen will ich jene Nacht, da ich geboren wurde, und verfluchen mich selbst und jeden Menschen, dem ich begegnet bin. Nenne mir einen einzigen, der nicht noch schlimmer ist als sein Ruf!«

»Wenn du ein Lied singst, wirst du froh, Großmutter, und ich möchte dich so gerne froh sehen heut' Abend.«

»Wen du spielen oder lachen siehst, der ist nur ein Verstellungsmeister. Elend und Schande ist alles, und es ist um unsrer Sünden und unsrer Niedrigkeit willen, daß die Sächsischen jetzt gekommen sind und die Stadt belagern. Hörst du das Schießen? Laß sie nur feuern und knallen! Warum gehst du nicht heute Abend hin und tust deinen Dienst auf dem Walle wie sonst, sondern liegst hier in deiner Faulheit?«

»Großmutter, kannst du mir nicht ein einziges sanftmütiges Wort sagen, bevor ich gehe?«

»Dich prügeln sollte ich, wäre ich nicht von meinen Jahren so gebrechlich und gebeugt, daß ich nie mehr mein Gesicht gen Himmel heben kann. Willst du, daß ich dir wahrsagen soll? Nennen sie mich nicht die Sibylle? Soll ich dir sagen, daß die schiefe Falte über deinen Augenbrauen baldigen Tod bedeutet? Ich sehe ins kommende Jahr voraus, aber wie weit ich auch sehe, finde ich nur Bosheit und niedrige Absichten. Du bist schlimmer als ich, und ich bin schlimmer als meine Mutter, und alles das, was geboren wird, ist schlechter als das, was stirbt.«

Er stand vom Steinboden auf und schob das Feuer zusammen.

»Ich will dir sagen, Großmutter, weshalb ich mich heute Abend zu dir setzte und dich um ein Herzenswort bat. Der alte Generalgouverneur hat heute befohlen, daß, bevor die nächste Nacht anbricht, alle Frauen, junge und alte, gesunde und kranke, ihres Weges ziehen sollen, um nicht vom Brot der Männer zu zehren. Die sich weigern, werden mit dem Tode bestraft. Wie sollst du, die du in zehn Jahren niemals weiter als quer über den Burghof zur Vorratskammer gegangen bist, jetzt in Wald und Wildnis mitten in der Winterkälte umherstreifen können?«

Sie lachte und trat das Spinnrad schneller und schneller.

»Haha! Ich habe das erwartet, weil ich des hohen Herrn Vorratskammer so treu gepflegt und über allem gewacht habe, was sein war. Und du, Jan! Ängstigt es dich, niemand zu haben, der für dich im Ofen bäckt und dir das Bett auf der Schlafbank richtet? Was für ein anderes Gefühl haben denn Kinder? Gelobt sei Gott, Gott, der uns endlich alle unter die Geißel seines Zornes schleudert!«

Jan faltete die Hände über seinem krausen, braunen Haar.

»Großmutter, Großmutter!«

»Geh, sag' ich dir, und laß mich in Frieden sitzen und meinen Werg spinnen, bis daß ich selbst die Tür öffne und hinausgehe, um dieses Erdenleben loszuwerden!«

Er trat einige Schritte gegen das Spinnrad vor, dann kehrte er aber um und ging aus dem Gewölbe.

Das Spinnrad schnurrte und schnurrte, bis das Feuer ausgegangen war. Am nächsten Morgen, als Jan, der Trompeter, zurückkam, stand das Gewölbe leer.

Die Belagerung war lang und hartnäckig. Nach abgehaltenem Gottesdienst wanderten alle Weiber aus der Stadt hinaus in den schneeigen Februartagen, und die Altersschwachen oder Kranken wurden auf Bahren und Wagen gebracht. Ganz Riga wurde zu einem Kloster für Männer, die dem Haufen von bettelnden Weibern, die sich mitunter von außen an den Wall heranschlichen, nichts zu geben hatten.

Die Männer hatten kaum Brot für den eigenen Notbedarf, und in den Ställen zerfleischten sich die ausgehungerten Pferde gegenseitig oder fraßen am Holz der Krippen und nagten große Löcher in die Wand. Der Rauch hing über den abgebrannten Vorstädten, und nachts wurden die Soldaten oft von warnendem Läuten geweckt und zogen die Haudegen aus der Decke.

Wenn Jan, der Trompeter, abends ins Gewölbe heimkam, das er und die Großmutter zur Schlafkammer gehabt hatten, fand er doch fast immer die Schlafbank gebettet, und eine Schüssel mit schimmeligem Essen stand daneben auf dem Stuhl. Er schämte sich, den anderen etwas davon zu erzählen, aber es erschreckte ihn. Er glaubte, daß die Großmutter im Schneegestöber umgekommen sei, und daß sie, in Reue über ihre frühere Härte, jetzt umgehe ohne Rast und Ruh. Fieberschauer durchschüttelten ihn vor Erregung, und er schlief manche Nacht lieber hungrig im Schnee auf dem Wall. Nachdem er sich durch Gebet gestärkt hatte, wurde er jedoch ruhiger, und schließlich war er eher überrascht und geängstigt, wenn er zuweilen die Schlafbank unberührt und den Stuhl leer fand. Da konnte er sich ans Spinnrad setzen und es leise drehen und dem wohlbekannten Schnurren lauschen, das er Tag für Tag seit seiner Geburt gehört hatte.

Nun geschah es eines Morgens, daß der Generalgouverneur, der ruhmreiche, fünfundsiebzigjährige Erik Dahlberg, ein heftiges Schießen vernahm. Er stand ungeduldig und zornig von seinen Zeichnungen und seinen Baumodellen aus Wachs auf. Als Erinnerungen an die herrlichen Streifzüge seiner Jugend in den Staaten der Schönheit hingen an den Wänden prächtige Kupferstiche von den Ruinen Roms, aber sein früher so mildes Gesicht hatte schon aus Schwermut Falten bekommen, und ein Zug von Härte verharrte um die schmalen, zusammengebissenen, weißen Lippen. Er zupfte an seiner großen Allongeperücke und strich zitternd mit dem Nagel über den dünnen Schnurrbart, und als er die Treppe hinabging, stieß er mit seinem Stock hart gegen die Steine und seufzte:

»Ach, wir Schweden, wir Blutsverwandte der Wasakönige, die in ihrem Alter nur anklagen und schelten konnten und zuletzt furchtsam im Dunkeln ihrer eignen Gemächer saßen, – unsrer Seele ist ein schwarzer Samen eigen, aus dem sich mit den Jahren ein zweigiger Baum entfaltet, voll der bittersten Galläpfel!«

Je weiter er ging, um so bitterer und härter wurde er in seinem Gemüt, und als er schließlich am Wall stand, zog er niemand ins Gespräch.

Einige Bataillone hatten sich mit Musik und Fahnen aufgestellt, aber das Schießen war schon verstummt, und durch das Tor kamen zerstreute Scharen von Müden und Blutenden, die eben den feindlichen Sturm zurückgeschlagen hatten. Zu hinterst ging ein dünner, altersschwacher Greis, der selbst einen roten Säbelhieb über die Brust hatte, aber mit Mühe einen erschossenen Knaben in den Armen schleppte.

Erik Dahlberg hob die Hand über die Augenbrauen, um zu sehen. War der Gefallene nicht Jan, der Trompeter, der Knabe von der Festung da oben? Er erkannte ihn an seinem lockigen, braunen Haar.

Im Torgewölbe sank der ermattete Träger auf einen Steinpfosten nieder und blieb da sitzen mit seiner Wunde, den toten Knaben auf dem Schoß.

Einige Soldaten bückten sich, um die Wunde zu untersuchen, und rissen das blutige Hemd über der Brust auf.

»Was!« riefen sie und traten zurück. »Es ist ein Weib!«

Staunend bückten sie sich noch tiefer, um ihr Gesicht zu betrachten, der Kopf war nach der Seite gegen die Mauer gesunken, und die Pelzmütze glitt ab, so daß die weißen, dünnen Haare hervorfielen.

»Es ist die alte Gunnel, die Sibylle!«

Sie atmete schwer und öffnete die verlöschenden Augen.

»Ich wollte den Knaben nicht allein lassen in dieser bösen Welt; da ich aber Männerkleider anzog und Tag und Nacht unter den anderen auf dem Wall diente, glaubte ich nichts Unrechtes zu tun, wenn ich vom Brot der Männer aß.«

Fragend blickten Offiziere und Soldaten Dahlberg an, dessen Befehle sie übertreten hatte. Er stand noch geradeso verschlossen und schwermütig hart da, und in seiner Hand zitterte der Stock und stieß gegen die Steinplatten.

Langsam wendete er sich gegen die Bataillone, und die dünnen Lippen bewegten sich.

»Senkt die Fahnen!« sagte er.


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