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Ein sauberes weißes Hemd

Der Reiter Bengt Geting hatte eine Kosakenpike durch die Brust bekommen, und die Kameraden legten ihn auf einen Reisighaufen im Jungwald, wo Pfarrer Rabenius ihm das Abendmahl reichte. Es war auf den eisgefrorenen Feldern vor den Mauern von Weperik, und ein sausender Nordwind riß das dürre Laub von den Sträuchern.

»Der Herr sei dir nahe!« flüsterte Rabenius väterlich und sacht. »Bist du jetzt bereit, von hinnen zu gehen nach einem guten Tagwerk?«

Bengt Geting lag mit geballten Fäusten und verblutete. Die harten Augen standen weit offen, und das eigensinnige und knochige Gesicht war von Sonne und Frost so gegerbt, daß die bläuliche Blässe des Todes nur an den Lippen zum Vorschein kam.

»Nein,« antwortete er.

»Das ist das erstemal, daß ich ein Wort aus deinem Mund höre, Bengt Geting.« Der Sterbende ballte die Hände fester und fester und kaute mit den Lippen, die sich gegen seinen Willen den Worten öffneten.

»Einmal,« sagte er langsam, »darf wohl auch der elendeste und zerlumpteste unter den Soldaten reden.«

Er erhob sich angstvoll auf den Ellbogen und stieß einen so schneidenden Jammerschrei aus, daß Rabenius nicht wußte, ob er den Qualen der Seele oder des Körpers entstieg.

Er setzte den Kelch zu Boden und breitete das Taschentuch darüber, damit die herumfliegenden Blätter nicht in den Branntwein fielen.

»Und das,« stammelte er und drückte die Hände gegen seine Stirn, »das muß ich, der ich ein Diener Christi bin, Morgen für Morgen, Abend für Abend erleben.«

Die Soldaten drängten sich auf allen Seiten zwischen den Sträuchern heran, um den Gefallenen zu sehen und zu hören, aber ihr Hauptmann kam zornig mit gezogenem Degen.

»Bindet dem Kerl ein Tuch um den Mund!« rief er. »Er ist immer der eigensinnigste Mann im ganzen Bataillon gewesen. Ich bin nicht unmenschlicher als irgendein anderer, aber ich muß meinen Dienst tun, und ich habe eine Menge neue, ungeübte Leute, die mit Lewenhaupt gekommen sind. Die sind jetzt durch sein Gejammer ängstlich gemacht und weigern sich, vorzugehen ... Warum gehorcht ihr nicht? Hier führe ich den Befehl!«

Rabenius trat einen Schritt vor, und in seiner weißen Lockenperücke hatte er einen ganzen Kranz von gelbem Laub.

»Hauptmann,« sagte er »bei dem Sterbenden befiehlt der Diener des Herrn allein, aber er überläßt gern in Demut dem Sterbenden selbst das Kommando. Seit drei Jahren habe ich Bengt Geting in Reih und Glied gehen sehen, aber noch niemals habe ich ihn mit jemand reden hören. Jetzt auf der Schwelle zum Gottesgericht kann kein Mensch ihm mehr Schweigen gebieten.«

»Mit wem hätte ich reden sollen?« fragte der blutende Reiter bitter. »Meine Zunge ist wie festgewachsen und gelähmt. Wochen konnten vergehen, ohne daß ich ein Wort sagte. Niemand hat mich je um etwas gefragt. Nur das Ohr hatte auf seiner Hut zu sein, damit ich nicht versäumte, zu gehorchen. Geh, hat man gesagt, geh durch Sumpf und Schnee! darauf war nichts zu erwidern.«

Rabenius kniete und nahm leise seine Hände in die seinen.

»Aber jetzt sollst du reden, Bengt Geting. Rede du, rede du, da nun alle sich versammeln, um dich zu hören. Du bist jetzt der einzige von uns allen, der das Recht hat, frei zu reden. Ist vielleicht ein Weib oder eine hochbetagte Mutter daheim, die ich grüßen soll?«

»Meine Mutter ließ mich hungern und schickte mich zu den Truppen, und niemals hat nachher ein Weib mir anderes zu sagen gehabt als dasselbe: Geh weg, Bengt Geting, geh, geh! Was willst du von uns?«

»Du hast wohl etwas zu bereuen?«

»Ich bereue, daß ich nicht als Kind in den Wasserfall an der Mühle sprang, und daß ich, wenn du Sonntags vor dem Regiment standest und uns ermahntest, geduldig zu gehen und zu gehen, nicht hervortrat und dich mit der Muskete erschlug. – Nein, willst du erfahren, was mir Angst macht? Hast du nie die Troßkutscher und die Vorposten erzählen hören, wie sie im Mondlicht ihre erschossenen Kameraden haufenweise dem Heer nachhinken und auf ihren verstümmelten Beinen herumhüpfen sahen, und wie sie rufen: Grüß die Mutter zu Hause!? – Sie nennen sie das schwarze Bataillon. In dieses schwarze Bataillon soll ich jetzt hinein. Aber das schlimmste ist, daß ich in meinen zerrissenen Lumpen und meinem blutigen Hemd begraben werden soll. Das gerade ist es, was ich nicht aus dem Sinn bekommen kann. Ein einfacher Reiter verlangt nicht wie der selige General Lieven heimgeführt zu werden, aber ich denke an die gefallenen Kameraden bei Dorfsnicki, wo der König jedem Mann einen Sarg aus ein paar Brettern und ein sauberes, weißes Hemd schenken ließ. Warum mußten die es soviel besser haben als ich? Jetzt in den Jahren des Unglücks wird man hingelegt, wie man fällt. So tief bin ich ins Elend gesunken, daß das einzige in der Welt, was ich ersehne, ein sauberes weißes Hemd ist.«

»Mein armer Freund,« antwortete Rabenius leise. »In dem schwarzen Bataillon – wenn du nun daran glaubst – bekommst du große Gesellschaft. Der Gyldenstolpe und Sperling und Oberstleutnant Mörner liegen schon draußen auf dem Felde erschossen. Und erinnerst du dich der tausend anderen? Erinnerst du dich des freundlichen Oberstleutnant Wattrang, der an unser Regiment herangeritten kam und jedem Soldaten einen guten Apfel gab, und der jetzt neben den Leibtrabanten und allen Kameraden unter der Wiese bei Holofzin liegt? Und erinnerst du dich meines Vorgängers, Niklas Uppendich, des gewaltigen Verkünders des Wortes, der bei Kalisch im priesterlichen Ornate fiel? Gras ist gewachsen und Schnee ist gefallen über seinen Gebeinen, und niemand kann mit dem Fuß die Stelle bezeichnen, wo er schläft.«

Rabenius bückte sich noch tiefer und befühlte Bengts Stirn und seine Hände.

»In zehn oder höchstens fünfzehn Minuten hast du zu leben aufgehört. Vielleicht können die Minuten die drei vergangenen Jahre ersetzen, wenn du sie recht heiligst. Du bist nicht mehr einer der unsrigen. Siehst du nicht, daß dein Seelsorger bei dir kniet mit entblößtem Haupt? Rede jetzt und sag mir deinen letzten Wunsch, nein, deinen Befehl! Denk nur an eines! Deinetwegen steht das Regiment aufgelöst da, und die anderen gehen währenddessen ehrenvoll vor und sind schon an den Sturmleitern. Du hast die jüngeren Kerle mit deiner Todeswunde und deinem Jammer erschreckt, und du allein kannst es wieder gutmachen. Jetzt hören sie nur auf dich, und es liegt in deiner Macht allein, sie zu bewegen, gegen den Feind zu gehen. Denk daran, daß deine letzten Worte erst spät vergessen und vielleicht einmal denen wiederholt werden, die daheim sitzen und ihre Birnen hinter dem Ofen braten.«

Bengt Geting lag unbeweglich, und es zog ein grübelnder Schatten über seinen Blick. Dann hob er langsam die Arme wie zum Gebet und flüsterte:

»Herr, hilf mir, auch dies zu vollenden!«

Er gab ein Zeichen, daß er nur noch zu flüstern vermöge, und Rabenius legte sein Gesicht an das seine, um die Worte auffangen zu können. Dann winkte Rabenius den Soldaten zu, aber seine Stimme zitterte so, daß seine Worte kaum vernehmbar waren.

»Jetzt hat Bengt Geting gesprochen,« sagte er. »Es ist sein letzter Wunsch, daß ihr ihn zwischen euch auf die Muskete nehmen und ihn auf seinen alten Platz in Reih und Glied tragen sollt, wo er mit starrem Sinn gewandert und gewandert ist, Tag für Tag und Jahr für Jahr!«

Jetzt wurden die Trommeln gerührt, die Musik begann, und mit der Wange an der Schulter des einen Soldaten wurde Bengt Geting Schritt für Schritt über das Feld dem Feind entgegen getragen. Da folgte um ihn her das ganze Regiment, und mit entblößtem Haupte schritt Rabenius hinter ihm her und merkte nicht, daß Bengt schon tot war.

»Ich werde dafür sorgen, daß du ein sauberes weißes Hemd bekommst. Du weißt, daß der König sich nicht für mehr als einen der geringsten Soldaten achtet, und so will auch er dereinst liegen.«


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