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Drittes Kapitel.

Ein Kind wächst, nicht aber seine Kleider und ebenso wenig seine Eigenart. Wie die Kinder des Gouverneurs und des Faktors beim Beginn ihres Lebens waren, so blieben sie bis ans Ende desselben. Thora war stets ein fröhliches kleines Wesen, dessen anmutiges Gesicht ein immerwährendes Lächeln umspielte. Sie schloß oder schmiegte sich meistens irgend jemandem an – gewöhnlich Oskar – konnte aber stundenlang schmeichelnd, scheltend und singend bei ihrer Puppe sitzen, denn der mütterliche Instinkt war von Anfang an stark in ihr ausgeprägt.

Helga war in allen Dingen das Gegenteil ihrer Schwester. Sie hatte schwarzes Haar, eine breite Stirn, große, hellbraune, oft halbgeschlossene Augen, ein kleines Stumpfnäschen und einen großen Mund mit dünnen, roten, meist ein wenig verzogenen Lippen. Eine Hexe mag unter einem zarten Teint und ein Engel unter einer dunklen Haut zu finden sein, Helga strafte ihr Äußeres jedoch nicht Lügen. Sie war glänzend wie ein Kiesel im Bach und ebenso hart und unbeweglich. Sich selbst genügend schloß sie sich niemandem an, liebte es aber, aller Augen auf sich gerichtet zu sehen. Sie sang wie eine Drossel und fand in ihrer Verstellungskunst und mangelhaften Unterscheidungsgabe für Wahrheit und Dichtung die größte Freude darin, sich in prunkhafter Verkleidung von Papierkronen und Diademen herauszuputzen.

Die Söhne des Gouverneurs waren sich ebenso ungleich. Magnus war ein großer, schwarzhaariger, schwerfälliger, schweigsamer und bedächtiger Junge und galt für ziemlich beschränkt. Das Lernen wurde ihm schwer und sein Gesicht trug oft einen nachdenklichen, manchmal einen düsteren, mürrischen Ausdruck. Andrerseits war sein moralischer Charakter ebenso feinfühlend wie sein Geist träge war. Wenn er einen Pfennig schuldete, ruhte er nicht, bis er ihn zurückgezahlt hatte, und wenn irgend jemand ihm einen Bleistift borgte, ging er meilenweit, um ihn wieder abzuliefern. Die Folge hiervon war, daß sein Gerechtigkeitssinn bis zur Empfindlichkeit scharf entwickelt war, und er mehr unter einer unverdienten Rüge als unter einem Schlage litt. Seine höchste Freude war ein Besuch auf dem alten Familiengut Thingvellir, und wenn ihn jemand fragte, was er werden wollte, platzte er sofort mit der Antwort »ein Pachtbauer« heraus. In seiner Vorliebe für Tiere bevölkerte er das Haus mit Hunden, Katzen, Maulwürfen und weißen Mäusen und schien für niemand anderes als für seine Mutter ein Herz zu haben. Kein liebenswürdiger, sondern eher ein mürrischer und unzufriedener Knabe, war er durchaus kein allgemeiner Liebling, nur Anna hielt sehr viel von ihm.

Oskar war an Geist und Herz in jeder Hinsicht so grundverschieden von Magnus, daß man ihn kaum für seinen Bruder hätte halten können. Der hellblonde kleine Knabe mit seinen hübschen Zügen war freundlich wie ein Sonnenstrahl und heiter wie ein fließender Bach. Er lernte ohne Anstrengung und hatte ein außerordentliches Ohr für Musik. Ehe er ordentlich sprechen konnte, ahmte er die Töne eines jeden Instrumentes von der Orgel bis zur Gitarre nach, und ehe er alle Buchstaben schreiben gelernt hatte, kritzelte er geheimnisvolle, musikalische Hieroglyphen auf Schnitzel Papier, die der Gouverneur nach seinem Bureau schleppte und sorgfältiger als goldene Schätze aufbewahrte. Aber was die Natur Geniegleiches ihm zuerteilt hatte, war auf Kosten seines Charakters, ohne welchen Genie ein Fluch ist, geschehen. Seine fröhliche kleine Seele schien weder Recht von Unrecht, Wahrheit von Lüge unterscheiden zu können. Er sprang wie Aprilsonnenschein von einem zum andern, eine Minute weinend, die andere lachend. Nichts quälte ihn lange, nichts aber auch konnte ihn fesselnd und dauernd beschäftigen. Er begann mit der Versicherung, daß er ein König werden wollte, etwas später erschien ein General ihm erhabener, nachdem er jedoch eines Abends den Organisten mit nach seiner wöchentlichen Übung in den Dom begleitet hatte, kam er zu dem Schluß, daß ein Bälgetreter das schönste von allem sein müsse.

Niemand liebte ihn seiner Charakterschwächen wegen geringer, denn es ist ja einmal eine der Seltsamkeiten des menschlichen Herzens, daß diejenigen Leute, die alle Lebensgesetze am gewissenhaftesten innehalten, durch die Sorglosigkeit derer, die ihre Grenzen überschreiten, unwiderstehlich gefesselt werden. Oskar war der erklärte Liebling aller Menschen und das Ideal seines Vaters.

»Ah, Stephen, den Jungen wirst du nie groß bekommen,« weissagte der Faktor.

»Unsinn! weshalb etwa nicht?«

»Wen die Götter lieb haben, der stirbt jung, das weißt du doch.«

»Einfach deshalb, weil er nie alt wird,« sagte der Gouverneur. Bon Kindheit an liebte Oskar ein Schaugepränge, beständig wollte er wie ein siegreicher Feldherr mit dem kindlichen Ersatz für Fahnen und Musikchor in Prozessionen dahermarschieren. Eines Tages, als er sich, eine eigne Komposition auf einem Kamme blasend, mit Helga als geschäftigem Leutnant, Thora als gehorsamem Gemeinen und Magnus als diensttuendem Sklaven derartig erging, erfaßte ihn, den General, gerade als sie den die Felder scheidenden Fluß erreicht hatten, der Durst nach einem Blutbad, und plötzlich auf der engen Brücke zurückspringend, stieß er sein Gefolge ins Wasser. Magnus und Helga entkamen ohne ernste Folgen, da beim Spiel jedoch alle Brüderlichkeit aufhört, wurde Thora von ihrer Schwester mit hinabgerissen und bis auf die Haut durchnäßt.

Denselben Moment als Magnus Thora ans Ufer zog, kam der Gouverneur hinzu und war sehr erzürnt.

»War es ein Unfall?« fragte er, ohne eine Antwort von den Kindern zu erhalten. »Wer tat es denn?« fragte er weiter. Aber Thora, an die er sich gewandt hatte, blickte erst zu Oskar und dann zu Helga hinüber und fing zu weinen an. »Warst du es Oskar?« Oskar zögerte einen Moment, aber Helga zupfte ihn am Ärmel und er schüttelte den Kopf. »Warst du es Helga? Helga antwortete mit einem schnellen »Nein«. »Dann mußt du es also gewesen sein, Magnus,« sagte der Gouverneur, und Magnus' Gesicht und Nacken überflog eine dunkle Röte, er blieb jedoch stumm. »Warst du es?« Magnus' Lippen bebten, aber wieder antwortete er nicht. »So warst du es also, Bursche, du wirst nach Hause und augenblicklich zu Bette gehen.«

Stillschweigend und tränenlos, aber trotzigen Blickes schüttelte Magnus den Kopf und wandte sich dem Hause zu. Bei diesem Anblick wollte Oskar mit der Wahrheit zutage kommen, sein tränenfeuchter Blick jedoch begegnete dem Helgas, der ihn gefangen hielt und verstummen ließ.

Anna feierte gerade einmal wieder einen der vielen Geburtstage, und von dem oberen Zimmer, wo alles still und kalt war, konnte Magnus die Kinder unten lachen hören, erst unterdrückt und befangen, bald jedoch fröhlich genug, mit Oskars Stimme dazwischen und Helgas alle übrigen übertönend. Das Lachen und Scherzen schnitt ihm in die Seele, und schließlich schlug er mit der Faust auf den Tisch und brach in eine Flut von Tränen aus. Dann hörte er durch sein eigenes Schluchzen hindurch das Flüstern einer weinerlichen kleinen Stimme. »Magnus! Magnus!« Es war Thora am Schlüsselloch.

»Geh weg,« rief Magnus rauh, Thora aber ging nicht.

»Magnus, soll ich's sagen?« fragte Thora, und Magnus plinkte, während große Tränen seine Backen niederflossen, einige Male krampfhaft zu, aber wieder antwortete er, »geh weg, sag' ich dir!«

Hierauf begann Thora das Schlüsselloch zu küssen und Magnus hielt, um zu lauschen, mit Schluchzen inne, als er eine andere – Annas Stimme außerhalb der Türe hörte und dann wurde Thora weggeführt.

Sobald die Geburtstagsfeierlichkeiten vorüber und die Mädchen fortgegangen waren, begann Oskar nach Magnus zu fragen. Der Gouverneur jedoch streichelte seinen Lockenkopf und antwortete, Magnus sei unartig gewesen und müsse die Nacht allein oben schlafen. Eine halbe Stunde darauf fand Anna ihn schluchzend mit dem Kopf unter der Bettdecke und sie sagte zu ihm: »Verheimliche deinem Vater nichts, mein Kind.«

Der Gouverneur saß allein in seinem Bureau, als eine in Schlafrock gehüllte kleine Gestalt hereintrat, und mit schwimmenden Augen und zitternden Lippen zu ihm sagte, »Magnus war es nicht, Papa – es war –« und dann folgte ein heftiger Tränenausbruch.

Der Gouverneur war mehr durch Oskars Geständnis als durch Magnus' Schweigen gerührt, er streichelte ihm wieder und wieder den Kopf und sagte:

»Das war sehr, sehr unrecht von dir, Lockenkopf; geh nun und bitte deinen Bruder um Verzeihung und nimm ihn mit zu Bett.«

Als Anna darauf wieder hinaufging, fand sie zwei Köpfe – den dunklen sowohl wie den hellen – nebeneinander auf dem Kopfkissen, und Magnus machte den Zuhörer und Oskar erzählte und beide lachten fröhlich.

Sobald die jüngsten der vier Kinder vierzehn Jahre alt waren, wurden sie gemeinsam eingesegnet. Es war außer ihnen nur noch ein Konfirmand, der kleine Neils, des Kreisrichters Sohn da, dessen Mutter nicht mehr am Leben war. Bei dem voraufgehenden Examen wurde allgemein erwartet, daß Oskar der erste Platz und Helga der zweite, Thora und Neils die nächsten und Magnus der letzte Platz zugesprochen würde. Der Rektor examinierte die Kinder, und als der Moment für die Veröffentlichung der Konfirmandenreihenfolge kam, nahm sein Gesicht einen ernsten, fast strengen Ausdruck an.

Oskar stand blitzenden Auges, straff aufgerichtet da, und Helga zeigte keine Spur von irgend welcher Befangenheit, Thora und Neils indes zitterten vor heimlicher Erregung und Magnus nagte, aus Angst, daß er überhaupt nicht angenommen würde, an seinem Daumennagel, denn unverrichteter Sache nach Hause zurückzukehren, erschien ihm, da der schwarze Anzug nun doch einmal schon gekauft war, äußerst bedenklich. Nachdem der Rektor sich geräuspert und Schweigen geboten hatte, gab es eine große Überraschung.

»Magnus ist der erste, Thora die zweite, Neils der dritte, Helga die vierte und Oskar – Oskar ist der letzte,« sagte er.

Darauf sich an Oskar wendend, fuhr er fort: »Es ist dir nur dein Recht geschehen, mein Sohn, du hättest viel Besseres leisten können, aber du hast dir durchaus keine Mühe gegeben. Laß dir von einem alten Mann gesagt sein, Oskar – nicht immer der Reiter, der seine Sporen zuletzt anlegt, gewinnt im Wettstreit des Lebens den Sieg.«

Oskar wollte vor Scham vergehen, nach einem kurzen Moment jedoch faßte er sich wieder und trat, während die andern Kinder, Helga mit gekräuselten Lippen, Thora feuchten Blickes und mit trockener Kehle, um zu sehen was er tun würde, zu ihm hinüberschauten, gesenkten Hauptes und errötend wie ein Kind zu Magnus heran, ergriff seine Hand und drückte sie.

Es war ein wunderschöner Konfirmations-Gottesdienst. Das Schiff des Domes war von Frauen gefüllt, der Gouverneur aber saß mit Anna in seinem Kirchenstuhl auf dem Chor, und der Faktor allein auf seinem Platz darunter. Die Kinder knieten in einer Reihe auf der unteren Altarstufe, die Mädchen in Muslinkleidern und Schleiern, die Knaben in schwarzen Anzügen und weißen Handschuhen. Der Morgen war hell und warm und durch die Chorfenster schien gerade, als der alte Bischof ihnen eins nach dem anderen die Hand auf das Haupt legte, die Sonne auf die fünf gesenkten Köpfe herab.

Nachdem die Kinder ihr Bekenntnis abgelegt hatten, hielt der Bischof eine Ansprache: »Seid getreu, seid standhaft, seid aufrichtig! Gedenket des Bündnisses, das Ihr mit Gott geschlossen habt und widersteht der Versuchung. Wenn Satan Euch mit den Schätzen dieser Welt locken will, erinnert Euch, daß Reichtum und Macht mit dem Tage vergehen, während ein befleckter Name Jahrtausende besteht. Liebet eines das andere, meine Kinder! Niemand weiß, wie bald die Welt Euch trennen mag, oder unter welchen Sorgen und Tränen Ihr voneinander gerissen werdet. Haltet zusammen, solange Ihr könnt, und möge der liebe Gott Euch alle behüten und segnen!«

Der Gottesdienst endete mit dem von den Kindern allein gesungenen Konfirmationschoral. Anna, der Gouverneur und der Faktor waren tief bewegt. O, schöne, glückliche Kinderzeit! Wenn die Kinder nur Kinder bleiben könnten! Niemandem jedoch offenbarte sich die Zukunft – nichts außer den fünf unschuldigen nebeneinander knienden Knaben und Mädchen bot sich dem Blick – nichts als ihre silbernen, über die Häupter der Gemeinde zur blaubesternten Decke emporflutenden Stimmen traf das Ohr.

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