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Am Nachmittag bestieg Imgjor einen Tramwaywagen und begab sich nach der Wohnung der alten Frau Ohlsen. Es war ihr, dort angekommen, schon auffallend, daß sie eine Anzahl Frauen und Männer, lebhaft sprechend, auf dem Hofe fand, und sie erschrak nicht wenig, als ihr auf ihre Frage, ob etwas geschehen sei, erwidert wurde, daß den Alten in der Frühe der Schlag gerührt habe.
Durch Zufall habe man es entdeckt, habe auch die Alte davon Kenntnis erhalten. Sie habe geglaubt, daß er schon fortgegangen sei, als sie einen schweren Fall in der Küche gehört. Imgjors erster Gedanke bei diesem Unglück war die Ueberlegung, was jetzt als der hilflosen Witwe werden solle. Nun waren ihr durch diesen Tod die Neben-Hilfsmittel zum Leben ganz entzogen. Und von dieser Erwägung richteten sich ihre Vorstellungen auf das Nächstliegende. Der Mann mußte beerdigt werden. Sie gab einem zu solchen Zwecke von ihr bezahlten Mann Auftrag, sich sogleich fortzubegeben, um eine Leichenwäscherin zu bestellen und einen Tischler zur Anmessung des Sarges herbeizurufen. Und nachdem das geschehen war, trat sie zu der Alten, sprach sanfte Trostworte und erklärte ihr möglichst schonend, daß sie nunmehr in das Armenfrauenhaus übersiedeln müsse. Auch eröffnete sie ihr, daß sie, Imgjor, demnächst Kopenhagen verlassen würde und persönlich in keiner Weise mehr für sie zu sorgen im stande sei.
Und die Blinde beugte das Haupt wie unter einem Schlage, während Thränen aus ihren lichtlosen Augen tropften. Noch begab sich Imgjor dann in die Küche um nach dem Toten zu sehen. Freilich, was sich ihr bot, war erschütternd. Kalt, steif und unbeweglich lag der alte Mann auf dem Fußboden. Ihn zu betten, war erforderlich. Und solches veranlaßte Imgjor durch die Nachbarn, und nachdem auch das geschehen, erklärte sie der alten Frau, ihr für die nächsten Tage eine Hilfe schicken zu wollen. Sie beschloß, ihr Gebine zu senden. Auch ihre Ueberführung in das Armenfrauenhaus zu betreiben, versprach sie ihr nochmals, und nachdem die Alte dazu mit tief gerührten Gefühlen genickt, nahm Imgjor von ihr Abschied.
»Adieu, Adieu, Frau Ohlsen! Tragen Sie, was Gott Ihnen schickte, mit Geduld! Viele haben es noch weit schwerer –«
Und die Alte nickte abermals, während sie Imgjors Hände mit ihren mageren Fingern fest umklammerte.
»Gott segne Sie, Komtesse!« schluchzte sie. »Ich werde immer an Sie denken, und noch mit meinem letzten Atemzuge werde ich Segen auf Sie, als einen menschlichen Engel, herabflehen!«
Imgjors Augen wurden naß. Alle Mühsalen, aller Undank waren vergessen, den sie von anderen erfahren hatte, um dieser einen willen, in deren geprüftem Herzen noch Gottvertrauen, noch edle Empfindungen, noch Dankgefühle Platz hatten. Dann, mit einem letzten Händedruck, sagte sie: »Geld und mein Mädchen werde ich Ihnen schicken. So ist für alles gesorgt. Adieu! Adieu! Gott schütze Sie, meine gute Alte!«
Und: »Adieu! Adieu!« schluchzte die Alte, aus deren verdunkeltem Dasein mit Imgjor der letzte matte Lichtschimmer schwand.
Imgjor aber richtete, hinaustretend, das Auge nach oben. Sie fand sich mit ihrem immer wieder vertrauenden Herzen und mit ihrem heißen Drange nach Liebesthaten von neuem gehoben. Es gab doch noch Empfängliche, doch noch Dankbare. So überlegte sie abermals.
Nachdem sich Imgjor eben abends in ihrem Wohngemach eingerichtet hatte, wurde an der Klingel gezogen, und Doktor Kropp erschien, um verabredetermaßen über seinen Besuch bei Kollund Bericht abzustatten. Und Imgjor trat ihm mit nicht geringer Spannung entgegen und that schon, bevor er noch Platz genommen, eine Frage nach dem Ergebnis.
»Anfangs wies er meine Forderung auf einen Verzicht schroff zurück,« entgegnete der Doktor, Platz nehmend. »Er wolle,« erklärte er, »mit Ihnen selbst reden und Sie an Ihr gegebenes Wort erinnern. Dieselben Unwahrheiten, die er gegen Sie vorgebracht hatte, erneuerte er; er nahm den Mund sogar noch voller. Erst als ich erklärte, daß ich in einer der Kopenhagener Zeitungen veröffentlichen würde, welchen Charakter die Forderungen hätten, die er an Sie, gnädigste Komtesse, in dieser Angelegenheit gestellt habe, gab er, sich krümmend, nach. Aber eine Flut von Anschuldigungen folgte sowohl gegen Sie, wie gegen mich, bevor ich ihm, nach einer nochmaligen, gründlichen Abfertigung den Rücken kehrte.«
»Ah – also wirklich!« stieß Imgjor, von tiefem Abscheu ergriffen, heraus. Dann reichte sie Kropp bewegt die Hand, sprach ihm ihren Dank aus und händigte ihm die Summe ein, die er Kollund bezahlt hatte. Zum Schluß bat sie ihn, noch so lange zu verweilen, bis sie ihm eine Tasse Thee bereitet habe. Sie umging es, daß er sie sonst noch sprechen wollte, weil ihr Zeit und Ort doch nicht geeignet schienen. Im Grunde hoffte sie, daß er ihre Aufforderung ablehnen werde. Aber er, der überhaupt keine anderen Gedanken hatte als sie, der überdies nichts erwarten konnte zu erfahren, durch welche Umstände sie ihres Reichtums und ihres Namens verlustig gegangen war, stimmte dankend zu, und saß noch neben ihr, als schon die Uhr vom Kirchturm die zehnte Stunde verkündet hatte. Dann aber drängte sie ihn selbst zum Gehen, und als er dann noch eine mitleidige Frage that, was sie denn nun beginnen, wohin sie sich wenden wolle, sagte sie: »Eine Woche brauche ich beinah' noch, um hier alles zu ordnen, um auch von denen Abschied zu nehmen, die mir im Laufe dieser Jahre näher getreten sind. Dann will ich irgendwo eine Stelle als Schwester in einem Krankenhause im Norden oder auch im südlichen Deutschland suchen. Was dann später geschieht, müssen Zeit und Gelegenheit lehren. Immer hoffe ich noch, daß ich Gleichgesinnte, Ehrliche und zugleich Begüterte finde, die sich mit mir zur Verwirklichung von Reformen im Großen verbinden. Die Mißerfolge, die traurigen Erfahrungen, die mir unter den Armen wurden, dürfen mich nicht abschrecken. Auch in meinen Kreisen giebt's wertvolle und minderwertige Personen. Ist die Masse auch roh, so ist sie doch bildungsfähig. Man muß sie nur auf den rechten Weg leiten.«
»Können Sie sich denn nicht vorstellen, daß es auch fruchtbringend ist, im Kleinen zu wirken, gnädigste Komtesse?« wandte Kropp vermittelnd ein.
»Gewiß, Herr Doktor! Auf Rankholm, der großen Besitzung meines Vaters, suchte ich den Armen und Leidenden ein hilfreicher Freund zu sein. Aber dort war es das Wohlleben in der Familie, der Luxus, der mich umgab, die mich anwiderten. Auch andere Verhältnisse trieben mich fort, und nun – ich erzählte Ihnen ja alles – hat sich ja überhaupt die Trennung zwischen mir und den Meinigen vollzogen. Ich muß mich jetzt treiben lassen – mir bleibt keine Wahl.«
»Doch, doch, Komtesse! – Es giebt sehr viele, die namenlos glücklich sein würden, wenn sie ihr Schicksal mit dem Ihrigen verbinden dürften! Auch ich gehöre zu ihnen –« schloß Kropp feurig und einen liebewarmen Blick auf Imgjor richtend. »Ich liebte Sie von dem ersten Augenblick an, Komtesse! Ihre Stellung, Ihr Ansehen, Ihr Name ließen mich verschweigen, was ich für Sie empfand. Wie konnte, durfte ich wagen, um die Hand einer Gräfin Lavard zu werben? Heute aber, wo Sie sich selbst zu meinesgleichen gemacht, fasse ich den Mut, zu sagen: Werden Sie mein! Lassen Sie uns zusammen einen Ort suchen, wo wir uns und der Allgemeinheit leben, wo wir in bescheidenerer und guter Weise das zum Ausdruck bringen können, was Sie edelmütig anheben. Sie haben mich kennen gelernt. Sie wissen, daß ich nicht zu den Wortmachern gehöre, daß ich Vernünftiges redlich erstrebe. So bin ich Ihrer vielleicht nicht unwert, so darf ich vielleicht hoffen, daß ich auch Ihnen nicht ganz gleichgiltig bin –«
»Nein, Sie sind mir nicht gleichgiltig, ich achte Sie hoch, lieber Herr Doktor!« fiel ihm Imgjor, die erst mit gesenkten Wimpern, dann sich mit offenen Augen ihm zugewendet und zugehört hatte, in die Rede. »Aber ich kann – so schmerzlich mir diese Antwort ist – die Ihrige nicht werden. Ich will überhaupt nicht heiraten. Ich liebte einmal und wurde grenzenlos betrogen. Da that ich einen Schwur, einem Manne niemals wieder die Hand zum Bunde zu bieten.«
»Ist nicht aber das Leben da, um aus ihm zu lernen, Komtesse? Lehrten Sie nicht Ihre Erfahrungen, wie hohl die große Masse ist, wie wenig glücklich eine Beschäftigung mit ihr macht, wie nur ein treues Streben im kleineren Kreise beglückt – und lehrt es nicht, daß das eben auch das Richtige ist? Wer herrschen, reformieren will, braucht Macht und zehnmal Macht, durch die er allein die Massen zu bezwingen vermag. Und wiederum: Wenn Sie in die Weltgeschichte blicken, wie wenige konnten diese Stärke und Fülle richtig anwenden, und wie Geringes haben sie, waren ihre Absichten noch so ehrlich, erreicht! Sie besitzen diese Macht schon deshalb nicht, weil Sie über keine Mittel mehr verfügen, Komtesse! Lassen Sie ab von dem Greifen nach Sternen! Wo immer sich in engeren Kreisen die Menschen zu Liebeswerken zusammenthun, da wird's etwas. Aus diesem Wirken resultieren die großen Errungenschaften der Humanität, die praktischen Ergebnisse eines richtig verstandenen Christentums! Und noch ein anderer Gesichtspunkt! Will nicht jeder glücklich sein, so lange ihm ein Dasein beschieden? Befriedigt Sie denn wirklich dieses Aufgehen ins Allgemeine? Was haben Sie erreicht? Man spottet Ihrer als einer Ueberspannten! Keiner dankt's Ihnen! Wo die Fähigkeit vorhanden wäre, den Wert Ihrer Bestrebungen zu erkennen, macht sich der Neid breit, sicher die Oberflächlichkeit, die schon deshalb die Dinge verurteilt, weil sie selbst keinen Geschmack daran findet, oder sie zu untersuchen zu träge ist. Habe ich nicht recht, Komtesse?« schloß Kropp, als Imgjor nichts erwiderte, als sie, in tiefes Nachdenken versunken, vor sich hinstarrte. Sie kämpfte, wie neuerdings schon wiederholt. Für Sekunden flog's ihr durch den Sinn, daß er die Wahrheit getroffen, und daß er der Mann sei, durch den sie sich und andere glücklich machen könne. Aber wie kleine Einwirkungen häufig ein schon hoch aufgerichtetes Gebäude zum Fallen bringen können, so war's hier. Als ihr Blick während des Sinnens auf ihren Schreibtisch und dabei auf ein Bild von Rankholm fiel, trat ihr plötzlich alles dort Geschehene und trat ihr auch wieder Graf Axel Dehn ins Gedächtnis. Und das entschied. Da sie diesem ein »Nein« gesagt, wollte, durfte sie auch Kropp kein Jawort geben. So lehnte sie abermals ab, und so schied mit ihm wieder ein Freund und ein Mann aus ihrem Leben, der ihr von Herzen zugethan war und der es gut mit ihr meinte.