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Es war, wie Karola es ahnenden Gemütes vorhergesehen hatte. Der Komiker verstand keinen Spaß. Masetto wollte aus dem Schäferspiel durchaus eine Tragödie machen. Am Palmsonntag, wo herkömmlich die Wintersaison zu schließen hatte, geschah es nach beendigter Nachmittagsvorstellung – man hatte Raimunds »Verschwender« gegeben, und Dall'Orto hatte den Valentin, Karola die Rosel gespielt – geschah es gleichsam aus heiterem Himmel und ohne daß ein Streit kurz vorhergegangen wäre, daß Dall'Orto aus einer alten Theaterpistole, die er scharf geladen hatte, zwei Schüsse auf Karola abfeuerte, die, haarscharf an ihrem Kopf vorbei, hinten in das Kulissenmagazin einschlugen, worauf er die Waffe gegen sich selbst richtete und mit einem dritten Schuß sich eine Fleischwunde an der Brust beibrachte.
Eine Stunde später erfuhr ich die Tat mit allen Einzelheiten von Karola selbst, die, noch etwas blaß und aufgeregt, sonst aber wohl und unversehrt, zu mir gekommen war, während man den verwundeten und ohnmächtigen Attentäter auf eine Tragbahre gelegt und ins Lazarett geschafft hatte.
Es war also eigentlich nichts geschehen, was den Wüterich zu seinem plötzlichen Überfall hätte reizen können. Im Grunde nicht mehr, als daß eben die Saison und mit ihr das Engagement Dall'Ortos am Stadttheater zu Ende war, wofür doch weder Karola noch sonst jemand, höchstens der Direktor, etwas konnte. Sie hatte ihm das auch schlankweg gesagt, als er ihr am Abend vorher die bittersten Vorwürfe machte, daß er fort müsse, sie aber mit einem neuen günstigeren Vertrag für den Winter wieder engagiert sei. Hatte ihm gesagt, daß es jetzt eben anders liege als früher, auch sie stelle jetzt etwas vor und sei etwas, er möge sie mit seinen ewigen Querelen verschonen, denn sie sei weder seine Braut, noch – Gott solle sie bewahren! – seine Frau und denke es auch nicht zu werden, solange sie noch leidlich bei Sinnen sei.
Damit hätte er sich doch nun beruhigen können, hatte ihr auch scheinbar vernünftig die Hand gegeben und war ganz artig und folgsam nach Hause gegangen. Aber heute vor der Vorstellung war er wiedergekommen und hatte ihr zum zwanzigstenmal den Antrag gemacht, seine Frau zu werden. Gleich nach Ostern solle die Hochzeit sein. Die Flitterwochen könnten sie im Sommerengagement verleben, und für den Winter werde sich schon etwas Gemeinsames finden, denn sie noch länger hier in der Gesellschaft zu lassen, davon könne niemals die Rede sein. Die Geschichte müsse ein Ende haben, so oder so. Und hatte dazu schauerlich mit den Augen gerollt, die Stirn gerunzelt und die Zähne gefletscht. Ein bißchen unheimlich war es ihr ja. Aber ganz gleich! Sie hatte ihn ausgelacht und stehen gelassen und war in die Garderobe gegangen. Das war vor dem ersten Akt. Und nach dem letzten hatte der verrückte Mensch dann geschossen!
»Seh' ich nicht noch immer ganz blaß aus?« fragte sie, halb lächelnd, halb besorgt, und schien wirklich noch in allen Nerven zu zittern, während sie so vor mir stand und sich in meine Arme schmiegte wie ein erschrecktes Vögelchen, das die Katze schon in den Krallen gehabt hat. »Was sagst du dazu? Ist das nicht schrecklich? So ein eifersüchtiger Tiger! Und das Schlimmste, jetzt kommt der arme Mensch womöglich noch ins Gefängnis, um meinetwillen! Aber das darf nicht sein! Er hat mich ja glücklicherweise nicht getroffen, nur sich selbst, der dumme Kerl! Wir müssen unbedingt eine Eingabe machen. Ich habe schon mit dem Direktor gesprochen. Das ganze Theater muß unterschreiben. Alle! Alle! Du auch, Liebling! Versprichst du mir das?«
Ich nickte, ganz gerührt und belustigt zugleich von dem Anblick des geliebten Geschöpfes, dieser entzückenden Mischung von Eifer, Mitleid, Erregung und unbewußter Komik, und preßte sie heiß und wortlos an mich. Sonderbare Dinge gingen mir durch den Kopf.
»Also so in Gefahr gewesen, mein armes, zitterndes Täubchen?« sagte ich schließlich, wie gedankenlos.
»Ja, für diesmal bin ich noch mit einem blauen Auge davongekommen!« flüsterte sie und atmete tief auf. »Dicht am Kopf vorbei. Dicht! Ganz dicht! Ich glaube, ich hab' die Kugeln pfeifen hören!«
»Und wenn er nun getroffen hätte?« forschte ich und lächelte ein wenig dazu. »Dann wäre mein kleiner Schatz tot! Könnte niemand mehr quälen und ins Unglück stürzen ...«
»Ja, dann wäre es aus gewesen!« meinte sie nachdenklich. »Aber ich hab' ganz genau gewußt, er trifft mich nicht, diesmal noch nicht, er zielt vorbei. Du weißt ja, wie es mit mir geht?«
Ich schwieg einen Augenblick, dann erhob ich ihren feinen, blassen Kopf ein wenig zu mir und versenkte mich tief in ihre dunklen, unbestimmt glimmenden Augen.
»Denkst du noch an das Wort der Kartenlegerin?«
Sie nickte mehrmals eifrig.
»Eben darum! Deshalb hat er ja auch vorbeischießen müssen. Ich bin ja noch nicht dreiundzwanzig. Die Kugel für mich ist noch nicht gegossen, glaub' ich. Aber das wird schon kommen. Warte nur ab!«
»Gut! Warten wir's ab!« erwiderte ich und hatte um die Mundwinkel wieder das Gefühl dieses fatalen Lächelns, das ich nicht bezwingen konnte, so sehr es mich ärgerte.
Sie schien nicht acht darauf zu geben, war wieder ganz in ihre Gedanken versponnen.
»Übrigens braucht es ja nicht immer eine Kugel zu sein,« warf sie nach einem Weilchen hin.
Ich zuckte mit den Achseln, lächelte noch immer.
»Gewiß nicht! Es gibt ja Extraposten von allen Arten.«
»Jedenfalls muß der Betreffende schon geboren sein, der es tut. Eigentlich ein komisches Gefühl! Man geht herum, ißt, trinkt, amüsiert sich, spielt seine Rollen ab, läßt sich feiern, anschmachten, den Hof machen, tut, als ob das nie aufhören könnte, und weiß doch zugleich, irgendwo auf der Welt existiert ein Mensch, vielleicht läuft er keine zehn Schritt von einem vorbei, vielleicht kennt man ihn sogar, kommt täglich mit ihm zusammen, ein Mensch, der nur dazu da ist, dem allen ein Ende zu machen ...«
»Und der es vermutlich selbst noch nicht weiß!« schaltete ich ein.
»Ja, ist das nicht verrückt?«
»Verrückt wie das Leben!«
»Vollständig unbegreiflich!«
»Unbegreiflich wie der Tod! Aber nur Geduld, mein holdes, unvergleichliches Menschenbild! Wir werden ihn schon begreifen lernen.«
»Schaurig! Schaurig! ... Und sage, ist das nicht auch merkwürdig: Früher hab' ich mich so vor dem Tod gefürchtet, und jetzt kann ich nicht genug davon sprechen hören. Woher mag das kommen? Vielleicht, weil ich reifer geworden bin?«
»Das bist du! Sogar sehr! Auffallend sogar in letzter Zeit, meine süße Zerline! Meine kleine geniale Schönheit!«
»Ist das auch wahr? Keine bloße dumme Schmeichelei? Dann ist es gut.«
Wieder standen wir uns Auge in Auge gegenüber und lächelten uns an. Ich hielt ihre beiden Hände in den meinen, fühlte ihren weichen Druck und erwiderte ihn heiß und fest. Ihr Kopf war ein wenig zurückgelehnt. Die tiefgrauen Augen schwammen wie in Hingabe und Sehnsucht verloren. Es war der Ausdruck, den ich so gut an ihr kannte. Jener besinnungslos genießende Zug gewisser Frauenköpfe der großen Italiener, der mich vom ersten Tage an so berauscht hatte, mich immer von neuem an ihr berauschte. Ihr Atem strich schwül über mich hin. Die weißen Zähne blitzten zwischen den leicht geöffneten Lippen. Ich preßte einen langen, innigen, selbstvergessenen Kuß darauf.
Nach einem Weilchen entwand sie sich meinen Armen. »Jetzt schnell noch eins, ehe ich fort muß!«
Ich sah sie fragend an.
»Glaubst du, daß ich ihn schon kenne?«
»Wen?«
»Nun den, der das tun wird! Von dessen Hand ich sterben soll!«
Ein tiefes, abgründiges Gefühl von Rührung und Mitleid mit dem süßen, törichten, verderbten Geschöpf durchfuhr mich, wie sie das so einfach und ohne Pose sagte. Ich hätte ihr den Mund verhalten, ihr die düstern Ahnungen ausreden mögen, aber ein prickelndes Etwas, dem ich nicht widerstehen konnte, trieb mich zu einer sonderbaren Frage:
»Wie alt bist du jetzt, Karola?«
»Warum? Was ist das für eine merkwürdige Frage? Du weißt es doch.«
»Ich weiß nichts. Mit dem Alter von Frauen ist es wie mit dem Wetter. Man weiß nie, wie es morgen sein wird.«
Karola schien im Kopf nachzurechnen. Endlich sagte sie sehr bestimmt:
»Als wir uns kennen lernten, war ich achtzehneinhalb. Jetzt rechne selbst!«
»Demgemäß jetzt zwanzig vorbei? Stimmt das?«
Karola schien von neuem die vier Spezies zu Hilfe zu rufen. Plötzlich erklärte sie, wie mit kurzem Entschluß:
»Ich habe dir ein Jahr zu wenig gesagt. Ich bin einundzwanzig. Ist deine Neugierde jetzt befriedigt?«
Ich lachte belustigt auf und drohte ihr mit dem Finger.
»Jetzt meckert er wieder!« sagte sie geärgert und stampfte ein wenig mit dem Fuß, mußte aber gleich darauf selbst mitlachen.
»Also noch zwei Jahre Zeit?« betonte ich bedeutsam.
»Ja, zwei Jahre oder so. Aber genug mit der dummen Rechnerei! Jetzt gehe ich ins Theater und singe den Leuten zum Abschied noch einmal die Zerline vor. Mein armer, dummer, übergeschnappter Masetto liegt zwar im Spital und muß seine Wunde heilen. Aber der Direktor hat Glück. Pulvermacher ist sofort für ihn eingesprungen.«
Ich lachte von neuem.
»An Masettos scheint ja kein Mangel auf dieser Welt!«
Sie machte auf eine drollige, meckernde Art mein Lachen nach und tippte mir auf die Stirne.
»Ja, mein Herr Meckerfritze, der du die Weisheit mit Löffeln gegessen und doch nicht mal so viel los hast, daß du selbst der Masetto bist! Mein erster, eigentlicher und richtiger Masetto, zu dem ich ja doch immer wieder zurück muß! ... So! Und heute abend setzt man sich in die Loge, paßt hübsch auf seine Zerline auf und sagt ihr, was sie noch besser zu machen hat. Ich gehöre nicht zu den Puten, die sich einbilden, schon Gott weiß! was zu sein, wenn ihnen mal eine Rolle leidlich gelingt. Ich will weiter. Jawohl, mein Freund! Sieh mich nur an! Ich will Karriere machen.«
Die Saison war zu Ende. Der letzte Abend hatte Karola noch stürmische Ovationen des überfüllten Hauses gebracht. Das Gerücht von Dall'Ortos Attentat und ihrer Errettung aus Lebensgefahr hatte sich schnell in der Stadt verbreitet und allgemeine Teilnahme erregt. In den wenigen Monaten seit ihrer Entdeckung war sie bereits der erklärte Liebling geworden, das zeigte sich an diesem Abend, der das ganze Aufgebot ihrer Verehrer und Verehrerinnen (auch deren gab es merkwürdigerweise genug) ins Theater gelockt hatte. Das gesamte Publikum stimmte in den wilden Beifall ein, der auf der Galerie und im Stehparterre schon bei ihrem ersten Erscheinen losbrach. Es wurde ein großer Triumph für sie, dessen Zeuge ich mit sehr gemischten Gefühlen von meinem Logenversteck aus war. Offenbar sollte es diesmal nicht nur die Sängerin sein, deren glänzende Leistung man beklatschte, sondern auch die menschliche Persönlichkeit schlechthin, die an Leib und Leben bedroht gewesen war und der man seine Sympathie ausdrücken wollte. Am Schluß hätte nicht viel gefehlt, daß die beim Bühnenausgang angesammelten Enthusiasten sie auf die Schultern gehoben und im Jubel davongetragen hätten, wäre es mir nicht noch rechtzeitig gelungen, sie in meinem Wagen in Sicherheit zu bringen.
So ungleich fallen die Lose des Schicksals! dachte ich mir im Davonfahren, als Hüteschwenken und Händeklatschen hinter uns verbraust waren. Hier der gefeierte Liebling, die vergötterte Theaterprinzessin, die es schon ist, oder sich auf dem besten Wege befindet, es zu werden. Dort der arme Pechvogel im Lazarett, der gewärtig sein muß, aus der Stadt verwiesen zu werden, wenn er nicht gar vor die Assisen kommt. Und wer will die Schuldfrage zwischen den beiden entscheiden? ... Aber um solche Erwägungen kümmert sich die Masse nicht. Der Unterlegene wird verdammt, dem siegreichen Teil jubelt sie zu, besonders, wenn es ein junges, hübsches, verlockendes Weib ist. O Schicksal, das du selbst Weib bist! O Glück, du Dirne!
Es war in der Tat auffallend, wie man in der Stadt, trotz der sonst herrschenden Muffigkeit und Heuchelei, allgemein für Karola Partei nahm, nicht nur in diesem besonderen Fall mit Dall'Orto, auch in der Beurteilung ihres ganzen Wesens, ihres Tuns und Treibens überhaupt. Denn natürlich hatte es nicht ausbleiben können, daß aus der Zeit vor ihrer Entdeckung, aus ihrer prähistorischen Epoche sozusagen, dies und das und allerlei durchgesickert war, was jeder andern in der öffentlichen Meinung den Hals gebrochen hätte, Karolas Beliebtheit aber nicht den mindesten Abbruch tat, ihr im Gegenteil bei der Spießbürgerwelt ringsumher den Nimbus von Genialität und Leichtsinn verlieh, der nun einmal, wie man in diesem Fall beschönigend zugab, zur richtigen Schauspielerin gehöre. So war es, als sei das beglückte und beglückende Menschenkind im Besitze irgendeines geheimen Zaubers von den Göttern her, der sie auf schwindliger Dachrinne nicht straucheln und nicht fallen lasse; und wie sie es mir vordem in der Einsamkeit meiner Liebesklause angetan, ja noch immer von neuem antat, daß ich entzückt und verrückt nicht von ihr lassen konnte, so schien es nun der ganzen Stadt mit ihr zu ergehen.
Das Ensemble des Stadttheaters hatte sich über den Sommer in alle Winde verstreut. Auch Dall'Orto war nach seiner Genesung, die mehrere Wochen dauerte, geräuschlos und, wie es schien, von allen Eifersuchtsgelüsten geheilt, aus der Stadt verschwunden. Karolas Fürsprache – auch ich hatte das meinige getan – war es zu verdanken, daß die Geschichte als unglücklicher Zufall vertuscht wurde und der arme Bursche, ohne gerichtliches Verfahren, mit der bloßen polizeilichen Ausweisung davonkam.
Karola selbst war fast als einzige vom gesamten Personal in der Stadt geblieben, um angeblich die Stunden bei der Pellerini, solange es ging, fortzusetzen, auch ihrem richtigen und wahren Masetto, wie sie mich neuerdings gern nannte, möglichst nahe zu bleiben.
Zwischen uns war es also das alte Spiel, aufregend, verzehrend, beglückend, vernichtend nach wie vor. Karola kam, Karola blieb fort, kam von neuem, verschwand und war wieder da. Aber innerlich fühlte ich doch, wie ich immer weniger diesem zermürbenden und zerreibenden Wechsel meiner Stimmungen und Gefühle standzuhalten vermochte, wie die Elastizität des allzu oft überspannten Bogens nachließ und jedesmal nach solchen Attacken des Fiebers, der getäuschten Hoffnung, der unerfüllten Erwartung eine zunehmende Schwäche, Reizbarkeit, Erbitterung mich überkam. Es half nichts, daß ich mir immer von neuem vorhielt, dies sei nun einmal so ihre Natur, ich müsse sie gehen lassen, wohin es sie treibe; eines Tages werde sie wiederkehren, wie sie noch immer wiedergekehrt sei. Wahre Tobsuchtsanfälle schüttelten mich, wenn ich wiederum vergebens auf sie gewartet hatte. Scham, Wut, Verzweiflung peitschten mich manchmal bis zu Tränen, die sofort, wenn sie dann im letzten Augenblick ganz unvermutet doch noch erschien, in ein überströmendes Glücksgefühl, gleichfalls beinahe bis zu Tränen umschlugen. Eben dieser jähe, unvermittelte Wechsel von Oben und Unten, von Heiß und Kalt, mochte es sein, was wie ein allzu häufig appliziertes russisch-römisches Bad meine Nerven immer mehr zerrüttete und mich nach allen den Schrecken ohne Ende schließlich ein Ende mit Schrecken, auf irgendeine Art, ich wußte nur selbst noch nicht wie, voraussehen, ja herbeisehnen ließ.
Geschah es, daß ich einmal längere Zeit ihren ungestörten Besitz genoß, so war mir das nach den fliegenden Hitzen und Kälten von vorher wie ein milder, feuchtwarmer Umschlag, der mir Linderung, Befreiung, wohltätige Ruhe, Entspannung brachte. Ich faßte wieder neuen Mut, schöpfte Hoffnung für kommende Tage, konnte mir sogar einbilden, im Grunde sei ja alles in Ordnung, kein fressendes Übel zehre an meinem Mark, und der jetzige sichere, harmonische, wenn auch temporäre Genuß der vorher so unmäßig begehrten und geliebten Person sei die beste Medizin gegen ihren späteren, ebenso temporären Verlust.
Aber ach! oft genug konnte schon der nächste Morgen, wenn, den schönsten Versprechungen und Schwüren zum Trotz, keine Karola sich einfand, mich zur Genüge überzeugen, daß jene Hoffnungen und inneren Vorbehalte nur Wahn, frommer Selbstbetrug von mir seien. Sofort waren alle Vernunftgründe, mit denen ich mir selbst zuzusprechen, mich noch im Zaum zu halten versuchte, zersprengt und fielen von mir ab, wie die Fetzen einer Zwangsjacke, die ein Tobsüchtiger sich vom Leibe reißt. Das blinde Wüten der gemarterten Kreatur begann von neuem. Kam ich schließlich, oft erst nach Stunden, wieder zur Ruhe, so meldete sich ungerufen ein Dutzend von Gründen, Beschönigungen, Erklärungen, die mir Karolas Verhalten gegen mich, ihren Betrug, ihren Verrat – so hatte ich es eben noch genannt! – in milderem Lichte darstellen, sie in Schutz nehmen wollten. Dazwischen tastete der gehetzte und aufgestachelte Selbsterhaltungstrieb immer ängstlicher nach irgendwelchen letzten Zuflüchten, Auskünften und Rettungsmitteln in der stets drohenden Gefahr: wie der Schiffbrüchige, der auf der Planke im Ozean treibt, Balken und Trümmer zusammensucht, um vielleicht doch noch irgendwo Land zu erreichen.
Und siehe da! Aus den Wogen, die mich umschäumten und hin und her warfen, stieg erst fern und unwahrscheinlich – ein Rauchstreif am Horizont –, dann deutlicher, sichtbarer, denkbarer, wirklich so etwas wie Land auf. Das war die Erinnerung an Schwarzwalds halb ironisch gemeinten und dennoch so tief aus eigener, wie aus fremder Erfahrung geschöpften Ratschlag: Heirate sie! Nur so kannst du mit ihr fertig werden. Nur so davon loskommen, von dem Übermaß dieser Leidenschaft, die dich mit der Wut eines Wechselfiebers, einer Kolik schüttelt und die Zähne aufeinanderschlagen läßt. Heirate sie! Mag sie dich dann betrügen, soviel sie will, du bist ihrer sicher, hältst sie fest in deinem Besitz, kannst trinken, trinken, bis du satt bist und dieser Krampf aus der Seele weicht! Heirate sie! Überwinde sie durch die Dauer, durch die Gewohnheit, durch den Alltag!
Wie lächelte ich und schüttelte den Kopf, als der Gedanke zum erstenmal aus dem Arsenal der Erinnerungen, diesem Zeughaus unseres Lebenskampfes, an mich herantrat! Aber soviel ich ihn abwies, ihn als meiner unwürdige Komik, als Unmöglichkeit und Wahnwitz behandelte, er kehrte wieder und immer wieder, faßte gleichsam Posto an der Tür und verbeugte sich, sobald nur ein Spalt sich öffnete, mit der einschmeichelndsten Miene von der Welt, wie etwa ein aufdringlicher Weinreisender, der sich auf keine Weise hinauskomplimentieren läßt. War da und verschwand und kam von neuem, geradeso, wie Karola selbst es tat, nur gleichsam im umgekehrten Verhältnis dazu, so daß ihr Kommen sein Zurücktreten und Verschwinden, ihre Abwesenheit wiederum seine Rückkehr zur Folge zu haben schien. Doch hütete ich mich aus irgendeinem dunkeln Instinkt wohl, etwas davon zu sagen oder auch nur anzudeuten, verschob dies vielmehr von Woche zu Woche, schließlich von Monat zu Monat, vielleicht, weil ich noch immer die Lächerlichkeit fürchtete oder noch damit fertig zu werden hoffte, und gab so auch den letzten, allerletzten, endgültigen und entscheidenden Augenblick, wo es noch möglich gewesen wäre, als ein unverbesserlicher Tor aus der Hand.
An einem bleiernen, melancholischen Hochsommerabend, zu Ende Juli, trennte ich mich auf zwei Monate von Karola, indem ich eines beginnenden rheumatischen Leidens wegen die Quellen in Baden-Baden aufzusuchen gedachte, sie nach K. zurück mußte, da, einem Briefe ihrer Schwester zufolge, die Mutter nicht unbedenklich erkrankt war und nach Karolas Pflege verlangte.
»Grüß' mir den Konsul!« sagte ich, als wir nach einer heißen, innigen Abschiedsstunde, die mir mit dem Duft eines blühenden Rosenbeetes in der Seele nachglühte, uns zum letztenmal im Arm hielten, und lächelte bedeutsam, vielleicht sogar etwas zynisch. »Grüß' mir den Konsul, mein Schatz, den alten, biedern Wollüstling Sulla, der das Leben und das Glück und die Weiber genommen hat, wie sie sind, nicht wie sie sein sollten, und sag' ihm, ich trag' ihm nichts nach, obwohl ich beim Teufel! Grund genug dazu hätte. Er weiß schon, warum!«
Ich blinzelte mit dem rechten Auge und schielte Karola an, aber sie schien nicht in der Stimmung, darauf einzugehen, hielt wieder den Brief der Schwester in der Hand und hatte eine so aufrichtige, herzliche und kindliche Besorgnis auf dem holden, reinen Gesicht, daß ich sie unwillkürlich noch einmal an meine Brust zog, während sie sich verstohlen über die Augen wischte und sagte:
»Wenn meine Mutter stirbt, leb' ich nicht einen Tag länger! Das ist noch der einzige Mensch, der es gut mit mir meint auf der Welt. Niemand sonst. Ob du's glaubst oder nicht! Wenn ich bei meiner Mutter bin, dann kommt es mir vor, als ob das alles von mir fort sei, alles, was häßlich und schlecht an einem. Man ist wieder rein wie als Kind. So lange das auch her ist.«
Und sie setzte sich auf den Stuhl, der an der Tür stand, preßte die Hände vor das Gesicht, und aus der armen, beladenen Menschenbrust brach ein heißes, bitterliches, unstillbares Schluchzen.
Die Tage wurden kürzer. Die Blätter färbten sich und begannen erst einzeln, dann zahlreicher, endlich wie ein bunter, lautloser Regen von den Ahorn- und Kastanienbäumen zu rieseln. Die Zugvögel des Stadttheaters kehrten von weit und breit her aus den sommerlichen Nestern in das Winterquartier zurück. Auch Karola war wieder da und flog mir beim ersten Besuch mit ehrlicher, ungekünstelter Freude an den Hals. Ihre Mutter war glücklich wiederhergestellt, der Konsul ließ vielmals grüßen, sah übrigens ziemlich gealtert und klapprig aus, sie selbst, Karola, war heiter und guten Muts, hatte auch ziemlich viel für sich gelernt und studiert (ich solle nicht denken, daß sie Zeit gehabt habe, sich noch um andere Dinge zu kümmern, wie offenbar mein hämisches Lächeln besagen solle!), der Winter war lang und verhieß eine Anzahl von neuen Rollen, darunter ein paar schwere Partien, viel Arbeit, aber wenn man sich Mühe gab, auch manchen schönen Erfolg; alles konnte von neuem beginnen. Jetzt ging das Leben erst richtig an!
Und das tat es denn auch. Wenn ich heute auf diesen Winter, den letzten von Karolas kurzem Erdendasein, zurückblicke, so kommt es mir vor, als habe er mich alles, was auf diesen Blättern an höchster Lust und tiefster Qual verzeichnet steht, noch einmal in verstärktem, ja, wenn es möglich wäre, verdoppeltem Maße durchmachen und auskosten lassen. Aber der Leser befürchte nicht, daß ich ihn mit einer abermaligen Aufzählung und Wiederholung aller schon zur Genüge bekannten Symptome eines hoffnungslosen und unheilbaren Leidens belästigen will. Es gibt Grenzen, über die hinaus keine Darstellung mehr imstande ist, noch neue Worte, Bilder, Anschaulichkeiten für alte, oft gesagte (im Leben freilich immer wieder neu und andersartig empfundene) Dinge zu prägen. Hier eben gähnt die Kluft zwischen dem Leben selbst und seiner nachahmenden, schildernden Wiedergabe, zwischen Natur und Kunst, über die kein Können sich hinwegschwingt, es sei denn, daß vielleicht ein Dantesches Flügelroß zur Verfügung stünde, woran auch nur zu denken bei einer höchstens mittelmäßigen Begabung wie der meinen der Gipfel der Lächerlichkeit wäre. Man vergesse auch nie, daß es sich hier nicht um einen kunstvoll erdichteten und erfundenen Roman handelt, den planmäßig vorzubereiten, wirkungsvoll zu steigern, erschütternd abzuschließen erzählerische Pflicht wäre, sondern daß es nichts als der einfache, naturgetreue und wahrhaftige Bericht einer leider am eigenen Leibe erlebten Wirklichkeit ist, was ich geben will – mache mir deshalb auch nicht den Vorwurf, ich verstünde nicht aufzubauen und die Spannung bis zum Schlusse wachzuhalten, oder ich hätte mich in der Schilderung der ersten Hälfte unseres Liebesromanes (nun fließt mir das Wort doch wieder ein!) bereits allzusehr verausgabt, mein Pulver zu früh verschossen und stünde nun, wo es eigentlich erst darauf ankomme, mit leeren Händen da. Gewiß, nach den Regeln der Kunst wäre es vielleicht wirksamer gewesen, den tragischen Abschluß unserer Geschichte unmittelbar an einen ihrer Höhepunkte, etwa an Karolas Entdeckung als Bühnenstern anzugliedern und zugunsten des künstlerischen Eindrucks dem Leser die letzten anderthalb Jahre Leben zu unterschlagen. Aber Leben ist schließlich doch immer Leben und bleibt interessant, auch wo es den Gesetzen der Kunst widerstrebt, und da eben dies – Leben, nicht Kunst – hier geboten werden soll, so möge der Leser sich mit der Anlage des Ganzen, wie sie nun einmal ist, verfehlt oder nicht, aber echt wie das Leben selbst, zufrieden geben, mir jedoch verstatten, zum Thema zurückzukehren und es auf meine Weise, soweit meine Zeit noch reicht, zu Ende zu führen.
Über Karola schien der Rausch gekommen. War es das jetzt erst voll erwachte Bewußtsein ihres Erfolges, ihres Glückes, ihrer veränderten Lebensstellung, das täglich neu bestätigte und vertiefte Gefühl des Sieges, des Triumphs über die Menschen, der unbedingten Sicherheit und Unwiderstehlichkeit, war es die geheime, aber unabweisbare Ahnung einer nur kurz bemessenen Laufbahn, wovon ja auch die Karten gekündet hatten, war es dies alles zusammen: sie, die sich ja nie zurückgehalten hatte, begann, nach ihrem eigenen Wort, jetzt erst wirklich zu leben und zu genießen. Die Tage waren den Proben, dem Rollenlernen, dem Studium bei der Pellerini, die Abende nach der Vorstellung, oft bis tief in die Nacht hinein, dem Vergnügen geweiht. Schmausereien, Champagnergelage, Bälle im engeren Kreise folgten sich auf dem Fuß. Ein paar kurze Stunden des Schlafs, und das Tagewerk fing von neuem an, um abermals in der Ausgelassenheit später Mitternachtsstunden zu enden. Ein leidenschaftlicher Arbeitseifer schien Hand in Hand mit leidenschaftlicher Genußsucht zu gehen und das berauschte Menschenkind ebenso von Rolle zu Rolle wie von Vergnügen zu Vergnügen zu peitschen. In der kurzen Zeit von kaum zwei Wintern hatte sie sich das ganze weite Gebiet ihres Rollenfachs von der großen Oper bis zur niedersten Posse herunter zu eigen gemacht und als Zerline, Rosel, Regimentstochter, als Aurelie im »Bengalischen Tiger«, als Kolumbine in »Gute Nacht, Herr Pantalon«, als Marie im »Waffenschmied« und einem halben Dutzend anderer Soubrettenrollen sich in die unbestrittene Gunst des Publikums gespielt und gesungen, gelacht und getanzt, geküßt und getollt.
O Zeit meiner höchsten Entzückungen! Tage meiner tiefsten, letzten, äußersten Qual, Zerfleischung, Verzweiflung! Welch ein Geflüster, Gewisper, Gemunkel, das um mich war! Wie ich geflissentlich den Kopf wegwenden, die Ohren gleichsam mit Watte verstopfen mußte, und doch alles hörte, alles sah, von allem wußte! Wie ich mich hundertmal gegen das Unerträgliche aufbäumte, mich loszumachen suchte, und hundertmal von neuem wieder dem Zauber erlag, der, statt nachzulassen, an Kraft über mich zu verlieren, im Gegenteil mit jeder Stunde getäuschter Erwartung, unbefriedigt gebliebener Sehnsucht nur um so stärker zu werden schien!
»Wenn ich nur wüßte,« hatte sie mich einmal mit dem süßesten Lächeln gefragt, »ob das Nichtkommen, das Hinhalten, das Wartenlassen die Liebe bei den Männern steigert oder abschwächt? Denn wenn es sie steigert, dann möchte ich dich noch viel öfter sitzen und nach mir sehnen lassen.«
Als ich die Fäuste ballte und mit dem Fuß aufstampfte und doch wieder lächeln mußte über die Offenheit, mit der sie, ohne es zu wissen, den Grund ihrer Seele enthüllte, meinte sie ganz verwundert:
»Ja, warum denn nicht? Warum soll man denn einen Mann nicht rasend machen dürfen? Ich wünschte, ich könnte euch alle zusammen rasend machen! Ist es denn nicht schön, wie unsinnig geliebt zu werden?«
»Und wiederzulieben, du blonde, mörderische Schlange du?«
Sie schlug mir strafend auf die Finger und warf auf ihre Weise den Kopf zurück.
»Nach so etwas fragt man nicht! Du weißt ja, was du mir bist. Mein Freund. Mein Vertrauter. Dir sag' ich alles.«
»Und betrügst mich dabei, wo du gehst und stehst!«
»Pst! Still! Kein Wort! Dich lieb' ich! Dich! Beim Leben meiner Mutter! Dich! Dich!«
Wieder ein anderes Mal, als ich ihr die alten, immer wieder schmerzlich neuen Vorwürfe machte, wiegte sie den Kopf und lächelte nachdenklich.
»Was willst du?« meinte sie. »Sollen wir noch enger verbunden sein, als wir schon sind? Wäre das möglich? Sieh dir mal mein Gesicht an. Nein, nicht so. Nicht verliebt. Ganz ruhig und klar. Sage selbst: hab' ich nicht ein richtiges Grisettengesicht? So wie sie in den Straßen von Paris herumlaufen mögen, bei den Malern und in den Theatern und so, die kleinen, verliebten, treulosen Mädchen? So fühl' ich mich auch! Ich denke jeden Tag, ich hätte so etwas werden müssen, so ein verworfenes Ding, wie die alten Jungfern es nennen. Und eigentlich bin ich's ja auch, willst du sagen, nicht wahr? Sag's nur ruhig. Vielleicht hast du recht. Und doch sitz' ich hier ganz brav und artig bei dir und komm' immer wieder zu dir, wenn's auch manchmal ein bißchen dauert, und kann von meinem Wüterich nicht lassen. So sind wir Weiber. Was verlangst du mehr? Kann man enger verbunden sein als wir zwei?«
In der Tat! Das waren wir! Aufs engste verbunden! Enger als je! Denn nun war es nicht mehr allein das Weib, das mich fesselte, nach dem ich mich sehnte, dieser blonde, betörende Leib, an dessen weichen, fließenden Linien ich mich nicht satt trinken konnte. Es war auch der ungekünstelte Reiz ihres Spiels, der Zauber der Kulissen, der Beifall der Menge, alles das, was von ihrem jungen Ruhm ausstrahlte und das holde, einzige Persönchen mit einer ganz neuen Gloriole für mich umgab. Einst hatte ich das kleine, süße, unbekannte Ding aus der Dunkelheit gezogen und es als mein Geschöpf behandelt. Jetzt war es reif geworden, bewegte sich frei, kühn, sicher aus eigenem Recht und trat mir als selbstgewisse, vom Erfolg gehobene und beflügelte Natur entgegen, vergaß aber dabei in einem liebenswerten Zug von Dankbarkeit doch nie, wie tief sie an innerer Bereicherung und Beseelung in meiner Schuld war, ja, wie eigentlich in mir die Hauptquelle ihres jetzigen Glücks. So oft sie kam, war es ihr erstes, mir ihre jüngsten Freuden und Leiden vor und hinter den Kulissen anzuvertrauen, meinen Rat über alles, was sie bewegte, einzuholen, meine Auffassung dieser und jener Rolle zu erfragen. Wir plauderten, lachten, besprachen. Es war ein wechselseitiges Nehmen und Geben, Austauschen und Befruchten. Sie hatte das unbedingte Vertrauen zu mir, daß ich nur ihr Bestes wolle, und überließ sich in allen Dingen, die nur die Sängerin, nicht das Weib betrafen, rückhaltlos meiner Führung.
In der Tat, konnte man enger verbunden sein? Und doch – hier war der Knoten, der sich nicht lösen ließ – keine Sicherheit, Festigkeit, Zuverlässigkeit in dem allen. Keine Hoffnung der Dauer. Keine Gewähr des Besitzes. Ein ewiges Entschweben, Wiederauftauchen und Von-dannen-gaukeln. Wie der Frühlingswind. Wie Zerlinchens Läufe und Triller. Wie alles Holde und Schöne auf dieser Welt. Nicht zu halten. Nicht zu erhaschen. Ungreifbar! Unbeschwörbar! Treulose Treue! Treue in der Treulosigkeit! Furchtbares, letztes, göttliches Jahr, währenddessen der nun verschwundene Handschuh mit seinen fünf leichtgekrallten Fingern unbeweglich an der Wand hing, das Bild des Ahnherrn im Bibliothekszimmer ernst und unzugänglich auf mich heruntersah, nichts sich regte und rührte, kein Zeichen von irgendwoher aus dem Unbekannten kam, dunkles, unheimliches, lichtstrahlendes letztes Jahr, wie habe ich dich bis zu Ende ertragen können, ohne den Verstand zu verlieren?! ...
Die Buchen- und Eichenwälder, die das sanfte Gewoge der Täler und Höhen längs der Küste von Zeidlershöhe bis Falkenhorst und tief hinein ins Land, bis zum abendlichen Horizont, mit einem unabsehbaren, welligen Laubdach bedeckten, hatten sich gelb, rot, braun gefärbt und standen endlich nackt, finster, struppig, gleichsam mit gesträubten schwarzen Federn da. Lichtlose Wochen folgten. Es kam der erste Schnee. Tannenbäumchen brachten duftige Adventgrüße aus dem verschneiten Forst in die steinernen Gassen und Plätze der Stadt. Weihnachten zog in die Herzen ein. Und am letzten Tage des Jahres starb Julius Schwarzwald.
Ich hatte ihn seit Monaten nicht mehr gesehen. Erst hatte meine eigene Badereise mich viele Wochen ferngehalten. Nachher fand ich ihn selbst abgereist, hörte, daß er für längere Zeit nach dem Süden gegangen sei. Ein letzter Versuch, wie die Ärzte sagten. Da er zu Weihnachten wieder in die Vaterstadt einzog, sah man, daß der Versuch mißglückt war. Ein todkranker, aufgegebener Mann, der nichts als ein stilles Plätzchen zum Sterben suchte, war an den heimischen Herd zurückgekehrt. Am Tage vor seinem Tode stand ich noch einmal am Bette des Jugendfreundes, hielt zum Abschied die kalte, leblose, durchsichtige Hand in der meinen, sah zum letztenmal die tiefen Höhlen der Wangen mit den gespenstisch vorspringenden Backenknochen, die hohe, wächserne Stirn, um die schon die Schatten des kommenden Dunkels huschten, die übergroßen, glänzenden, fiebrigen Augen, in denen noch die letzten Flämmchen des Lebens zuckten.
»Es ist aus!« murmelte er und sah mich mit einem Lächeln an, das mich frieren machte. »Schwarz ist Trumpf ... Mariechens Lieblingsfarbe ... Der große Unbekannte ... hat Pikaß ausgespielt ... Man wird bedienen müssen ...«
Ein unterirdisches Husten, schon fast wie aus dem Grabe heraus, bellte aus dem zermürbten und vermorschten Brustkasten. Die Gewichte des innern Uhrwerks keuchten, ächzten, rasselten und schienen nahe am Ablaufen. Ein heller, blutiger Schaum stand vor seinem Munde. Er wischte ihn mit einer erlöschenden, mechanischen Gebärde ab und fuhr fort, zu murmeln und zu lächeln und dazwischen zu husten.
»Die Atome in dem verdammten Kadaver ... wollen nicht länger ... zusammenbleiben ... Die Bande kann sich ... partout nicht ... vertragen ... Das kommt ja unter Freunden vor! ... Also gut! Sollen sie auseinander! ... Man kann sie ja nicht halten.«
Er mußte eine Pause machen und sich verschnaufen. Der Atem ging kurz und stoßweise und pfiff wie durch eine verstopfte Röhre. Die Brust flog. Ich hielt noch immer seine Hand in der meinen und sah stumm in diese überglänzenden Augen, in denen ich, wenn ich gläubig gewesen wäre, vielleicht schon etwas von dem Lichte jenseitiger Auen zu erblicken gemeint hätte. Und das gemurmelte Selbstgespräch begann von neuem:
»Im ganzen war es ja nicht übel ... daß man da war ... wenn auch ein bißchen kurz! ... Man hat gelebt! ... Na also! ... Schön war's doch! ... Aber daß gleich ... der ganze Kerl ... in die Binsen soll ... weil so ein Paar Lungenflügel ... nicht richtig ... wirtschaften können ... das will mir nicht in den Kopf! ... Vielleicht wird doch nur so etwas ... wie eine neue Schüttung ... gemacht ... Wenn der Weizen auf dem Speicher ... weißt du ... ein bißchen stockig ... geworden ist ... läßt man ihn ... durchschaufeln ... dann ist er wieder ... börsenfähig ... Am Ende werden wir da drüben ... auch nur so etwas ... durchgeschaufelt ... pro forma ... und kommen wieder frisch auf den Markt? ... Was meinst du dazu ... alter Junge? ... Willst du für den Fall ... Nachricht ... von mir haben? ... Soll ich dir ... ein Zeichen geben?«
Er richtete sich ein wenig im Kissen auf und starrte mich an. Aus den Nebeln des Gewesenen schienen ihm die Umrisse einer Erinnerung aufzusteigen.
»Immer noch besser ... im Kopf ... nicht ganz richtig zu sein,« ächzte er und traf mich mit einem bedeutsam ironischen Lächeln, »ja besser noch ... im Kopf ... als auf der Brust! ... Hier ... pfeift es ... zum Abfahren! ... Und du ... kannst lachen ... mit deinem kleinen ... blonden ... Luderchen! ... Wann ist die Hochzeit? ... Nur immer hinein ... ins Vergnügen! ... Verrückte Welt!«
Ich schüttelte den Kopf und winkte ihm ab. Die jähe Erkenntnis, wie hier in lächerlicher Umkehrung der Sterbende mich, ich wiederum ihn beneidete, zuckte wie ein greller Blitz vor mir auf und ließ mich die Augen schließen. Als ich sie wieder öffnete, hatte Schwarzwald sich noch weiter erhoben und schien hinter sich in den Kissen nach etwas zu suchen. Es sah gespenstisch aus, fast als habe ein Toter sich noch einmal im Sarge emporgerichtet und stiere mit weit aufgerissenen Lidern ins Leere.
Ein Frösteln durchflog mich. Aber ich beherrschte mich, trat dichter hinzu und stützte den Röchelnden, der schlaff wie ein Bündel Wäsche in meine Arme sank. Seine Augen dankten mir wortlos. In der rechten Hand hielt er ein dünnes Schreibheft, in der linken einen Bogen Papier. Das war es wohl, was er in den Kissen gesucht und gefunden hatte.
»Tu' mir ... einen letzten ... Liebesdienst!« murmelte er.
Ich nickte stumm.
»Nimm das hier« (seine rechte Hand spielte gleichsam tändelnd, liebkosend ein wenig mit dem Heft) »... und steck' es bei dir zu Hause ... ins Feuer! Es sind ein paar ... dumme ... hingekritzelte ... Verschen! Mariechen ... braucht nicht ... zu erfahren ... daß ihr alter ... wackliger Ehekrüppel ... einen siebzehnjährigen ... Backfisch ... besungen hat. Und wenn du sie siehst ... die mein Licht war ... sag' ihr ... es tut mir leid ... ich kann ihr ... nicht mehr begegnen ... ich bin unabkömmlich ... Vielleicht hörst du dann auch ... wenn du mit ihr sprichst ... ob die Stimme ... wirklich so weich ... und süß ist, wie ich mir immer ... eingebildet habe ... Ich selbst ... habe sie nämlich ... nie sprechen hören ... Alles, Phantasie! ... Phantasie!«
Er schüttelte, wie zwischen Mißbilligung und Verwunderung über den seltsam irren Gang des Lebens, den kahlen Schädel und hatte ein satirisches Lächeln dazu, das auf dem immer schärfer sich modellierenden Totenkopfgesicht wie ein schauerliches Grinsen aussah.
»Phantasie! ... Alles Phantasie! ...« klang es in mir nach. Ich drückte krampfhaft seine Hand, durch dieses im Tiefsten noch mit ihm verbunden, ehe es an den Abschied für immer ging.
Schwarzwalds Fingern war das Heft entglitten. Ich nahm es von der Bettdecke auf und steckte es zu mir. Seine Linke wedelte kraftlos mit dem Bogen Papier.
»Dies dagegen ist meine ... Todesanzeige ... und was auf den Stein ... kommen soll ... Mariechen ... versteht sich ... besser aufs Hüteputzen als aufs Grabschriftenmachen ... Nimm du das in die Hand! ...«
Er hatte den Bogen auseinandergefaltet. Ich las in großen, zitternden Buchstaben darauf gemalt:
»Hier ruht Julius Schwarzwald, geboren am 30. Juli 1819, gestorben am ...« (der Platz war leer). »Es ist alles ganz eitel! sprach der Prediger. Sprüche Salomonis, Kap. 1, Vers 2.«
Der Kranke lächelte wieder geisterhaft und murmelte:
»Den leeren Platz ... mußt du selbst ... ausfüllen ... Tag und Jahreszahl ... Es ist eine kleine ... Mühe ... Alles ist eitel ...«
Da litt es mich nicht länger. Ich griff nach dem armen Fetzen Papier, in dem ein Menschenleben beschlossen lag, preßte noch einmal die feuchten, knochigen, sterbenden Hände und ging, ohne mich umzusehen, aus dem dämmerigen Zimmer. Draußen mußte ich mich gegen den Türpfosten lehnen. Mir war schwach. Und die Tränen flossen mir unaufhaltsam über die Backen.