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Eine Lavardsche Equipage hatte eben Imgjor – es war halb drei Uhr morgens – vor dem Hause das sie seit ihrem Kopenhagener Aufenthalt bewohnte, abgesetzt. Stumm und ehrerbietig war Robert seiner früheren jungen Herrin beim Aussteigen behilflich gewesen, und nun schleppte sich das junge Mädchen, die Brust voll von den widerstreitendsten Empfindungen, die Treppe hinauf.

Der Prinz und Curbière hatten wiederholt mit ihr getanzt und sich beide außerordentlich eingehend mit ihr beschäftigt.

Der Prinz war ein Mann von Geist und feinen Manieren, aber nicht ohne starken Cynismus, Curbière dagegen ein Kavalier von seltener Gewandtheit, auserwähltem Geschmack und neben scharfem Verstande von einer Unbefangenheit in der Beurteilung menschlicher Dinge, die Imgjor in Erstaunen versetzt und außerordentlich angezogen hatte.

Er war ein ganz anderer als der übrige Schwarm der Männer. Lucile hatte wohl gewußt, was sie gethan hatte! Er ähnelte dem Grafen Dehn, demselben den sie, Imgjor, aus Trotz und Stolz von sich gewiesen.

Ein schwerer Kampf vollzog sich gegenwärtig in Imgjors Innern.

Ein Wesen von Fleisch und Blut, war auch ihr Herz einmal wieder in Bewegung geraten! Und gerade der Mann hatte Eindruck auf sie gemacht, der seine Hand vergeben und den sie – Scham, Reue und Auflehnung gegen sich selbst flogen in heißen Schauern durch ihre Seele – wegen seiner Schwärmerei für eine andere so scharf zu tadeln sich unterfangen hatte.

Was sie an ihm so streng gerügt hatte, war nun ihr eigen Teil geworden. Sie beschäftigte sich in ihren Gedanken mit dem Verlobten ihrer Schwester.

Allerdings gelangte sie zu einem anderen Ergebnis, als sie sich vorstellte, sie hätte Curbières Gattin werden können. Dann schob sich doch die Gewalt des Grafen Dehn in ihre Vorstellungen. Sie erkannte, daß nur die gewaltsam herabgedrückte Leidenschaft für ihn sich geregt, daß sie zu Curbière das mit jenem Uebereinstimmende im Wesen hingezogen, daß ihr Herz unwillkürlich – ihr unbewußt – Nahrung suchend, nach diesem Ersatz gegriffen habe.

Aber diese Probe hatte sie zugleich belehrt, daß sie sich von den Räumen der Paläste fern halten mußte. Die Schmeicheleien, die den Sinnen gebotenen Reize, die parfümierte Atmosphäre wirkten auf sie.

Reine Gedanken, und durch sie die Wiedererlangung der Ruhe ihrer Seele, mußte sie zurückerlangen.

Hatte sie nicht selbst darauf bestanden, daß man ihr eine Freiheit eingeräumt, wie sie jetzt sie besaß? Sie war ihr unter schwersten Kämpfen geworden. Sie hatte geschworen, auf die Liebe eines Mannes zu verzichten, jedenfalls niemals einem Axel Dehn den Triumph zu gönnen, das Eingeständnis ihrer Liebe zu hören.

Würde sie sich nicht dem höhnischen Lächeln der wahrsagenden Besserwisser preisgeben, wenn sie plötzlich ihren Vorfällen wieder untreu wurde, gar von dem Schauplatz ihrer Thätigkeit zurücktrat?

Sprach man doch in ganz Dänemark von Grevinde Lavard! Man hatte sie schon mit der heiligen Elisabeth in Deutschland verglichen. Und ihrer armen, verdorbenen Mutter hatte sie einen stummen Schwur geleistet, sich der unglücklichen, den Verfluchungen ausgesetzten Frauen anzunehmen! Sollte sie ihn brechen? Nein, niemals!

Sie preßte gewaltsam alles in sich nieder, was ihre Entschlüsse wankend machen konnte.

Und zu all' diesen Vorstellungen gesellte sich heute wieder auch die Erinnerung an Prestö.

Noch einmal war Imgjor ihm begegnet, damals, als sie zur bleibenden Uebersiedelung nach Kopenhagen unterwegs gewesen.

Sie hatte ihn mit einem jungen Mädchen, sicherlich seiner Braut, auf der die beiden dänischen Inseln verbindenden Korsörer Fähre gesehen, und da er sie nicht einmal gegrüßt hatte, waren die Gefühle der Empörung, des Schmerzes und der Gedanke, jedermann vor diesem gefährlichen Menschen zu warnen, wieder in ihr aufgestiegen.

Aber gerade das Mädchen an seinem Arm war als ein Engel zwischen ihn und sie getreten. Ihr Erscheinen hatte alle rachsüchtigen Regungen in Imgjor erstickt. Ingeborg Jensen hatte ihr damals geschrieben, hatte sie beschworen, ihrem Verlobten zu vergeben, und ihren flehenden Worten war Imgjor mit ihrem weichen Herzen erlegen. –

Fast eine Stunde hatte Imgjor schon, in solche Gedanken verloren, dagesessen. Die Geschmeide hatte sie abgethan, das Kleid von ihrem Körper gelöst. Sie glich, als ihr Blick zufällig in den Spiegel fiel, einer marmornen Psyche.

Und bevor sie ihr Lager aufsuchte, ergriff sie ein dänisches Buch, das auf ihrem Tisch lag.

»Was ist Glück?« lautete der Titel.

Was ist Glück? Ja, was war Glück? Pflichtübung führte es zunächst herbei. Aber Pflichterfüllung war auch ein dehnbarer Begriff. Mit Pflichterfüllung verband sich starke Selbstentäußerung – und sie brachte Kämpfe, die aber machten doch nicht glücklich! War sie denn überhaupt glücklich?

Sie schüttelte wehmütig den Kopf.

Nein! Es hatten die Recht behalten, deren Weisheit sie bespöttelt hatte.

Wo herrschte die größte Vernunft? Ihre Erfahrung hatte ihr darauf die Antwort erteilt: Bei denjenigen, welche die Dinge dieser Welt nicht mit Ungestüm anfassen, sondern mit besonnener Vernunft, die, ohne daß sie stumm oder laut darüber philosophieren, wissen und daran festhalten, daß Zeit und Umstände Mitordner der Dinge sind; die den guten Mittelweg einschlagen, ihn stetig beschreiten, wenn auch auf den Nebenwegen noch so viele Harfen mit süßklingenden Tönen locken; die endlich vom Tage und von den Stunden nicht mehr begehren, als sie nach Lage der Dinge herzugeben vermögen und wofür sie, die Fordernden, aufnahmefähig sind.

Sie aber, Imgjor, jagte unruhig einem von allen Vernünftigen als Phantom bezeichneten Ziele nach, erntete keinen Dank, wohl aber meistens das Gegenteil. Die Empfänger ihrer Wohlthaten hatten ihr schon oft erklärt, daß man sie ja nicht gerufen, daß sie sich aufgedrängt habe, daß man ohne sie auch und besser fertig geworden wäre!

Dann hatte sie sich hingesetzt und wie ein Kind – und immer noch ein solches an mangelnder Erfahrung – bitterlich geweint.

Ja, wie anders war die Welt der Vorstellungen und die der Wirklichkeit! Curbière hatte ihr gesagt, und aus jedem Wort hatte sie Axel Dehn sprechen zu hören vermeint:

»Wir leiden an drei Krankheiten: der einst den Frauen nachgesagten, jetzt der Männerwelt anhaftenden Eitelkeit, der Verbesserungs- und gegenseitigen Bevormundungssucht.

Die schlimmsten Verderber unserer heutigen Zustände sind diejenigen, welche, statt der Zeit ein allmähliches Reisen der Dinge anheimzugeben, sich zu Staatsverbesserern aufwerfen, den Eitelkeitsspiegel zur Betrachtung ihrer ungeheuren Weisheit und Bedeutung allezeit in der Tasche tragen, fast ausnahmslos aus diesem Grunde auch nur handeln, selbstgefällig, erhobenen Hauptes, reden, reden und wieder reden, begründen und Resolutionen fassen.

Wir besitzen die Mittel zur Verbesserung unserer Lage in nächster Nähe. Aber wir stecken so sehr im Sumpf unserer Selbstsucht, gepaart mit Verweichlichung und Genußsucht, daß wir durch künstliche Mittel ein Gleichgewicht erzwingen wollen. Zu einer Gesundung unserer Zustände können wir nur gelangen, wenn wir alle zu einfachen, natürlichen Verhältnissen zurückkehren, wenn jeder streng in seinem Wirkungskreise seine Pflicht erfüllt, erst sorgsam sein Haus bestellt und dann auch dem Nachbar hilfreich die Hand bietet, und wieder letzterer dem nächsten, also, daß jeder geduldig, wachsam und treu der Last sich fügt, die schwer oder minder schwer auf seinen Schultern ruht; wenn endlich die sozial Bedrohten von den Gegnern einer ruhigen Entwickelung der Dinge, nämlich den Sozialdemokraten, die Kunst der Einigkeit und Opferfreudigkeit erlernen, fest und unzerreißbar sich zusammenscharen und handeln, sobald Umstürzler die begehende Ordnung untergraben wollen.

Jedem Menschen gab die Natur, wie dem Tiere, die Werkzeuge zum Kampf um seine Existenz mit.

Sie soll er zunächst gebrauchen, nicht nach fremder, künstlicher Hilfe sich umschauen.

Auf Beistand von Seeschiffen rechnen, wenn man auf Auen in Kähnen fährt, ist das Beginnen von Thoren.

Was war es denn, so fragte sich Imgjor, was sich immer wieder in ihrer Seele regte und dennoch Lehren und Erfahrungen beiseite schob? Sie fand keine Antwort darauf.



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