Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im Rankholmer Palais hielt man Familienrat und dessen Gegenstand war, wie so oft, Imgjor.
Nur ein Mittel gab's, von dessen Anwendung Lucile und die Gräfin noch etwas erwarteten. Sie schöpften aus dem Umstande, daß in dem damaligen Gespräch der Geschwister in Rankholm ohne Zweifel ein starkes Interesse Imgjors für Axel zum Ausdruck gelangt war, die Hoffnung, er, Axel, werde durch einen klugen Anlauf vielleicht doch noch ihr Herz in einem für ihn günstigen Sinne rühren können. Daß in ihm die alten Gefühle nicht erloschen seien, hatte er gleich bei der ersten zwischen ihm und den Damen stattgefundenen Unterredung erklärt. Er hatte geäußert, daß ihn eine grenzenlose Sehnsucht beherrsche, sobald wie möglich in Imgjors Nähe zu gelangen. Und dieser Drang hatte sich bis ins Ungemessene verstärkt, als Lucile ihm nun auch – alle Bedenken, die sie früher mit Rücksicht auf sich selbst abgehalten – eröffnet hatte, was in jener Unterhaltung für ihn zu Tage getreten war.
Graf Dehn hatte die Neigung der Familie, den Aufenthalt in Kopenhagen noch um etwas zu verlängern, mit allen Mitteln zu befestigen und durch Unterredungen mit dem Grafen auch dessen Widerstand gegen seine Pflegetochter wesentlich zu mildern gewußt. Er hatte in förmlicher Weise um Imgjors Hand bei dem Grafen angehalten und von ihm die Erlaubnis erwirkt, nach seinem Ermessen die Schritte zu thun.
Zunächst verabredete er mit Lucile, die sich seinen Plänen mit liebenswürdigem Eifer widmete, die nun, nachdem ihr Herz durch einen anderen Mann, den sie hingebend liebte, ausgefüllt war – alle Bedenken und eifersüchtigen Regungen abgestreift hatte, daß sie Imgjor sogleich besuchen und ihr unter besonderer Begründung die Bitte vorlegen solle, Axel empfangen zu wollen. Lucile ging auch sogleich ans Werk.
Sie ließ sich, vorher noch einige die Trauer angehende Besorgungen erledigend, in der Lavardschen Equipage nach Imgjors Wohnung fahren und fand ihre Schwester in der vordem erwähnten Gemütsverfinsterung an ihrem Arbeitstisch.
Als die durch Gebines Anmeldung aus ihrem dumpfen Sinnen Emporschreckende Lucile vor sich sah, legte sie die Feder rasch und verlegen bei Seite, auch schob sie ihr Tagebuch, in das sie etwas hineingeschrieben, unter andere Papiere. Freilich erlitt der Schwertern Begegnung sogleich wieder eine Unterbrechung. Man schickte nach Imgjor, und diese eilte unter sanftem Ausdruck ihrer Schwerer Zustimmung erbittend, über die Straße an das Krankenbett einer armen Frau.
Und weil Imgjor ein längere Weile fortblieb, griff Lucile nach einem auf dem Tisch liegenden Buch und fand in diesem einige von Imgjors Hand herrührende, offenbar für das Tagebuch bestimmte, zufällig hier hineingeratene Niederschriften, die ihr Interesse fesselten. Sie lauteten: »Eine einzige That des Edelmuts und eine einzige Unvorsichtigkeit sind genügend, um einem Menschen für immer bei der Menge den Stempel seines Wertes oder seines Unwertes aufzudrücken. Vielleicht verdienten sie beides nicht. Zu allem gehört Glück, aber auch dazu, für etwas anderes zu gelten, als man ist.«
Und noch eine Betrachtung hatte Imgjor auf die andere Seite geschrieben, die Lucile las, bevor ihre Schwester wieder ins Zimmer trat: »Gehemmte Liebe gleicht einem vergeblich nach einer Flamme ringendem Feuer. Wie dort unter kämpfendem Rauch, unheimlichem Schwelen und Qualmen der Gegenstand zu Asche verglimmt, so hier allmählich unter dumpfen Qualen die Seele.«
Gleich darauf trat Imgjor wieder ins Gemach.
»Ich komme,« hub Lucile an und richtete einen liebenswürdigen Blick auf ihre Schwester, »um dich um etwas zu bitten: Graf Dehn möchte dich sprechen! Er beruft sich darauf, daß du ihm einst eine Unterredung zugefügt habest, und daß er, da er von diese keinen Gebrauch gemacht, noch Anrechte auf deine Zuvorkommenheit besitze. Wann willst du ihn empfangen, liebe Imgjor?«
Zunächst fuhr Imgjor zusammen, und ihre Wangen verfärbten sich. Wie von einer schweren Denklast bedruckt, senkten sich ihre Augenlider, und die Finger griffen, unter dem Druck der Erregung, in die Handflächen.
»Wann wünscht Graf Dehn die Unterredung?« warf sie tonlos hin. »Und wo?«
»Nun – bei dir – oder besser – bei uns!«
Imgjor schüttelte den Kopf.
»Was habe ich noch bei Euch zu thun, Lucile? Wir haben uns doch für alle Zeiten auseinandergesetzt.«
»Nur du hast es Imgjor! Nachdem du von deinem Eigensinn, öffentlich zu sprechen, Abstand genommen, ist Papa wieder versöhnlich gestimmt. Du wirst ihm sogar ganz die Alte sein, wenn –«
»Ja, ich weiß: Wenn ich allem – allem entsage! – Ach, Lucile –« setzte das seelisch tief bedrückte, junge Mädchen an, brach in Schluchzen aus und fiel, wie damals in Rankholm, von ihren Gefühlen übermannt, neben ihrer Schwester nieder. Und hier blieb sie liegen, und erst als Lucile mit rührender Güte immer von neuem auf sie einsprach, erhob sie sich und fand wieder Halt und Fähigkeit zum Sprechen.
»Du zeihst mich des Mangels an Liebe zu Euch!« stieß Imgjor heraus, hielt in der Beklemmung den Atem an und ließ ihn dann langsam wieder der Brust entweichen.
»Und doch schwöre ich dir, daß ich Euch allen die die größten Opfer bringen würde, die ein Mensch zu bieten vermag, daß ich Euch über alles liebe! Wie viele Nächte habe ich durchgeweint, daß ich so beschaffen, daß ich nicht bin, wie Ihr wünscht! Ach, könnte ich diesen Drang nach Höherem, Befreiendem, könnte ich dies Allgemeingefühl für meine Schwestern und Brüder in der Welt aus meiner Brust reißen, mich, wie andere, in engeren Grenzen glücklich fühlen, dort für meine Art volle Befriedigung finden, ich würde Gott auf den Knieen danken! In solchem Sinne – ich bitte – Lucile – fasse mein Naturell auf und so mühe dich, den Eltern immer wieder mein Wesen zu erklären. Denket, daß der Schöpfer Euch so erschaffen hätte! Dann werdet Ihr mich leichter begreifen.« –
»Ja – ich will's, meine liebe, arme Imgjor! Aber nun, ich bitte, erteile mir eine Antwort für Graf Dehn –«
»Da ich ihm mein Wort gab, will ich es halten, Lucile! Nur weiß ich nicht, wo es geschehen kann! Er muß also warten oder hierherkommen. Wann wollt Ihr reisen?«
»Die Trauer macht es erforderlich, daß wir wieder nach Rankholm übersiedeln. Nur um deinetwillen haben wir unsere Abschiedsvisiten noch aufgeschoben. Wir möchten den Kondolenzbesuchen entgehen, mit denen man schon beginnt. Auch andere Gründe sprechen dafür, nachdem Curbière abgereist ist. Nur Graf Dehn will seinen Aufenthalt noch einige Zeit ausdehnen und dann – nach der Lausitz zurückkehren. Er hat die Absicht, jetzt das Gut, das ihm sein Onkel vererbt hat, selbst zu übernehmen.«
»Was will er denn noch hier?« Imgjor sprach's mit ihrer alten Schroffheit.
Statt zu antworten, griff Lucile nach dem Schriftstück, das sie in dem Buch gefunden, und sagte: »Lasse mich dir als Erwiderung vorlesen, was du geschrieben hast, Imgjor!«
Und Lucile las: »Gehemmte Liebe gleicht einem vergeblich nach einer Flamme ringenden Feuer. Wie dort unter kämpfendem Schwelen, unheimlichem Rauch und Qualmen, der Gegenstand zu Asche verbrennt, so hier unter dumpfen Qualen allmählich die – Seele.«
Imgjor schloß erst die Augen. Blässe zog über ihre Wangen. Dann neigte sie das Haupt, reichte ihrer Schwester still die Hand und sagte: »Also morgen Mittag, Lucile, erwarte ich des Grafen Besuch. Wir werden dann für immer einen Abschluß erhalten.«
Lucile sah erschrocken empor. Einen so düsteren Klang hatten die Worte. Aber als sie in Imgjors Zügen forschte und dort einen Ausdruck sanfter Ergebung begegnete, zerstreuten sich ihre Gedanken.
Noch wenige Sekunden, dann hatten sich beide getrennt.