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Zweites Kapitel.

Während Annas Besuch auf dem Pachthof kamen zwischendurch Nachrichten über die Hochzeitsreisenden an. Die im Gouvernementshause und beim Faktor einlaufenden Briefe wurden ihr mit der einmal wöchentlich gehenden Post nachgeschickt. Der erste derselben war ein gemeinschaftlicher, von allen drei Reisenden an alle zu Hause gerichteter Brief und kam aus England. Oskar hatte ihn mit einer scherzhaften Reisebeschreibung von ihrer Abfahrt mit der »Laura« an begonnen.

 

»Sobald wir das Schiff nur betreten hatten, wurde uns mitgeteilt, daß Kapitän Zimsen uns seine eigne Kajüte überlassen hätte, und von jenem Moment an bis zu dieser Stunde ist uns von allen, besonders von Vaters Universitätsfreunden, dem Professor in Oxford und dem Bankier hier in London unbeschränkte Gastfreundschaft erwiesen worden. Selbstredend sind wir uns voll bewußt, daß es der Name des Gouverneurs allein ist, der diese Zauberkraft bewirkt, und darauf hin zolle ich ihm meine ganz spezielle Hochachtung, wenngleich ich kaum glaube, daß er mich je angenehmer wird berühren können, als er es an meinem Hochzeitsmorgen als Unterschrift jenes reichen Schecks tat.«

 

»Ha, ha!« lachte Anna, »die Maus weiß den Rückweg zu ihrem Käse hin zu finden.«

Helga war die nächste mit einer glühenden Beschreibung der Londoner Theater, Bildergalerien und Opernhäuser.

 

»Nicht die Hälfte ist mir gesagt worden, wie es in dem dicken Buche heißt, und ich kann immer weniger begreifen, weshalb ein armes Mädchen verurteilt sein sollte, ihr Leben in einer Wildernis zu verbringen, wenn sie in einer so viele kluge und schöne Leute bergenden Welt leben kann.«

 

»Hm! Es ist geringe Arbeit, Wasser über einen Felsen auszuschütten,« sagte Anna.

Thora kam als letzte mit nur wenigen, etwas trübselig klingenden Zeilen. Alles wäre ohne Zweifel sehr herrlich, doch rege sich in ihr ein ganz kleiner Anflug von Heimweh. Sie mache sich nicht so viel aus Opern und Bildergalerien, und deshalb müsse Oskar Helga allein dorthin führen.

 

»Ich sitze am liebsten am Hotelfenster und schaue auf die Menge auf dem großen Platze hinab! Solch eine Menschenmasse! Immer kommend und gehend, und kaum daß je einer ein Wort mit dem andern wechselt! Das fällt einem im Anfang als das merkwürdigste auf. Es scheint so sonderbar, daß die Leute in den Straßen sich nicht einmal dem Ansehen nach kennen, und daß jede vorübergehende junge Person irgendwo ihre eigne Familie – ihren Mann vielleicht und ihre eignen Kinder hat, zu denen sie zurückeilt. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber es gibt mir ein so verlassenes Gefühl, und ich sehne mich dann fast nach meinem lieben, süßen, heimatlichen, alten Island zurück.«

 

Anna war der Schreibschrift nicht mächtig, und so mußte Magnus ihr den Brief vorlesen. Als er zu Thoras Teil kam, wurde der Ton seiner Stimme trüb und sie versagte ihm.

Der folgende Brief war aus Paris und von Helga allein geschrieben.

 

»Diese Sehenswürdigkeiten! Dieser Luxus! Diese Lustbarkeiten und diese traumgleichen Toiletten! Und dann die Musik – Verdi, Wagner, Chopin, Grieg! Wir sind jeden Abend in der Oper, d. h. Oskar und ich, Thora macht sich nicht viel aus der Musik. Thoras Hauptvergnügen ist, nach dem Blumenmarkt bei der Madeleine-Kirche zu gehen und den Kindern beim Spiel zuzusehen, und ihrem Gesicht nach sollte man meinen, daß sie nichts sehnlicher wünsche als sich beteiligen zu dürfen.«

 

»Gerade wie Thora,« sagte Anna.

 

»Neils ist hier – Neils Finsen. Er hat einen Kursus auf der Musikschule beendet und steht irgendwie mit der Covent-Garden-Oper in London in Verbindung und ist in Direktionsangelegenheiten nach Paris gekommen. Er scheint herrlich vorwärts zu kommen, und ich könnte ihn fast beneiden. O, voranzukommen im Leben! Für immer jenem grauen Himmel und allen jenen eisigen Umgebungen entrinnen zu dürfen! Was würde ich darum geben! Nichts sollte mich am Erfolg verhindern, wenn sich mir nur die Gelegenheit böte! Und wer weiß – vielleicht tut es das noch eines Tages! Neils behauptet, meine Stimme habe sich wundervoll entwickelt, und ich übe jetzt jeden Tag. Um es in der Musik jedoch zu irgend etwas zu bringen, muß man hier oder in London oder in Leipzig sein, und das ist sehr kostspielig. Ich habe so schon fast keinen Pfennig mehr und komme mir so entsetzlich schlumpig vor, daß ich, wenn mir nicht irgend jemand –«

 

Der Brief war an den Faktor gerichtet, und er hatte das Ende desselben weggeschnitten.

»Hm! Hm!« sagte Anna, »jung gewohnt alt getan.« Und darauf aßen sie ihre Abendmahlzeit von geräuchertem Hammel und Schwarzbrot stillschweigend und läuteten die Glocke zur allgemeinen Andacht.

Der dritte Brief der Hochzeitsreisenden kam aus Italien und war von Oskar allein geschrieben. Die Post, die ihn brachte, hatte ein Schneetreiben überfallen und sie war genötigt gewesen, zwei Nächte auf der Moosberger Heide Unterkunft zu suchen. Auf der Pachtausspannung waren die Viehhürden buchstäblich begraben, und Magnus und seine Knechte vom Morgen bis zum Abend bis an die Hüften hinauf im Schnee stehend beschäftigt gewesen, einen Weg durch den Schnee hindurch zu schaufeln, damit das Vieh gefüttert und getränkt werden könnte.

 

»Bei Euch in Island wird alles weiß sein, hier in Italien aber knospen die Rosen und ist blauer Himmel und balsamische Luft. Welch eine köstliche Zeit wir verlebt haben! Von Venedig, der Stadt des Schweigens und Träumens, kamen wir über Florenz, die Stadt des Sonnenscheins, und Rom, die Stadt der Städte, nach Neapel, der Stadt des Gesanges. Italien scheint das ganze Europa musikalisch zu stimmen. Liebliches und geliebtes Italien! Wenn nur irgend jemand das auch für Island tun wollte! Rauhes, dürres, starres, altes Island! Aber Geduld – nur Geduld – vielleicht wird es doch noch einmal jemand tun!«

 

»Ah Oskar, Oskar,« sagte Anna, »es ist leichter zwölf Berge zu zählen als einen zu erklimmen.«

 

»Helga genießt unsere Reise fabelhaft. Jede Minute des Tages ist sie draußen und gewinnt sich Freunde auf jedem Schritt. Thora, das arme Kind, scheint nicht sehr wohl und macht sich wenig aus dem Umhergehen. Wir reisen nächste Woche nach der Riviera und kommen von dort zurück nach Island. Ich muß natürlich zur Eröffnung des Althing zu Hause sein, Helga tut es um jeden Tag leid. Es ist jetzt zwei Uhr morgens und wir sind gerade von einem Veglione – das heißt von einem Maskenball – zurückgekommen. Es war gestern der letzte Tag der Fasten. Blumen, Flaggen, Konfetti und solche Toiletten! Helga sah prachtvoll in einem hochmodernen, hellblauen Chiffonkleide aus und war außer Frage die Schönheit des Abends. Die arme Thora mochte nicht mitgehen, sie blieb deshalb im Hotel und legte sich früh schlafen.«

 

Magnus und seine Mutter legten sich an dem Abend, als sie diesen Brief gelesen hatten, ebenfalls früh schlafen. Anna läutete die von einem Balken der Vorhalle herabhängende Glocke, und die Dienstboten kamen in ihren Pelzpantoffeln und wollenen Strümpfen zur Abendandacht hereinmarschiert. Als Bibelkapitel wählte Magnus die Geschichte von dem Kruge der Witwe und als Gesang den Choral:

»Sanft und mild, sanft und mild
Grüßt mich meines Heilands Bild.«

Der letzte Brief, den sie von den Reisenden erhielten, kam am ersten Frühlingstage, als es zu tauen begonnen hatte, und das Wasser auf den Bergen wie Tränen von einem runzligen Gesicht am schmutzigen Schnee herablief, und die Schafe zu lammen anfingen. Er war von Monte Carlo und von Thora an Anna selbst gerichtet.

 

»Dieser Ort ist so wunderbar schön, Anna, und doch glaube ich nicht, daß ich mir viel aus ihm mache. Die Häuser sind alle herrliche Paläste, aber sie kommen mir nicht so gemütlich und bequem wie unsere kleinen, isländischen Häuser vor. Ich wage dies nicht vor Oskar zu sagen, er möchte mich sonst für undankbar halten, und es gibt jedenfalls auch keinen Nebel oder Dunst hier und keine hohen, weißen Wellen, denn die See ist stets blau; die Bäume sind natürlich wundervoll und die Blüten köstlich! Manchmal haben sie hier einen Karneval und dann wird überall mit ganzen Wagenladungen voll Blumen herumgeworfen; am andern Tage aber könnte es einen erbarmen, wenn man sieht, wie die armen zertretenen Rosen auf den Straßen zusammengefegt werden.

Am Nachmittag spielt ein Musikkorps in einem Garten, und dann fährt man in einem Wagen dort immer rund herum. Am Abend geht man in ein Restaurant – größer als unser Gewerbe-Museum – und während man sein Diner ißt, zwei- oder dreihundert Menschen zu gleicher Zeit und alle Damen in ausgeschnittenen Kleidern, spielt dort ein anderes Musikkorps. Darauf geht man ins Kasino, wo alles still und sehr dunkel ist, und die Leute rund um Tische herumsitzen und Karten um Geld spielen. Alle Leute spielen hier, denn für alle scheint es ein beständiger Feiertag zu sein.«

 

»Ah, nur nie für den Teufel,« sagte Anna.

 

»Es ist indes entsetzlich, wenn man hört, wieviel manchmal während eines Augenblicks verloren wird. Gestern abend machte mich Oskar auf einen bleichen jungen Menschen aufmerksam, der seine ganze Besitzung, die größer und wertvoller als sogar die Pacht-Ausspannung sein soll, verspielt hatte. Sie sagen, er hatte garnicht zu spielen beabsichtigt als er in den Saal hineinging, aber das Fieber bemächtigte sich seiner und er konnte ihm nicht widerstehen.«

 

»Ja, ja! wir sehen die Furchen nicht, wenn der Schnee sie bedeckt,« sagte Anna.

 

»Es machte mich ganz elend, und ich konnte den Anblick nicht länger ertragen. Helga aber wollte noch dort bleiben und so setzte Oskar mich in einen Wagen, und ich fuhr nach dem Hotel zurück und ging zu Bett. Ich wünschte nur, daß Helga keine so große Vorliebe für derartige Plätze hätte. Sie hat es indes, und die Folge davon ist, daß Oskar sich gezwungen sieht, mit ihr zu gehen ganz gegen seine Neigung, und manchmal kommt er dann recht niedergedrückt nach Hause. Seit wir hierher kamen, ist sein Schlaf ein sehr gestörter und auch sein Wesen ein sehr rastloses. Ich werde froh sein, wenn wir von hier fortgehen.

 

Im ganzen haben wir aber eine herrliche Zeit gehabt, und Oskar ist so gut gegen mich, und ich bin so glücklich. Trotz alledem werde ich mich freuen, wieder zu Hause zu sein und alle lieben alten Gesichter wieder zu sehen – deines und Tante Margrets und Vaters und des Gouverneurs. Ich vermute, Magnus will jetzt garnichts mehr von mir wissen – wie? Was macht Silvertop? Sage Magnus, er möge ihm in meinem Namen die Ohren streicheln und ihm seine rauhe, alte Nase küssen. Wie wollen wir eines Tages einmal wieder über die Heide jagen! Jetzt aber gerade werde ich wahrscheinlich nicht sehr tollen dürfen, was sagst du dazu? Es scheint so merkwürdig, Anna – aber an diesem Ort sieht man fast gar keine Kinder! Es ist nicht wie in Italien, wo sie einem auf Schritt und Tritt, mit ihren armen kleinen Beinchen wie die einer Mumie umwickelt, in den Weg laufen.

Wir werden zum ersten des Sommers zurück sein, und ich zähle schon die Tage. Grüße alle herzlich, und wenn irgend jemand sich besonders nach mir erkundigt, dann sage, es ginge mir gut und ich sei sehr glücklich.«

 

Der Webstuhl im Saal stand den Abend über, als Magnus diesen Brief gelesen hatte, still. Niemand sprach, bis Anna zwei Lichter anzündete und eines derselben Magnus reichend sagte: –

»Hier, du bist müde, und es ist kein Wunder, da du vor Tagesanbruch schon aufwarst. Wie viele Lämmer hat es heute früh gegeben, Magnus?«

»Zweiundzwanzig, aber eines der besten ist tot.«

»Das ist nun einmal immer so auf der Welt. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

An der Türe seines Schlafzimmers blieb Magnus mit dem Licht in der Hand stehen: –

»Mutter!«

»Nun?«

»Glaubst du, daß sie sehr glücklich ist?«

»Unsere Thora? Das weiß Gott allein, mein Sohn!« sagte Anna.

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