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Mit dieser süßen Hoffnung tröstete sich Thora vier Wochen lang, und dann geschah etwas was alle ihre Annahmen zerstörte. Es war der Vorabend der Proklamation, und das Komitee, von dem Oskar der Vorsitzende war, hatte zwecks Vervollständigung der Festvorbereitungen einen Besuch nach Thingvellir beschlossen. In dieser Angelegenheit sollte Helga mit von der Partie sein, und da es so vieles zu tun gab, wollten sie die Nacht in der Pachtausspannung schlafen und am nächsten Tage zurückkehren. Als Oskar dies Programm verkündete, ging eine plötzliche Umwandlung mit der sonst so langmütigen und demütigen Thora vor.
»Dann muß ich ebenfalls mit,« sagte sie.
»Du? Du, Thora?« fragte Oskar. »Woran denkst du nur? Dreiunddreißig Meilen Entfernung – in jener öden Gegend – ohne Doktor oder Wärterin und dabei so nahe vor deiner Zeit. Das ist unmöglich! Ganz unmöglich!«
»Dann darf Helga auch nicht mit.«
»Aber Helga ist uns so nützlich, so unentbehrlich.«
»Das ist mir einerlei. Wenn ich nicht mitgehen kann, darf Helga es ebenfalls nicht.«
»Meine liebe Thora, dies sieht dir ja gar nicht ähnlich. Aber wie du willst. Es wird etwas beschämend für mich sein, es Helga und dem Komitee mitzuteilen, wenn du es indes wünschest –. Nein, nein, du darfst nicht weinen. Du darfst dich nicht aufregen. Meine liebe kleine Frau muß sich während meiner Abwesenheit sehr ruhig halten – sehr, sehr ruhig.«
Zwei Stunden nachdem Oskar sich auf den Weg gemacht hatte, erschien Helga im Gouvernementshaus. Thora war allein, und die Schwestern standen sich einige Sekunden stumm gegenüber. Endlich sagte Helga:
»Nun, ich hoffe, du bist nun zufriedengestellt. Nachdem du deine törichte Eifersucht ausgelassen und uns zum Stadtgespräch gemacht hast, hoffe ich, bist du zufrieden.«
»Oskar sagt, ich sollte mich ruhig verhalten, Helga, und du weißt, daß ich das muß.«
»O, allem Anschein nach kannst du dich genugsam aufregen, wenn es gilt, deinen erbärmlichen Gesinnungen Ausdruck zu geben. Weil ich auf Oskars Ideen eingegangen bin und ihm zu helfen und ihn anzuregen versucht habe, mußt du, die du nie mit ihm sympathisiert hast und ihm, weil du ihn nie verstehen wirst, und er dir himmelweit überlegen ist, niemals eine Hilfe sein kannst – mit deiner kleinlichen Bosheit kommen –«
»Helga! Du hast mir nie Liebes erwiesen – nie, seit du vor einem Jahr nach Hause gekommen bist – nun aber bist du grausam.«
»Bin ich das? Vielleicht, ja. Und vielleicht habe ich soviel gelitten, daß es mich grausam gemacht hat.«
»Helga, du sprichst gerade, als ob deine Enttäuschung von heute morgen, nicht mit Oskar gehen zu können, eine große, schmerzliche Begebenheit sei. Du scheinst aber ganz vergessen zu haben, wie oft ich auf dieselbe Weise enttäuscht worden bin.«
»O, ich glaube gar, du hältst dich für sehr bemitleidenswert.«
»Ich sage nicht, daß ich bemitleidenswert bin, Helga, denn ich weiß, es war anfänglich meine eigne Schuld. Aber ich muß sagen, ich habe, seit du von Dänemark zurückgekommen bist, keinen einzigen friedlichen Moment gekannt. Ich überredete Vater, dich kommen zu lassen, weil du meine Schwester bist, und ich dich an meinem Glück teilnehmen lassen wollte. Du aber hast mir nie schwesterliche Gefühle bezeigt – niemals. Im Gegenteil, du fandest mich glücklich und du hast Unglück über mich gebracht. Du hast dein Bestes getan, mir das Leben unerträglich zu machen.«
»Ich dachte, du sagtest, du solltest dich nicht aufregen, Thora?«
»Du bist es, die mich aufregt, Helga, weil du mich stets auf die grausamste Weise quälst und mich dort kränkst, wo du weißt, daß ich am empfindlichsten bin. Von Anfang an hast du versucht, mir Oskar abspenstig zu machen – du weißt das selbst. Du versuchtest es vor unserer Hochzeit und hast es seitdem unaufhörlich getan. Du hast dich nicht einmal geschämt, es während unserer Flitterwochen zu tun, und du tust es jetzt, denn du hast alles Gefühl für Pflichttreue und Gerechtigkeit oder Reue oder selbst Scham verloren.«
»O, ja,« sagte Helga, »du hältst dich für eine große Märtyrerin, und es würde dich vielleicht erstaunen zu hören, daß außer dir noch jemand ein weit größeres Märtyrertum zu ertragen hat? Du beschuldigst mich, dir Qualen verursacht zu haben – was aber wegen der Qualen, die du mir bereitest?«
»Ich dir, Helga?«
»Ja, du mir! Du redest, als ob ich die Art von Frau sei, die einen Mann umgarnt, ihn der Frau, die er liebt, abspenstig macht und ihn ins Elend stürzt. Du wärest der Wahrheit näher gekommen, wenn du mich dir als das gerade Gegenteil vorgestellt hättest, als ein Mädchen das selbst duldet, das ausgeschlossen und verdammt ist, ihr Leben einsam und ehelos zu verbringen, weil der Mann, der sie liebt, an jemand anderes gefesselt ist.«
»Helga!«
»O, ich würde Rücksicht auf deinen Zustand genommen haben, du hast es aber nicht zugelassen. Und nun, da du doch einmal die Wahrheit zu hören wünschest, will ich sie dir nicht vorenthälten.«
»Und was wäre die Wahrheit, Helga?«
»Die Wahrheit ist, daß Oskar dich überhaupt nicht liebt – vielleicht nie geliebt hat.«
»Helga!, wie darfst du es wagen!? Die Unwahrheit deiner Aussage liegt auf der Hand. Wenn Oskar mich nie geliebt hätte, wie könnte ich seine Frau sein? Welch einen Vorteil konnte es ihm bringen mich statt deiner zu wählen? Unter welch einem Zwang stand er etwa? Wenn er mich nicht liebte, weshalb etwa hat er mich geheiratet?«
»Er heiratete dich aus Mitleid und aus einem falschen Pflichtgefühl, weil er sich verpflichtet hatte, dich zu heiraten und er es nur für ehrenhaft hielt, seinen Teil des Vertrages inne zu halten. Seine Liebe jedoch gehörte einer anderen und so brachte er beide zum Opfer.«
»Das ist eine Lüge, Helga, das ist eine Lüge und nur deine Eitelkeit läßt dich das sagen!«
»O, denke nicht, daß ich, ohne dessen gewiß zu sein, so etwas sagen würde. Ich habe es von ihm selbst –«
»Selbst – von ihm selbst?«
»Aus seinem eignen Munde, an deinem Hochzeitsabend.«
»An dem Abend – seiner – Hochzeit – mit mir – sagte er dir –«
»Sagte er mir, daß er mich liebe. Und wenn er es seitdem nicht wieder in klaren Worten ausgesprochen hat, so hat er es auf eine andere Art wieder und wieder getan. Er liebt mich noch –«
»Nein!, nein!, das ist nicht wahr!«
»Er wird mich ewig lieben.«
»Es ist nicht wahr; es ist nicht wahr!«
»Und dich liebt er nicht mehr als ein Mann seinen Hund oder sein Pferd, oder als der Mann in den biblischen Tagen die Zwangsmagd seines Weibes liebte.«
»Helga, schämst du dich nicht! Geht dir jegliches Gewissen, jegliche Wahrheitsliebe ab, daß du mir so etwas vorlügen kannst? Wenn Oskar mich nicht geliebt hätte, glaubst du etwa, ich würde dies nicht schon lange gemerkt haben? Und wenn er dich liebte, glaubst du etwa, ich würde es nicht wissen? – Ich, die ich sein Kind trage?«
»O, damit brauchst du mich nicht zu verhöhnen, Thora. Ja, dein sind die Lippen, die ihn wieder und wieder küssen, auf die Lippen aber kommt es nicht an – sondern auf die Liebe hinter den Lippen – und die Liebe gehört mir, und jedesmal, wenn er dich küßt, ist der Kuß für mich bestimmt.«
»Du lügst! Helga, du lügst!«
»Was kümmert es mich, daß du die Zwangsmagd bist, die sein Kind im Schoße trägt? Mein Kind wird es sein und meine Züge wird es tragen, wenn es zur Welt kommt –«
»Nein, das ist unmöglich!«
»Es ist aber so – es ist so! Du weißt, daß es das ist.«
Thora rang nach Atem. Dann kam eine merkwürdige, sie fast unkenntlich machende Veränderung über sie. Die sanfte und geduldige Frau schien plötzlich wie vom Teufel besessen. Etwas Fremdes und Entsetzliches schien sich momentan ihrer Seele zu bemächtigen. Der blutdürstige Impuls wilder Tiere schien sie zu ergreifen und gefangen zu halten. Einen Augenblick stand sie ihrer Schwester krampfhaft zuckend und leichenblaß gegenüber und dann rief sie mit einer vor Wut und Scham heiseren Stimme:
»Gut, wenn das so ist, und mein Kind nicht mir gehört, wenn es in der Liebe zu einer andern Frau erzeugt worden ist, und ich nur die Zwangsmagd bin, die es trägt – dann – dann – dann – soll es überhaupt nie geboren werden, oder wenn es geboren wird – werde ich – werde ich – werde ich es töten!«
Dabei brach sie in ein schallendes Gelächter aus und fiel auf die Dielen.
Der Lärm brachte Anna atemlos ins Zimmer.
»Was hast du ihr getan? Was hast du ihr gesagt? Thora! Thora!«
»Töten will ich das Kind. Ich werde es töten – ich werde es töten!«
Das wilde, laute Lachen dauerte fort und nahm zu, bis der Gouverneur aus seinem Zimmer gestürzt kam. Er hörte einige Minuten dem tollen, mörderischen Geschrei zu und sagte dann: »Laßt sie uns aufheben und in ihr Bett tragen. Helga, laufe zum Doktor und zu Margret Neilsen. Sag' ihnen, daß sie sich eilen. Sie ist in Kindesnöten – es ist keine Zeit zu verlieren.«