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Die Sommersitzungen des Parlamentes sollten fast umgehend ihren Anfang nehmen, und Oskar stürzte sich Hals über Kopf in die Vorbereitungen für seinen Feldzug. Er hatte einen Antrag in Vorschlag zu bringen, demgemäß die Beschlüsse des Althing in Zukunft wie früher in vergangenen Zeiten wieder vom alten Berg der Gesetze in Thingvellir herab verkündet werden sollten. Es war seine erste Rede und viel hing von ihr ab. Ehe er sie niederschrieb, ging er nach dem Hause des Faktors hinüber, um ihren Entwurf und Inhalt mit Helga zu besprechen. Nachdem er sie niedergeschrieben hatte, ging er abermals hinüber, um sie Helga vorzulesen und ihren Rat einzuholen. Und als er sie auswendig gelernt hatte, ging er zum dritten Male, um sie Helga vorzutragen. Es war Helga vom Morgen bis Abend, Tag aus, Tag ein, bis zum Tage der Eröffnungssitzung.
»Helga ist eine große Politikerin, dich interessiert die Politik aber nicht im geringsten, nicht wahr, Thora?« pflegte Oskar zu sagen. Und Thora, obgleich ihr die Kehle wie zugeschnürt war, antwortete: »Nein, nicht im geringsten.«
Thora und Helga waren beide gegenwärtig bei Oskars erstem öffentlichen Erscheinen. Sie nahmen Besitz von des Gouverneurs Vorzimmer, das in die Parlamentshalle hinausführte. Die Galerien waren mit Zuschauern überfüllt, und es herrschte eine allgemeine Spannung, als Oskar aufstand, um seine Rede zu halten. Thora überkam beim ersten Laut seiner Stimme ein ohnmächtiges Gefühl, und sie würde geflohen sein, wenn sie gekonnt hätte, Helga aber hielt sie auf ihrem Stuhl nieder.
»Still! Um des Himmels willen, still,« flüsterte sie. »Du würdest ihn nur noch nervöser machen.«
Die Rede hatte großen Erfolg. Sie war eine Befürwortung für die Aufrechterhaltung der alten Gebräuche – alles dessen was Island zu dem mache, was es sei – das Land der Saga und des Gesanges. Selbst die Fortschrittspartei, die vieles von der Rede für leeren Bombast hielt, wurde von dem Enthusiasmus und der Begeisterung, der Poesie und Leidenschaft des jungen Redners mit fortgerissen. Nachdem Oskar geendet hatte, brach ein Beifallssturm aus; die Leute auf der Galerie klatschten in die Hände, und Helga erhob sich und schwenkte ihr Taschentuch; Thora aber bedeckte ihr Gesicht und weinte in ihre Handschuhe hinein.
Der Beschluß wurde einstimmig angenommen und Oskar zum Vorsitzenden eines Komitees ernannt, das die nötigen Vorbereitungen treffen sollte. Diese Aufgabe nahm seine ganze freie Zeit während der sechswöchentlichen Parlamentssitzung in Anspruch. Es brachte ihn täglich ins Haus des Faktors, denn Helga war voll von Plänen für die große Feier. Durch seine morgendlichen Parlamentssitzungen und nachmittäglichen Besuche im Faktorhause war Oskar fast beständig von Hause fort, und Thora sah wenig von ihm. Jeden Abend kehrte er mit endlosen Entschuldigungen und einem Schwall von Rechtfertigungen zurück. Sie hätten die Sagas nach der richtigen Reihenfolge der Prozession in alter Zeit durchstöbert, oder sie hätten die Fahnen gewählt, die über den Felsen wehen sollten, oder sie hätten den Hymnus für die Feier komponiert – Oskar hatte einen in einem Augenblicke improvisiert und Helga hatte ihn niedergeschrieben.
»Und was hat mein liebes, kleines Kind den ganzen Tag über gemacht? Sich einsam gefühlt? Wie abscheulich! Darüber bin ich aber traurig – sehr, sehr traurig,« pflegte er dann zu sagen.
Und Thora antwortete ihm denn wohl: »Denke nicht an mich, Oskar, du hast deine Arbeit zu tun, ich wollte nur, ich könnte dir wie Helga dabei helfen.«
Während der langen Stunden ihrer Einsamkeit jedoch, wenn sie mit in den Händen vergrabenem Gesicht und auf dem Kaminvorsatz ruhenden Füßen dasaß, sank ihr wohl das Herz und verbitterte sich ihre Seele. Nur Anna, vorgeblich blind gegen das, was jedem andern Auge ersichtlich war, pflegte während solcher Stunden aufheiternd und tröstend um sie zu sein.
»Anna,« sagte Thora schließlich, »als Magnus hier war, fragte er mich eine so sonderbare Frage.«
»Was war es, Thora?«
»Er fragte mich, ob es mir nicht leid sei, daß Helga mit uns auf Reisen gegangen sei.«
»Und ist es das?«
»Zuweilen – vielleicht ist es töricht – aber zuweilen kommt es mir vor, als ob ich es bereue.«
»Ich weiß. Ich glaube, ich weiß. Und es ist durchaus nicht töricht von dir, mein Herzblatt. Ich muß mit ihm reden – ich muß ernstlich mit ihm reden.«
»Es ist nicht Oskars Schuld, Anna. Helga ist so selbstsüchtig.«
»Ja, darin gleicht sie einer gewissen anderen Person, Thora.«
»Sie wußte auf unserer Reise Oskar stets von mir fortzulocken.«
»Eure Reise ist nun jedoch zu Ende, und er muß sein Betragen ändern.«
»Ah, nein! Der Teil unserer Reise ist noch nicht zu Ende, Anna. Manchmal will es mich dünken, als ob er eben jetzt erst begonnen hätte.«
»Du willst doch nicht etwa sagen, daß Helga versucht –«
»Helga kennt kein Mitleid. Wenn sie einmal Macht über jemand gewonnen hat, gibt sie ihn nie wieder auf.«
»Glaubst du etwa, daß sie versucht, Oskar in ihre Macht zu bekommen?«
»Ich glaube, das hat sie schon.«
»Du mußt nicht so etwas von deinem Manne sagen, Thora.«
»O, ich verdenke es Oskar nicht. Helga ist so schön, so klug. Sie hat alles vor mir voraus.«
»Halt! Da bist du durchaus im Irrtum, Schatz. Es gibt einen Punkt, in dem unsere kleine Thora alles vor Helga wie vor den sämtlichen Frauen der übrigen ganzen Welt voraus hat.«
»Ja, in Oskars Augen – du wirst die Mutter seines Kindes sein.«
»Wird das einen Unterschied machen?«
»Unterschied? Nun wahrhaftig, das wollte ich meinen. Meine selige Mutter pflegte zu sagen: ›Bei verheirateten Leuten sind es die Kinder, die den Topf im Kochen erhalten.‹«
»Du glaubst, daß Oskar nach der Geburt meines Kindes zu mir zurückkehren wird?«
»Gewiß glaube ich das.«
»Und daß er mich nie wieder verlassen wird?«
»Nie! Oskar ist stets sehr kinderlieb gewesen – warte nur bis er ein eignes Kind hat, dann wirst du es sehen.«
»Nun, du bist seine Mutter – du kennst ihn am besten, Anna.«
»Verlasse dich auf mich, Thora! Die Quelle ist nichts wert, der man das Wasser zutragen muß, nachdem jedoch das Kind geboren ist, wird Oskar wieder von vorne beginnen.«
»Glaubst du das wirklich? Ganz gewiß? Du glaubst, Oskar wird mich meines Kindes willen wieder lieben?«
»Jeder Mann mit einem guten Herzen muß das – und Oskars Herz ist gut – was immer sein Kopf auch sein mag.«
»Ja, das ist es, das ist es, Anna!«
»Er muß die Mutter des Kindes wegen, und das Kind der Mutter wegen lieben.«
»Wie herrlich! Wie schön!«
Thoras eigne Augen blickten nun wie Kinderaugen, so voller Erwartung und Liebe in die Welt. Sie begann jetzt die Wochen, die bis zur Erfüllung ihrer Zeit vergehen mußten, zu zählen.
»Neun Wochen noch – nicht ganz neun – acht – denke dir, Mutter, nur noch acht. Wie wünsche ich, es wäre nicht mehr solange. Ich pflegte der Zeit mit Bangen und Sorgen entgegenzusehen, aber es ist nicht des Fürchtens wert, wenn soviel Freude durch ein wenig Schmerz erkauft werden kann – nicht wirklich – nicht wahr, das ist es doch nicht?«