Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als sich Imgjor am nächsten Tage spät erhob und nach Erledigung einiger häuslichen Pflichten an ihren Schreibtisch ging, fand sie zu ihrer Bestürzung, daß sie bestohlen worden war.
Es fehlten mehrere hundert Kronen, die sie beiseite gelegt hatte, um einen beim Zoll angestellten, schwer heimgesuchten Familienvater zu unterstützen.
Der Diebstahl mußte während ihrer Abwesenheit am gestrigen Abend vollführt worden sein, und da nur ihr Aufwartemädchen ihre Zimmer betreten konnte, so mußte sie die Diebin sein.
Dies regte Imgjor abermals außerordentlich auf, besonders deshalb, weil sie diesem Dienstboten und deren Eltern sehr viele Wohlthaten erwiesen und somit Dankbarkeit, wenigstens Treue von ihr erwartet hatte.
Aber sie fand auch in ihrem Briefkasten, den sie gewohnheitsmäßig nach beendetem Frühstück öffnete, einen Brief, dessen Inhalt sie namenlos erregte.
Das Schreiben lautete:
»Nichts anderes trieb dich aus den vergoldeten Zimmern in Rankholm fort, als deine Sucht, dich breit zu machen, die allgemeine Aufmerksamkeit auf dich zu lenken. Und weshalb? Um deinen kleinlichen Ehrgeiz zu befriedigen, damit man von dir spricht, schreibt, kurz – etwas aus dir macht, die du doch selbst nichts bist. Du meinst, man durchschaue dich nicht. Aber die Welt hat scharfe Augen. Die eine Hälfte bespöttelt und belacht deine Narrheiten, die andere, die der Eingeweihten, geht mit dem Gedanken um, dem Grafen Lavard mitzuteilen, wie sein Name durch dich verunehrt wird.
Solche Emanzipierte wie du gehören in eine Korrektionsanstalt. Du die Welt reformieren? Du der Not und dem Elend ein Ende machen? Stille deinen eigenen Jammer! Denn man weiß es, du hast genug mit dir zu thun, und man weiß auch – warum! Also mache ein Ende mit der Komödie und mit den bezahlten Zeitungsartikeln, die auf deine Verherrlichung abgesehen sind!
Kehre dahin zurück, woher du gekommen bist, ehe du notgedrungen die Flucht ergreifen mußt!«
Imgjor saß während einer längeren Zeit wie gelähmt da. Das war die stärkste Infamie, die ihr bisher geworden. Und wenn's auch vielleicht aus derselben Quelle stammte, aus der ihr die übrigen Kränkungen gekommen waren, so wurden doch durch solche Wahrscheinlichkeit ihre unruhvollen Vorstellungen nicht beseitigt.
Die Augen wurden ihr durch dieses Schriftstück völlig geöffnet. So urteilte also die Masse; solche Motive schob sie ihr unter!
Und das war so entsetzlich, daß sie sich hätte in diesem Augenblick tief in die Erde verkriechen und nie wieder zum Vorschein kommen mögen.
Fort, fort, nur fort aus Kopenhagen mit seinem Undank, seiner Mißgunst und Niederträchtigkeit! Zurück nach Rankholm, wo die weißen Tauben um die hohen Türme der Einsamkeit flatterten, wo Ruhe, sanfter Friede herrschten, wo es kein widerwärtiges Jagen und Haschen nach Geld und Stellung, wo es noch einfache Verhältnisse gab; wo man ohne erst Anhöhen vor der Stadt zu gewinnen, die Sonne in ihrer unschuldigen, hehren Schönheit aufsteigen und niedersinken sah, wo der Mond die stillen Wege versilberte, auf denen sie, ein glückliches, von den Wirren der Welt unberührtes Kind, einhergewandelt war! Ah! Das Brüllen der Rinder, das Wiehern der Pferde, die reinen Laute des Landes, die anheimelnden Düfte, der kräftige Erdgeruch; ihr Zimmer oben im Turm, mit einer Aussicht in eine Welt, die nicht schöner gedacht werden konnte, in der Menschen wohnten, gute, treuherzige, dankbare, keine schlechten wie hier! –
Aber auch dieser Sturm ihres Innern ging vorüber, und Imgjor gelangte zu anderen, zu den alten Entschlüssen.
Sie wollte fortfahren, in die Häuser der Armen zu gehen, und trotz aller Anfeindungen versuchen, nicht in dem zu erlahmen, was sie sich einmal als Lebensaufgabe gewählt hatte. Am nächsten Tage wollte sie in Sommerlyst einem Vortrage beiwohnen, den ein aus Schweden herübergekommener Reformator Kollund, ein früherer Geistlicher, halten würde. Ja, dazu war sie entschlossen! –
Es war am folgenden Abend. Schon seit einer Stunde hatte Kollund, der einstige Geistliche und jetzt den neuen Ideen mit feurigem Eifer huldigende Wanderprediger seinen Vortrag beendet, hatte der stets nach solchen Verheißungen hungernden Welt erklärt, daß Christus im Grunde nichts anderes gewollt, als was sie selber jetzt in größerer Gemeinschaft anstrebten. Auch er habe gesprochen: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid!« und nur durch praktisches Christentum seien die Not und das Elend aus der Welt zu schaffen. Seine Worte hatten Imgjor deshalb noch mehr ergriffen als alle diejenigen seiner Vorgänger, weil sie von dem reinsten Enthusiasmus getragen und weil sie von jener Selbstlosigkeit durchhaucht schienen, die ihr selber eigen war. So sehr hatte sie das bleiche Erlöserangesicht des Redners angezogen, daß sie auch nach Beendigung des Vortrages in Sommerlyst blieb. Sie hatte sich ihm vorgestellt und ihm gesagt, wer sie sei. Und dann war sie mit ihm in eine Laube des Gartens getreten und hatte hier, umfächelt von den sanften Lüften der Frühlingsnacht, ihre Gedanken mit ihm ausgetauscht.
Sie sei im Begriff, zu erlahmen, hatte sie ihm, unter den Eindrücken der letzten acht Tage, mit einer Offenherzigkeit gestanden, als ob sie ihn lange Jahre gekannt, ihm schon immerdar ihr Vertrauen geschenkt habe.
Und der Mann, ein unerschütterlich Ueberzeugter, hatte das Haupt mit einer Miene bewegt, als ob er nicht zu hören brauche, als ob er ohnehin wisse, was in ihrer Seele sich vollziehe.
»Mir ging es wie Ihnen, Komtesse,« erklärte er. »Ich habe wohl hundertmal alles wieder beiseitewerfen, habe verzagen wollen.
Ich habe so viel Undank und so viele Nichtswürdigkeiten erfahren, daß ich im Zorn aufgeschrieen und in die Worte ausgebrochen bin:
»So helft euch selbst! Ihr verdient es nicht, daß ein ehrliches Menschenkind auch nur einen einzigen Schritt für euch thut! Ihr seid Riesen im Nehmen, im Empfangen und in der Selbstsucht, und kleiner als Ameisen in der Erkenntnis dessen, was ihr euch selbst schuldig seid, welche Dankpflichten ihr denjenigen zollt, die sich in eure Dienste stellen!
Mit dem Essen wächst euer Appetit bis ins Ungemessene. Ihr fordert zuletzt, wo ihr zu bitten habt.
Vor Monaten blieb eine Frau, der ich täglich Nahrungsmittel gespendet, plötzlich aus. Als ich ihr begegnete und sie fragte, weshalb sie nicht mehr komme, erwiderte sie mir in einem geringschätzenden Ton:
Es sei ihr das Essen bei mir nicht mehr gut genug. Sie verkehre jetzt in dem Hause eines Großkaufmanns und empfange dort andere, sehr viel bessere Speise.
Ich hatte auf der Zunge, ihr zuzurufen:
»Sie soll dir nicht werden, du Unverschämte! Ich werde jenem melden, welch' eine Unwürdige du bist!«
Aber ich gedachte des Elends, das dann vielleicht wieder eintreten würde, und verwandelte Zorn in Milde. Ich sprach auf sie ein und hielt ihr vor, auf welchem verkehrten Wege sie sei. Denn das ist unsere Aufgabe! Nicht zürnen, gar rächen, vielmehr vergeben, anleiten, durch sittliche Förderung des einzelnen Samen streuen für eine allmählich aufgehende, kräftige Frucht. Und glauben Sie:
So niederträchtig die Welt sich oft durchweg giebt, so ungerecht, so einseitig, sie meist urteilt, so birgt sie doch auch Edeldenkende. Es giebt ein sich an Wahrheit und Wirklichkeit haltendes Urteil, und das und das Eintreten jener Gerechten wird am Ende siegen.
Im allgemeinen hat die Welt einen sehr feinen Orientierungssinn, sie weiß sehr wohl zwischen den Wertvollen und Wertlosen zu unterscheiden. –
Harren Sie also aus! Schon leuchtet der Name der Grevinde Lavard durch die nordischen Lande. Daß sie Anfechtungen zu bestehen hat, daß man sie entweder eine Närrin oder eitle Abenteuerin schilt, das ist ein Los, das sie mit allen teilt, denen ein höherer Geistesflug innewohnt, die sich nicht damit begnügen, blos zu sein.«
Imgjor hatte dem Redner mit Begeisterung zugehört. Sie fing jedes Wort, das über seine Lippen ging, wie ein Evangelium auf. So schön, so verklärt waren seine Züge! Ueber der bleichen Stirn hing, gleichsam als Kennzeichen der Gleichgiltigkeit gegen alles Aeußerliche, eine Locke des schwarzen Haares, in seinen dunklen Augen glühte das Feuer der Ueberzeugung, und über ein krankes Hüsteln, das seine Rede unterbrach, sprach er mit jener milden Ergebenheit, die den Märtyrern eigen.
»Ich schaffe, so lange ich es vermag. Will der Schöpfer, daß ich aufhöre, so wird er seine Gründe haben, und einen anderen, Befähigteren, Stärkeren senden.«
Jetzt, in seiner Nähe, unter seinem Einfluß lehnte sich Imgjor wieder einmal gegen die nüchterne Ueberlegenheit eines Axel Dehn, eines Marquis von Curbière auf.
Es war sehr bequem, zu sprechen, wie sie es thaten.
Allmählich würde, nach ihren Worten und Ansichten, vom steten Regen der Zeit benetzt, der Felsen der zu großen Ungleichheiten zerbröckeln! Aber eben der Regen sollte wirken, damit auf dem Platze, wo das Gestein ruhte, fruchtbares Land sich aufthue! Selbst wollten sie sich nicht rühren, die Muskeln nicht anstrengen!
In ihm, dem Prediger Kollund, saß das, was einem Christus, einen Mahomed den Stab in die Hand gedrückt. Er war der berufene Vorkämpfer für die neue Lehre. Endlich hatte sie ihn gefunden.
Nachdem Imgjor mit Kollund verabredet hatte, daß sie sich noch einmal wiedertreffen wollten, nahm sie allein den Weg von Sommerlyst zu Fuß zurück. Ihre Wohnung lag in der Nähe des Rosenberger Schlosses in der Kronprinzeßgade.
Als sie nach einer sie stark beschwerenden Wanderung an die Ecke dieser und der Gothergade angelangt war, trat plötzlich ein junger Mensch auf sie zu und redete in sehr zudringlicher Weise auf sie ein. Und als sie ihm durch rasches Forteilen zu entrinnen suchte, war er ebenso schnell nochmals an ihrer Seite, wiederholte, die menschenleere Gegend benutzend, seine Anträge, und umfaßte, trotz Imgjors äußerstem Widerstand, ihren Leib.
»Sie sind doch Grevinde!« flüsterte er, sie fester und fester an sich ziehend. »So gewähren Sie doch einem armen, sehnsüchtigen Menschen auch einmal eine glückliche Stunde. Andere dürfen es! Warum wollen Sie es mir versagen? Ach, wie schön Sie sind! Ich sah Sie mit Kollund sitzen. Der Glückliche!
Ich bitte, mein süßes Kind – komm mit – komm mit auf die Bank! Laß uns plaudern. Höre, wer ich bin, und wisse, ich bin deiner wert!«
Imgjor fehlte der Atem und es versagten ihr die Worte. Sie wollte schreien, Hilfe rufen und vermochte es nicht. Mit ungeheurer Kraft hob er sie empor, trug sie in das Innere des Parkes und verschwand mit der Halbohnmächtigen unter den Bäumen.