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Nach fünfzig Jahren

Als die Grütze gegessen war und die beiden Talgkerzen, die zu beiden Seiten der Zinnschüssel leuchteten, bis über die Hälfte niedergebrannt standen, wurden die Stühle vor das Feuer gerückt. Das Gut war eines der kleinsten und ärmsten in der Gegend, aber heute Abend gab es keine Not zu sehen. Das Stroh lag weich wie ein Teppich über den Dielen, frischer Wacholder war zu beiden Seiten der dunkeln und triefenden Fenster aufgestellt, der Schein des offenen Kamins färbte die kalkgetünchten Holzwände gelb, und soeben hatte sogar ein Römer mit portugiesischem Wein die Runde gemacht. Auch wußten alle, daß die feierlichste Stunde des Abends jetzt gekommen war. Sogar die beiden Dienstmägde, die heute ihre besten Kammgarnjacken trugen, deckten so langsam wie möglich ab und blieben vergeßlich an der Tür stehen, denn jetzt hatte der alte Hauptmann Höök, der Karoliner, seine Tabaksbüchse herausgezogen und mitten vorm Feuer den Ehrenstuhl eingenommen. Aber erst als er die Pechnahtschuhe ausgezogen und seine Füße mit den dicken, weißen Strümpfen auf der Kaminkante übers Kreuz gelegt hatte, um sie zu wärmen, schien er sich ganz zufrieden zu fühlen. Freilich hatte er fast den ganzen Abend allein das Wort geführt und nun zuletzt von Ehrenkrona gesprochen, der von König Friedrich den Schwertorden erhalten hatte und nie veranlaßt werden konnte, ihn anders als in einer Schachtel zu tragen, aber in diesem Augenblick wurde er streng und nachdenklich und ging zu einer neuen Geschichte über. Es wurde ja behauptet, daß er oftmals gehörig log, aber niemand nahm es ihm übel, und die Hauptsache war, daß er erzählte.

Er war ein schon älterer Mann mit einer vom Frost beschädigten Klumpnase, und sein vorgekämmtes Haar und sein jugendlich gedrehter Schnurrbart waren immer so hell gewesen, daß niemand es beachtete, ob die Jahre die eine oder die andere Strähne noch weißer färbten, und er saß auf dem Stuhl in seinem engen und zugeknöpften Rock, ebenso gerade wie früher.

»Doch,« begann er in der gewohnten Weise ohne jeden Übergang, »den Herbst, als ich mich im Walde verirrte, war ich wahrlich schlimm daran. Ich meine den Herbst unten in Schwerin. Lewenhaupt hatte soeben unsere letzten Troßwagen zerstören lassen und führte uns den Sosafluß entlang, um eine Furt zu finden, damit wir nachher auf der anderen Seite zu dem Königsheer stoßen könnten, aber mehrere Fußsoldaten waren zurückgeblieben, um die Wagen zu plündern. Ich war damals Fähnrich und wurde mit einigen anderen von Generalmajor Stackelberg zurückgeschickt, um die Kerle in Schach zu halten, aber die Russen waren schon bei ihnen, und ich weiß nicht, auf welche Weise es mir im Dunkeln gelang, mich über den Fluß zu retten. Als ich, von Wasser und Schlamm triefend, im Heidekraut auf der anderen Seite stand, stieß ich auf einen Dragoner. Er war von meinem Regiment, und wir nannten ihn Lang-Jan, weil er einer der größten und schmalsten Karoliner war, die jemals einen schwedischen Haudegen gehalten hatten. Seine Brust war schmal, aber seine Hände waren groß. Seine Arme und Beine schienen kaum einen einzigen Muskel zu haben, und nicht ein Flaum war in seinem mageren und einfältigen Gesicht zu sehen, das jeder an den schiefen Augen und der dicken Unterlippe erkannte. Gott weiß, weshalb er überhaupt jemals mitgenommen worden war ... Aber in dem Augenblick war ich gerade so froh, die hagere Gestalt zu erblicken, als hätte ich eine Liebste getroffen, und aufs Geratewohl, aber doch möglichst schnell, wendeten wir unsere Schritte in die Wälder hinein.

Im Anfang liefen wir, um warm zu werden und die Kleider zu trocknen, und erst bei Tagesanbruch legten wir uns schlafen.

Mehrere Tage und Nächte streiften wir dann durch die Wälder und Moräste, und noch immer waren unsere Kleider gleich naß. Einmal zogen wir sie aus und hängten sie an einen Zweig, aber in der regnerischen Herbstluft half das wenig, und sie waren um so kälter, als es uns mit großer Mühe gelang, sie wieder anzuziehen. Die Stiefel auszubekommen, war ganz unmöglich. Manchmal trockneten sie während des Gehens, wurden aber bald in einem Sumpf wieder ebenso durchnäßt, und ein Platzregen folgte dem anderen.

Ich hatte ein wenig Speck und ein Stück Brot bei mir, das ich mit meinem stillschweigenden und, wie es schien, ergebenen Unglücksbruder teilte, und danach kauten wir Blätter und Zweige und alles, was wir erwischen konnten. Der Hunger war uns jedoch keine annähernd so peinigende Plage wie die anhaltende, kalte Feuchtigkeit, die uns noch im Schlafe zwang, mit den Zähnen zu klappern. In dem Maß, wie unsere Kräfte abnahmen, wurden unsere Glieder steifer, so daß wir sie nicht ohne Schmerzen bewegen konnten.

Eines Abends hörten wir unvermutet Hundegebell, und für einen Augenblick fühlte ich, wie ich vor Freude errötete, aber sofort kam die Besinnung mit dem Gedanken der Gefahr. Ich wendete mich nach der entgegengesetzten Seite, und Lang-Jan folgte mir schweigend wie immer, aber als wir eine Weile gegangen waren, merkte ich, daß wir uns dem Hundegebell nur wiederum genähert hatten. Da nahm ich den Soldaten am Arm und wendete mich wieder gegen die andere Seite, aber wie von einem unwiderstehlichen, inneren Drang gezogen, gingen wir ununterbrochen so, daß wir dem Hunde näher und näher kamen. Als ich schließlich den Arm Lang-Jans losließ, ging er noch schneller.

»Halt!« rief ich ihm nach, von der Feuchtigkeit gepeinigt, aber doch wenig geneigt, gerade in einen feindlichen Hof hineinzugehen, wo wahrscheinlich die erste beste Axt uns begrüßen würde.

»Halt! Halt!« wiederholte Lang-Jan gehorsam, fuhr aber demungeachtet fort zu gehen.

Da holte ich ihn ein und nahm ihn am Gürtel; und so lange ich ihn hielt, stand er ganz gerade und unbeweglich, aber so wie ich losließ, ging er weiter.

»Halt! steh still!« donnerte ich rasend, als befände ich mich mitten im Feuer, verblüfft über einen so plötzlichen und widersetzlichen Eigensinn eines Soldaten, der unsere eisenstrenge Disziplin eingedrillt bekommen hatte. »Willst du deinem eigenen Fähnrich nicht gehorchen, Mensch!«

»Halt! Stehen!« rief er aus, aber er ging dennoch wie zuvor darauf los, als wäre er nicht länger Herr über seine eigenen Füße.

»Na, in Jesu Namen,« brach ich aus, »wir können es nicht schlimmer erwischen, als es jetzt schon geworden ist. Dann hast du aber von jetzt ab dich zum Fähnrich gemacht, obwohl du nur einer der Gemeinen bist und mich zum Gemeinen. Sei so gut und merke dir das.«

Lang-Jan antwortete nichts und hörte mich vielleicht auch nicht. Ich fügte mich darein, ihm zu folgen, und schon nach einigen Minuten kamen wir zu einer offenen Wiese mit mehreren Scheunen und Häusern. Dicht neben uns lag ein großer Holzbau mit mehreren Stockwerken. Der Sonnenuntergang glitzerte in den Regentropfen, die an dem Moos hingen, das zur Dichtung zwischen die groben Balken der Wand gestopft war, und die Fensterscheiben flimmerten wie unzählige, erleuchtete Kronen, aber das Tor war geschlossen, und kein Rauch stieg aus dem Schornstein. Das Haus war wie eine Leiche mit geschlossenem Munde und ohne Atem, aber mit unheimlichen, von einem kalten Außenschein durchglühten Augen. An einem Pfahle, hinter einer schief zusammengesunkenen Strohdieme festgebunden, kroch ein magerer Hund auf dem Boden hin und her und wedelte mit dem Schwanz, als er uns sah.

Lang-Jan ging gerade auf das Tor zu und pochte, aber keiner öffnete. Da zog er den Haudegen und schlug das zunächst liegende Fenster mit dem Degengriff ein, und im gleichen Augenblick hörten wir eine angstvolle, weibliche Stimme ein um das andere Mal jemand rufen, der Varvara hieß. Die Glasscherben fielen klirrend zu Boden, die Bleieinfassung bog sich nach allen Seiten in langen, hängenden Streifen, und drinnen im Haus hörte man laufende Schritte. Fast augenblicklich wurde das Tor geöffnet, von einer großgewachsenen und stattlichen Dienstmagd, mit einem breiten, blonden Haarzopf auf dem Rücken und einer Menge bimmelnden Silberzeugs an der schwarzen Haube und der roten und grünen Jacke. In der Hand hielt sie eine nicht angezündete Laterne, die sie vermutlich in der Angst aus Gewohnheit ergriffen hatte.

»Wir wollen nichts Böses,« sagte ich und versuchte, so gut es ging, mich mit der schwierigen Sprache durchzuschlagen. »Gott behüte uns vor einem solchen horreur, gnädigstes Fräulein. Aber wir sind ausgehungert, und vor allem brauchen wir...«

»Trockene Kleider,« fiel Lang-Jan zähneklappernd ein. Es war das erstemal, daß ich während der langen Wanderung diesen absonderlichen Gesellen ein selbständiges Wort hatte äußern hören, und da hatte er sogar die Unverschämtheit, mir das Wort aus dem Mund zu nehmen. Als das Mädchen sich umdrehte und das Tor halb offen ließ, ging er wohl zur Seite, um mir Raum zu lassen, aber ich antwortete gereizt:

»Herr Fähnrich dürfte zuerst gehen.«

»Gott behüte mich vor so etwas,« antwortete er und klappte mit den Stiefelhacken; aber halb durch den friedlichen Empfang aufgemuntert, halb noch im Ärger fügte ich mit solcher Schärfe in der Stimme, daß er meinen Ernst nicht bezweifeln konnte, hinzu:

»Oder der Teufel soll den Herrn Fähnrich holen.«

Da zog er seine langen Beine vor mir zum Tor hinein, und da das Haus keinen Flur hatte, befanden wir uns sogleich in einem großen Saal, dessen Kamin aus bunten Kacheln sich wie ein Turm mitten aus dem Fußboden erhob. An den Wänden, die ausschließlich aus rohgezimmerten Stämmen bestanden, die mit Moos gedichtet waren, standen einige schwarzlackierte Stühle, und auf einem Wandbrett glänzten zinnerne Kannen.

Die Dienstmagd lief auf und ab und rief Varvara, die, schlaftrunken und erschrocken, schließlich in der hintersten Ecke des Saales sichtbar wurde. Dort verblieben die beiden Mädchen ängstlich flüsternd.

Nach einer Weile wurden sie jedoch ruhiger und konnten nicht umhin, einander einen Blick zuzuwerfen und sich freier zu fühlen, als ich sie anhaltend gnädiges Fräulein nannte und so tat, als verstünde ich nicht, daß sie arme Leibeigene waren. Es war dies wie ein Tropfen warmes Öl auf verhärtetes Wachs, und sie erzählten jetzt, daß die hohe Herrschaft schon vor zwei Wochen ihres Weges gereist sei, bei dem Gerücht von dem Herannahen der Schweden, und besonders versicherten sie, daß im ganzen Haus, ja, auf dem Hof nichts von nur den geringstem Wert gelassen worden sei, aber daß sie gern ihr Bestes tun wollten, um die Fremden zu bedienen.

Varvara hatte hübsche Zähne, aber sie war allzu klein und dick und schwarzstruppig, und nach einer Weile ließ sie ein so gellendes Gelächter erschallen, daß ich gereizt wurde. Das goldhaarige Mädchen, das Katarina hieß, konnte ich dagegen nicht umhin scherzend ins Ohr zu kneifen, als sie das Holz in den Kamin trug. Inzwischen hatte Lang-Jan ohne weiteres seinen zerlumpten, blauen Rock ausgezogen, und da er weder Hemd noch Weste besaß, stand er bald bis zur Taille entblößt in seiner ganzen, elenden Hagerkeit, so daß niemand mehr ernst bleiben konnte, – niemand außer ihm selber. Nie hatte ich einen Zug von Heiterkeit auf seinem steifen Gesicht gesehen. Nachdem jeder von uns seinen Schafpelz bekommen und den schlimmsten Hunger mit ein wenig Rübenmus und Kwas gestillt hatte, legten wir uns auf den Ofen, mit dem Haudegen zwischen den Knieen, und ich erdreistete mich, dem Herrn Fähnrich zu befehlen, wechselweise mit mir zu wachen, falls man möglicherweise Böses im Sinn hätte. Auch verbot ich den beiden Dienstmädchen, den Saal zu verlassen, und mein Gebet mit lauter Stimme auf schwedisch hersagend, vertraute ich uns alle dem Allmächtigen an.

Aber! Der Allmächtige läßt uns Menschen einander dann und wann Überraschungen bereiten. Da mich niemand anredete, schlief ich stundenlang fort, bis ich von einer stechenden Hitze geweckt wurde, die ich sonst Schmerz genannt haben würde, die mich jetzt aber wenigstens daran erinnerte, daß ich kein wanderndes Gerippe war, sondern wieder ein lebendiger Mensch. Und doch! Wer versteht nicht meinen Schreck, als ich den geheizten Saal finster und leer sah und Geschrei und Lärm vom anstoßenden Zimmer her hörte!

Ich nahm sogleich den Haudegen und lief zur Tür. Da sah ich einen lodernden Küchenherd, und davor stand Lang-Jan in einem karierten Schlafrock aus hellem Kaschmir und hohen Hackenschuhen. Offenbar besaß der Schelm auch Fertigkeit im Fouragieren, denn ein Vogel saß schon auf dem Spieß, und in einen brodelnden Topf warf er kunterbunt alles, was er den halbschluchzenden Mädchen entreißen konnte. Dazwischen nahm er aus einem aufgebrochenen Schrank ein kostbares Glas nach dem anderen, stieß es an der Herdkante entzwei und warf die Stücke auf den Boden. Ich trat herzu und nahm den langen Kerl um den Leib, war aber nicht imstande, ihn von der Stelle zu reißen. Sein unerhörter Eigensinn gab seinem hageren Körper die Kraft eines Riesen, und ich selbst war noch von allen den Leiden mitgenommen, die wir ausgestanden hatten. Als er mir das Gesicht zuwandte, waren die Augen verglast, und ich fühlte einen Dunst von Wein. Jetzt ließ ich ihn doppelt verblüfft los. Er war betrunken.

Die goldhaarige Katarina, die sich eigentlich viel mehr amüsierte als ängstigte, kam indessen zu mir und erzählte mit ihrer weichen Stimme – hoi ja! der alte Hauptmann Höök war zu der Zeit jung und ein hübscher Bursche... Wo waren wir jetzt? Ja doch, sie erzählte, daß er von Zimmer zu Zimmer gegangen sei und alles durchsucht und Vasen und Uhren zerschlagen habe. Schließlich habe er im Keller alle Gewölbe durchsucht, nur eines nicht... eins... eins... eins, zu dem der Schlüssel verloren gegangen sei, fügte sie eifrig hinzu.

»Aber du, Ärmster, hast wohl auch was nötig,« sagte sie, und schob mich in ein anderes Zimmer, das königlich genannt werden konnte. An den Wänden hingen gewobene grünliche Tapeten, auf denen Diana eine Hindin jagte. Die kostbarsten Kleider lagen auf dem glatten und blanken Boden verstreut, die Lehnsessel waren vergoldet, und neben einem Topf mitten auf dem Tisch standen Krüge, die nicht mit ekelhaftem Kwas gefüllt waren, nicht einmal mit Bier, sondern mit einem klaren, gelben Wein.

Jetzt verlor auch ich den Verstand beim Anblick all dieser Herrlichkeit, und mein Mißtrauen wurde dadurch etwas beruhigt, daß die beiden Mädchen es selbst herzlich zufrieden schienen, einmal verschwenden und zerstören zu dürfen, daß auch sie sich auf Feindesboden fühlten in dem Haus, wo sie sonst als gehorsame und demütige Sklavinnen hatten leben müssen. Es war ihnen eine Siegesstunde, die Leckerbissen zerstören zu dürfen, die sie niemals gekostet hatten, sich in die nach hinten gebogenen, hoffärtigen Stühle werfen zu können, vor denen sie bis auf den Boden hatten knicksen müssen, und auf die kostbaren Kleider zu treten, die sie kaum anzurühren würdig erachtet worden waren. Sie wählten für mich einen Rock von steifem Silberbrokat, dessen Schöße auf Fischbein aufgespießt waren, so daß sie einem aufgeblasenen Frauenrock glichen, und an die Füße, von denen ich am Abend mit Schwierigkeit die Stiefel abgeschnitten hatte, erhielt ich Strümpfe und rote Schuhe. Gleichwohl wagte ich nicht, den Haudegen abzulegen, denn ich konnte den Verdacht irgendeines Verrates nicht ganz verjagen.

Mit der ganzen kindlichen Aufrichtigkeit einer kleinen Herzenseroberin klatschte Katarina in die Hände, die doch eigentlich weder weiß noch weich waren, und gestand, daß sie sich wirklich amüsiere, denn mit mir, der aus dem gleichen Stand war wie sie, könnten sie sein, wie sie wollten, aber vor dem Fähnrich, der ein hoher Herr wäre, müßten sie sich immer in acht nehmen.

Ich setzte mich an den Tisch in einen der Lehnsessel, der fast unter meinen glänzenden Rockschößen begraben wurde, und an jede Seite lud ich mir eines der Mädchen und stieß an und trank mit ihnen. »Der Herr Fähnrich ist von sehr hoher Herkunft,« sagte ich. »Er endet vielleicht... ja, als Ratsherr. – (Das war damals meine größte Beleidigung, denn Leute, die mit der Feder fechten...) – Aber die gnädigen Fräulein wissen, daß die Hochgeborenen manchmal durch ein unglückliches Geschick sowohl einfältig wie eigensinnig auf die Welt kommen können, und deshalb fühle ich mich verpflichtet, seinen Verstand mitunter sozusagen in die richtigen Windungen zu schrauben.«

Ich habe als Soldat immer einen Fehler gehabt. Ich habe ja im richtigen Augenblick sowohl hauen wie schlagen können, aber im Grund genommen bin ich gutmütig und fügsam gewesen. Deshalb ließ ich auch Lang-Jan in der Küche herumtoben, wie es ihm beliebte, und aß und trank selbst währenddessen nach Herzenslust. Aber mit jedem Schluck fühlte ich, wie der Wein mir immer mehr den Verstand raubte. Daß ich nicht noch frecher wurde, als ich es gegen meine munteren Wirtinnen war, beruhte weniger auf der Tugend, mit der der Allmächtige mitunter die Schönheit weislich ausstattet, als auf den Widerwärtigkeiten, die ich durchgemacht hatte, und die schnell genug den Wein zu einem Schlaftrunk verwandelten. Die Besonnenheit sagte mir, daß ich den Krug zur Seite schieben solle, aber nach der Not der letzten Tage war der Wein unwiderstehlich. Ich fiel in Schlaf, sitzend, die Hände über den Degenknopf gekreuzt.

Jetzt höre ich schleichende Schritte! sagte ich mir selbst im Traum. Sie kommen hinter dem Stuhl näher und näher. Jetzt muß ich blank ziehen. Aber was ist das? Ich kann weder Hände noch Füße bewegen, obwohl ich so wach bin, daß ich Diana und ihre Windhunde an der Tapete erkenne. Die ganze Luft ist tanzender Dampf, der um die plaudernden Gesichter der Mädchen und die Flammen der Wachskerzen zieht. Ich bin hilflos betrunken. Darüber ist kein Zweifel, aber jetzt schlafe ich wieder, und es schleicht hinter dem Stuhl ... Ein verborgener Leibeigener steht da mit seiner Axt ... Jetzt eben hebt er sie ... Im nächsten Augenblick werde ich sie wie einen Blitz durch den Kopf fühlen, – und dann ist alles zu Ende ... Warum kann der Stuhl nicht still stehen? Ich kann mich nicht festhalten, wenn du läufst... Brr, Gäulchen! Weißt du etwas in der Welt, das mich zu schrecken vermag? Aber mich rücklings an den Lenden eines der Handpferde des Königs festhalten, – das kann ich nicht... Plumps! Da, nun liege ich mitten auf dem Steinpflaster ... Pfui! Warum lachst du? Und dann das Gewölbe im Keller ... Warum sagtest du, daß es gerade eins... eins... eins zwei, eins zwei, eins zwei, kommt herbei, zwei drei, frank und frei, drei vier, folgen wir, vier fünf, durch Land und Sümpf, fünf sechs, Carolus Rex.«

Ich hob mich schließlich auf meinen schmerzenden Ellbogen und sang den ganzen Psalm Numero sechs von der ersten Strophe bis zur letzten, und das mit so starker Stimme, daß es mir schien, als ob alles Böse erschrocken habe weichen müssen.

Oft habe ich mir einen Rausch geleistet, aber niemals einen, der mir schlimmere Angst verursacht hätte. Als ich am Morgen erwachte, sprang ich gleich vom Boden auf, wo ich langausgestreckt neben dem Stuhl auf dem Rücken lag. Ich war des Verrates noch so gewiß, daß ich höchst überrascht wurde, als ich die beiden Mädchen auf einem Schaffell schlafend unter dem Tisch fand, auf dem das Licht in den Leuchtern gebrannt hatte. Draußen in der Küche hörte ich fremde Stimmen und traf da eine alte einäugige Hexe, die Natalia hieß, und einen bärtigen Leibeigenen, der Makar hieß, und der bis aufs kleinste dem ähnelte, von dem ich geträumt hatte. Sie gestanden, daß sie sich auf dem Boden verborgen gehalten hätten, aber hervorgekrochen seien, als sie merkten, daß wir nichts wollten. Sie erzählten, daß im benachbarten Dorf sich in der Nacht noch einige Familien aufgehalten hätten, die aber bei dem Gerücht von unserem Heranrücken gleich ihre Habe auf einen Wagen geladen und im Karriere davon gefahren seien.

Jetzt erst konnte ich mich wirklich von meinem Mißtrauen befreit fühlen, und in meiner Freude ging ich in den Saal zurück und bückte mich über die Mädchen und küßte Katarina fest und lange.

Sie wachte auf und lachte und drehte sich nach der Seite, um weiter zu schlafen, aber ich küßte sie noch einmal, und da wehrte sie sich und sprang keck und munter auf.

»Du bist ein prächtiges Mädchen, Katarina, und ich brauche dir nicht zu mißtrauen,« sagte ich. »Gib mir jetzt ein wenig frisches Wasser und etwas Salz.«

Während sie ein- und aus ging, um mein Frühstück aufzutragen, nahm ich sie oft um die nicht allzu schmale Taille und küßte sie. Schließlich küßte auch sie mich wieder und lehnte sich an den Silberbrokat auf meiner Brust und weinte und lachte durcheinander. Wir gingen in den vielen Gemächern auf und ab, aber an einer gewissen Tür hielt sie immer inne, denn dahinter hatte der Herr Fähnrich schlafen zu gehen geruht, in einem der mit Federbüschen geschmückten Betten der hohen Herrschaft. Schließlich setzten wir uns in einen gelben Lehnsessel, und ich nahm sie auf meinen Schoß und wickelte den dicken Zopf um mein Handgelenk. Es war auch keine Lüge, als ich ihr ins Ohr flüsterte, daß mein verstocktes Soldatenherz selten wärmer gepocht habe.

Mit Wehmut erinnere ich mich der glücklichen Tage, die jetzt folgten; und lieber, als sie Stunde für Stunde zurückzurufen, überlasse ich es euch anderen, und am liebsten euch Jüngeren, sich eure Imaginationen davon zu machen. Gleichwohl stellte ich jeden Abend Makar als Posten vor das Haus und ließ nie den Haudegen aus meiner Hand. Manchmal konnte Katarina mir ihn zum Spaß aus der Hand reißen und ihn ausgestreckt mit beiden Händen um den Griff halten und stampfend durch die Gemächer gehen, während der Herbstregen an die Scheiben schlug. Die lose aufgehängten Gobelins wurden von dem Luftzug hinter ihr in Bewegung gesetzt, so daß die Bilder zu atmen und sich zu verbeugen schienen. Es hallte jedesmal, wenn sie mit der schwarzen heruntergezogenen Haube wie mit einem Sturmhut ihr: Vorwärts! rief. Ich baute dann Barrikaden von Tischen und goldenen Lederstühlen, bis ich während des Anfalles mit einem Mal vorsprang und mich sowohl der Jungfrau wie ihrer Waffe bemächtigte. Ich hatte keine Gedanken mehr für meine Kameraden, die während der Zeit vielleicht hungerten und bluteten, und mein einziger Wunsch war, immer da bleiben zu dürfen, wo ich mich jetzt befand.

Katarina roch immer nach Lavendel. Wir hatten uns ein Eckzimmer abgesperrt, und dahin trug sie ihre große Truhe, die ganz und gar mit blaukarriertem Papier überzogen war. Sie enthielt ihre Kleider und sonstigen Habseligkeiten und wurde nie geöffnet, ohne das Zimmer mit Lavendelduft zu füllen. Es war ihr liebster Zeitvertreib, vor der Truhe auf den Knieen zu liegen und alle Kleidungsstücke und eine Menge kleiner Dosen und Schachteln herauszuziehen und dann wieder mit größter Sorgfalt einzupacken. Als ich alles zu langweilig fand, oder das Zimmer mitunter zu kalt wurde, überredete ich sie, mit in den großen Saal zu kommen, wo wir uns auf den Ofen setzten. Da suchte ich ihre Aufmerksamkeit dadurch zu fesseln, daß ich von der Lebensgeschichte meines großen Haudegens erzählte, und ich sparte dabei gewißlich nicht mit Worten. Ich wußte mit Bestimmtheit, daß er schon damals elf Menschenleben auf dem Gewissen hatte, und an meinem Arm konnte ich ihr Narben von Streifschüssen und Hieben zeigen. Aber sie fragte nicht viel danach. Erzählte ich dann die Sage vom Prinzen Gideon von Maxibrandar, so wurde sie ungeduldig. »Das ist so etwas, was nie passiert ist,« sagte sie und begann eifrig grüne und rote Tuchstückchen auf zwei Pelzschuhen festzunähen, die offenbar ein Meisterwerk in ihrer Art werden sollten.

Der Herr Fähnrich lebte in einem ständigen Rausch und zeigte den Weibern die offenbarste Verachtung. Katarina fand dies auch sehr gut, behauptete sie, denn es sei so schwer für jemand aus ihrem Stand, so einen hohen Herrn zurechtzuweisen, wenn er zudringlich würde. Eines Morgens erinnerte sich jedoch der Herr Fähnrich des verschlossenen Gewölbes unten im Keller, das wir beide vergessen hatten. Er ging sofort hin, und Katarina war so außer sich vor Angst, daß sie es nicht verbergen konnte. Sie preßte meine beiden Hände und bettelte und bat mich, ihn zurückzuhalten, und diesmal war ich so vollständig der Gefangene meines Herzens, obwohl mein ganzes früheres Mißtrauen wiedererweckt wurde, daß ich mich dazu zwingen ließ, ihr helfen zu wollen.

Wir eilten dem Herrn Fähnrich nach in den hellen Keller hinunter, wo er schon damit beschäftigt war, eine verschlossene Holztür aufzubrechen.

»Laß das sein!« befahl ich, und er sagte Ja, fuhr aber trotzdem in seinem unerschütterlichen Eigensinn fort, zu brechen und zu stemmen.

Da entschuldigte ich mich vor meiner jammernden Begleiterin damit, daß ein Gemeiner wie ich, einen Offizier nicht kommandieren könne – – und im gleichen Augenblick gab die Tür nach.

In dem Gewölbe brannte eine Lampe unter einem vergoldeten, russischen Muttergottesbild, und neben einem Tisch mit verschiedenen Nahrungsmitteln stand ein hergerichtetes Bett. Zwischen dem Bett und der Wand bewegte sich etwas Rundes und Dunkles, das, als wir näher herangingen, der Rücken eines niedergekauerten Greises zu sein schien. Als der Alte sich entdeckt sah, kroch er hervor und umfaßte die Kniee des Herrn Fähnrichs und bat und beschwor ihn, ihm Pardon zu geben. Er bekannte, daß er der Herr des Hauses sei, und daß er sich hier verborgen habe, nachdem er seine Familie weggeschickt, versprach aber unser untertänigster Diener zu werden, wenn wir uns seines Lebens erbarmten.

»Seid ruhig,« antwortete ich und half dem wankenden Greise vom Boden auf. »Aber dann sollt Ihr auch unser Trommler sein, wenn wir zu Tisch gehen.«

Als wir am Abend im großen Saal speisten, erhielt wie gewöhnlich der Herr Fähnrich den prächtigsten Stuhl, und an der Seite saßen ich und Katarina. Auf einem Tisch etwas nach links standen der weißbärtige, zittrige Hausherr mit einem Messingmörser und Makar mit zwei Topfdeckeln. Sie ließen ihre Kücheninstrumente im Takt zu den wehmütigen Volksweisen ertönen, die die alte, häßliche Natalia, zwischen beiden auf der Tischkante sitzend, sang.

Ich weiß nicht, warum, aber ihre klagende Stimme beraubte mich nach und nach aller meiner feurigen Heiterkeit, und ich begann an die Tausende und Abertausende meiner abwesenden Kameraden zu denken. Ich hatte zwischen der Weste und dem Hemd einen ganzen Pack von Briefen, die angstvolle Verwandte ihren Lieben im Feld geschrieben, und die sie mich gebeten hatten ihnen zu geben, wenn ich einmal zum Lager des Königs käme. Ich zog die Briefe aus der Brust, und es waren keine Geheimnisse, denn viele davon hatte ich unversiegelt am letzten Abend in Riga empfangen. Ich schob den Leuchter näher heran und durchflog aufs Geratewohl einen Brief, der mit unsicherer Hand geschrieben war, und ich las:

»Gib dies Johannem in die Hand.

Mein lieber Sohn.

Empfange deines Vaters Segen, obwohl von ihm geschieden durch Land und Wasser und bald wohl dem Weltteil der Heiden nahe, wo Crocodyle, Skorpionen und andere schädlichen Viecher Furcht einjagen...«

Ich verzog vielleicht den Mund, aber ich fühlte meine heilige Verantwortung, und schwerer wurde mein Sinn. Ich merkte, daß Katarina eifriger als sonst meinen Fuß trat, aber ich trat wieder und meinte, es seien nur Liebesbeweise. Als ich schließlich die Briefe zusammenlegte, entdeckte ich jedoch, daß sie ganz leichenblaß da saß und nichts von dem Wein oder den Gerichten zu sich zu nehmen vermochte. Ich bückte mich ein wenig zur Seite, so daß sie flüstern konnte, aber der alte Herr auf dem Tisch stierte sie unverwandt an, während er immer eifriger den Stößel gegen den wie eine Glocke gehaltenen Messingmörser klingen ließ.

Ich wurde unschlüssig und wußte nicht, welche List ich erfinden sollte. Da machte ich ihr weiß, daß mich friere, und ich ging ins Schlafzimmer hinein und rief, nachdem ich eine Weile getan hatte, als ob ich etwas im Dunkeln suchte:

»Katarina, Mädchen mein, wo hast du meinen Schafpelz hingelegt?«

Als sie hereinkam, sprang sie direkt auf mich zu und warf sich mit einem erstickten Schluchzen um meinen Hals.

»Du hörtest nicht,« flüsterte sie, »daß Makar soeben während des Lärmes dem Hausherrn erzählte, daß er mehr als sechzig Leibeigene zusammengebracht habe, und daß sie, sobald er ihnen dadurch ein Zeichen gibt, daß er das Fenster im großen Saal einschlägt, hereinkommen und euch beide niederschlagen wollen.«

Ich blieb ziemlich ruhig und suchte sie zu trösten, aber vom Weinen erstickt, erzählte sie, wie sie im Anfang selbst im Begriff gewesen sei, mich in eine Falle zu locken, wie sie aber jetzt glaube, nicht einen Tag mehr ohne mich leben zu können.

Ich drückte sie fest an mich und küßte ihren brennenden Mund und ihre klopfenden Schläfen, und doch zog in dem Augenblick eine eigentümliche Ruhe durch meine Seele. Unsere Bekanntschaft wurde mit einem Male etwas Verflossenes. Ich habe es nachher in grauen Jahren bitter bereut und mich über mich selbst gewundert, daß ich ihr gerade zu der Stunde so wenig zu geben hatte. Das Lesen des Briefes, die plötzliche Gefahr... Ich weiß nicht recht, was die größte Schuld trug. Wohl beides.

»Wenn ich dich mitnehmen könnte,« stammelte ich.

Sie schüttelte den Kopf, den ich ganz deutlich im Halblicht von der angelehnten Tür her unterscheiden konnte, und zog mich statt dessen ans Fenster und bat mich wegzuschleichen. Da erhitzte ich mich zu einer Art gespielten Zorns und warf sie weit weg über den glatten Boden und rief mit lauter Stimme:

»Mädchen, für wen hältst du mich?«

Darauf zog ich den Haudegen und ging in den großen Saal hinaus, und als der Fähnrich mich so sah, stand er gleich vom Tisch und zog auch blank.

Da erhob der Hausherr den Mörserstößer, um ihn in die angelaufene Fensterscheibe zu schleudern, aber wir standen gerade vor ihm mit unseren Waffen, und seine zitternden Kniee wurden krummer und krummer. Er wurde kleiner und kleiner, und der Mörserstößel schlenkerte lose zwischen seinen Fingern. Natalia bekreuzigte sich schweigend, und Makar, der sah, daß sein Herr nahe daran war, umzusinken, stützte ihn von hinten unter den Ellbogen und ließ die Topfdeckel rasselnd zu Boden fallen. Dann und wann suchte er jedoch den Stößel an sich zu reißen, um ihn in die Fensterscheibe zu werfen, aber dann schloß der alte Herr seine Hand um den Stiel, ohne daß er wagte, ihn zu werfen.

So standen wir eine Weile voreinander, und wir hörten den Kessel draußen in der Küche brodeln.

Aber bald hörten wir auch klappernde Schritte, denn die Leibeigenen hatten von außen durch das Fenster gespäht und alles gesehen. Die Küchentür füllte sich mit schmutziggrauen Schafpelzen, zwischen denen hie und da ein blanker Knopf glänzte. Ein Schuß fiel schon und blies Rauch über die struppigen Köpfe.

Jetzt vergaß ich unser ganzes Fähnrichspiel und schob Lang-Jan zur Seite, um auf sie loszugehen, aber gerade jetzt sollte ich besser als je kennen lernen, wen ich zum Kameraden hatte. Er stand noch gerade so eigensinnig da wie immer, und faßte mich um beide Arme und bog mich zur Seite, mit der unfügsamen Kraft, von der ich nicht wußte, woher seine schmalen Glieder sie nahmen.

»Fähnrich,« sagte er, »hast du dich zum Gemeinen und mich zum Fähnrich gemacht, dann mußt du auch unsern Kriegsbrauch kennen, daß ein Offizier zuerst ins Feuer geht.«

Wie ein Unwetter fuhr er zwischen die Schaffelle, und seine großen, platten Hände hielten den Haudegen umschlossen, der einmal in den Türbalken über seinem Nacken einschlug, ein andermal die Haut und die Kleider der armen Tröpfe abschälte. Ich hörte noch einen Schuß und sah Äxte und Heugabeln. Sein rechter Arm zuckte zusammen und wurde blutig, und er konnte die Waffe jetzt nur mit dem anderen führen, aber ich war an seiner Seite und hieb und stach.

Wir wurden in eine Ecke der Küche gedrängt, und meine aufgeblähte Narrentracht aus Silberbrokat wurde in Stücke zerrissen, so daß das schwarze Fischbein aus den Löchern herausstand. Von Rauch geschwärzt, so daß er unkenntlich war, schwankte Lang-Jan gegen meine Schulter, und ich faßte seine noch unbeschädigte Hand und drückte sie brüderlich mit den Worten:

»Jetzt habe ich gelernt, wer du bist, Jan, und wenn wir von hier wegkommen, werden wir nie voneinander lassen.« Er antwortete nichts, das eine Auge war geschlossen, da« andere stand weit offen, und schwer fiel er vor mir zu Boden. Das war das letztemal, daß ich Lang-Jan sah, den ich so oft ausgelacht, und der mich so oft geärgert hatte, dem ich aber jetzt den achtungsvollen Händedruck eines Freundes und Gleichgestellten reichen sollte.

Eine Weile versuchte ich unwillkürlich, seine Leiche zu verteidigen, aber allmählich sah ich das Nutzlose dieses letzten Ehrendienstes ein. Eine Minute später tastete ich wieder im Dunkeln zwischen Reisig und Schlamm herum, vom Regen durchnäßt und mit einer Wunde an dem einen Zeigefinger.

Ich hatte jedoch das Glück, auf etwa zwanzig herum irrende Schweden zu stoßen und kletterte in eine Kiefer hinauf, um mit dem Auge den Kern des langgestreckten Feuerscheines herauszufinden, der über dem Wald den bedeckten Himmel färbte.

»Was siehst du?« fragten die Kameraden.

»Ich sehe pechschwarzes Dunkel. Mache ich aber die Augen zu, so sehe ich noch viel mehr. Dann sehe ich vor mir ein feindliches Lager. Unter mir sehe ich die sumpfigen Erdhügel, die sich um unsere Füße festsaugen und nach der Ehre geizen, das Sterbebett einiger armen Kerle zu werden. Hinter mir sehe ich meilenweite Wüsteneien, wo die Leichen unserer Brüder unter fallendem Oktoberlaub vergilben, wo keine Henne vor den verbrannten Höfen gluckst, und wo kein Pferd mehr ein Futter findet außer der Rinde von Zweigen. Aber noch weiter weg liegt das Meer, und dahinter sehe ich eine lange Gasse mit verfallenen Zaunpfählen bis zu einem rotgestrichenen Hof emporklettern. Da drinnen sind soeben die Rüben vom Tisch getragen worden, und während der ehrwürdige Alte sein Buch aufschlägt, in dem eine Birkhahnfeder als Buchzeichen im ersten Kapitel der Offenbarung liegt, verfällt er in Betrachtungen und denkt darüber nach, ob wir vielleicht soeben mit Verstärkung zum Königslager gestoßen sind, und ob seine Lieben vielleicht eben an den Feuern seinen halbunleserlichen Brief lesen.«

Sicherlich sagte ich nicht dies alles in der Stunde, aber ich weiß, daß ich es dachte. Katarina war schon eine fast entschwundene Erinnerung.

»Was siehst du jetzt?« frugen die Kameraden. »Du bist höher hinaufgestiegen.«

Über die Bäume hinweg sah ich Feuerzeichen oder Lagerfeuer in dem gelben Nebel wie Klumpen schmelzenden Eisens hängen, und wenn ich mit dem Auge blinzelte, erinnerte die Reihe grauer Zeltspitzen an eine nebelfeuchte Küste im Fackelschein von Baken.

»Dieser Feuerschein,« flüsterte ich den Kameraden zu, »ist ein schöner Apfel mit vielen Kernen, und wir müssen die Degen bereit halten. Aber wartet, wartet, es waren nicht russische Laute... Hörtet ihr die beiden Vorposten, die einander zuriefen! So wahr ich lebe, war das unsere eigene teure Muttersprache, wenn ich nicht siebenmal Teufel hörte, so hol' mich der Teufel!«

Wie ich von der Kiefer herunterkam? Ich erinnere mich kaum. Nach allen Seiten hin schüttelte ich dargebotene Hände und wurde zwischen blauen und gelben Röcken von einer Umarmung zur anderen gerissen. Wie viele ersehnte Grüße hatte ich hier in der fernen Wüste zu bringen, wie viele überstandene Abenteuer zu erzählen! Ich ging weiter und weiter ins Lager hinein, halb getragen, bald gezogen, bald mit schallendem Gelächter empfangen, wenn man meiner zerrissenen Narrentracht gewahr wurde, um die die herausstehenden Fischbeinstangen bei jeder Bewegung hüpften. In mir brauste es vor Freude.

»Ich habe einen Brief für Hauptmann Bagge!« rief ich.

»Seit lange erschossen!«

»Ich habe auch einen Brief für Cederstjerna, den Leutnant...«

»Erschossen!«

Ich stolperte über ein totes Pferd, das mit steifem Grinsen dalag und von einem rauchenden Prügelfeuer fast versengt wurde. Der Regen hatte die Flammen ausgelöscht, und in dem beleuchteten Rauch hinter den Bränden sah ich einen sitzenden Ring grimmig blickender Offiziere. Zwischen ihnen lag lang ausgestreckt ein Mann, die Pelzkappe über das Gesicht heruntergezogen. Ich wollte über ihn wegsteigen und winkte mit dem Briefpack, aber eine Hand ergriff mich an der Schulter, und kurz und barsch wurde ich mit folgenden Worten zurückgehalten:

»Bist du von Sinnen? Siehst du nicht, daß es Seine Majestät ist?«

Da schlug ich die Hacken zusammen und führte die Hand mit dem Briefpack nach dem Kopf, und die Tränen, die hervorbrachen, strömten die Wangen herab.« Hauptmann Höök erhob sich und beendete seine Erzählung und wünschte Gute Nacht, aber als er auf den Flur kam, hörten die anderen, wie er auf der Treppe stehen blieb.

Da zog die eine Dienstmagd die Kammgarnjacke um sich und nahm das letzte Stümpfchen des Talglichtes vom Tisch. Während sie es trug, hielt sie die eine Hand darunter, damit die Lichtschnuppe nicht ins Stroh fiele, vorsichtig ging sie hinterdrein, um dem Hauptmann zu leuchten, denn alle wußten sie, wie er, der Karoliner, sich so vor dem Dunkel fürchtete, daß er sich niemals getraute, allein über den Boden zu gehen.


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