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Am folgenden morgen empfingen Imgjors immer sich in gleicher Richtung bewegenden Gedanken durch den Inhalt eines mit der Post eingegangenen Briefes eine Ablenkung.
Eine Dame der vornehmen Gesellschaft, eine Baronin von Kliff, mit der Imgjor wiederholt bei Bestrebungen für wohlthätige Zwecke in Berührung gelangt war, bat sie in sehr dringender Weise, sich um die Mittagszeit in ihrem Palais einfinden zu wollen, um dort einer Sitzung zu Zwecken der Begründung eines dänischen Mädchenheims beizuwohnen. In diesem sollten der Schule entwachsene, junge, weibliche Personen zu Dienstmädchen herangebildet, es sollte ihnen in allem Unterricht erteilt werden, was für Küche und Hauswesen erforderlich war. Auch Handarbeit und Schneidern wollte man sie lehren und insbesondere auch moralisch auf sie einzuwirken suchen.
Die Baronin beabsichtigte durch dieses Heim denen die Hand zu bieten, welche infolge ihrer mangelhaften Ausbildung keine Beschäftigung finden konnten und deshalb der Gefahr ausgesetzt waren, sittlich zu verkommen. Und gerade deshalb ward Imgjors Interesse auf's lebhaftere angefacht.
Im Palais traf sie die Damen, mit denen sie während der Jahre ihres Aufenthaltes in der Residenz wiederholt in Wohlthätigkeitsangelegenheiten zusammengetroffen war, fast sämtlich beisammen, wich deren ihre Person betreffenden Fragen möglich aus, nahm aber größten Anteil an den Verhandlungen und trat, etwa drei Stunden später, reichlich erschöpft, und sich schon vor dem Palais von den übrigen trennend, den Rückweg an.
Als Imgjor die Ecke der Tordenskoldsstraße passierte, drang aus einem offenen Schusterkeller ein jammervolles Schreien hervor, und als sie, mitleidig beunruhigt, nachforschte, sah sie unten einen Menschen, der in unbarmherziger Wut eine zu Boden geworfene Frau mit einem Lederriemen prügelte.
In Sekundenschnelle wechselte nun die Scenerie. Imgjor sprang blitzschnell die Treppe hinab, riß mit kühn erfolgreichem Ruck den Mann zur Seite, befreite dadurch die Frau und schleuderte dem rohen Peiniger entrüstete Worte entgegen: Ob er sich nicht schäme, sich so gegen die Schwächere und Wehrlose zu vergehen?
Aber alles kam anders, als sie es erwartet hatte. Da durch ihr Eingreifen das ohnehin neugierig zusammengelaufene Volk draußen sich noch zudringlicher geberdete und, dicht gedrängt, den Erfolg beobachtete, ergriff das Weib plötzlich ein weit größerer Ingrimm gegen jene draußen und gegen Imgjor, denn gegen den Mann.
Statt »Grevinde« durch Haltung und Worte Dank an den Tag zu legen, reckte sie sich zornsprühend empor, fragte, ob es sie etwas angehe, wenn sie sich von ihrem Mann prügeln lassen wolle und unterstützte diese herausfordernden Worte durch eine auf die offene Thür gerichtete Geste, welcher der dadurch versöhnte Hausherr sich beeilte, noch einen besonderen, fast thätlichen Nachdruck, zu verleihen.
Als Imgjor infolgedessen die Treppe hinauf flüchtete, stieß sie auf diejenigen Personen, welche zur besseren Beobachtung des interessanten Schauspiels bereits einen Teil der Treppenstufen besetzt hatten. Und während das geschah und die Ehegatten, zur völligen Abwehr gegen die Leute draußen, die Thür verrammelten, drängten die hinteren Reihen des Mobs nach vorn und die der Thür zunächst Stehenden rückwärts. Und dadurch kam Imgjor zu Fall und erlitt durch Drängen, Stoßen und Treten, trotz ihrer Weh- und Abwehrrufe, so schwere Verletzungen, daß sie nach Räumung der Treppe durch die Polizei wie tot hinweg getragen wurde. Mit noch anderen Verwundeten ward sie nach dem Hospital des Doktor Stede geschafft, und eine halbe Stunde später stand mit tief bedenklicher Miene an ihrem eigenen Krankenlager derselbe Mann, mit dem sie so oft an das Bett der Leidenden und Sterbenden getreten war.