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Gegen Ostern 1860 mußte ich in Geschäften nach Berlin, und es wurde Anfang des Mai, ehe ich zurückkam. Unterwegs fühlte ich mich merkwürdig ruhig und gleichsam unbeteiligt an meinem eigenen Leben der letzten Monate. Es war, als sei der Bewußtseinsstrang in mir irgendwie durch eine plötzliche Operation getrennt, wie man die beiden Enden eines entzweigeschnittenen Regenwurms ruhig, als sei nichts geschehen, auseinanderkriechen und jedes auf eigene Faust weiterleben sieht. So war auch mein anderes Stück in D. zurückgeblieben. Es war das mit der vergifteten, unheilbar entzündeten Blutbahn, während mein gesundes Teil, siebzig Meilen davon entfernt, eine klare, nüchterne, zweckbewußte Existenz führte, frei von besonderen Aufwallungen der Lust oder des Leides, so etwa in der Donnerstagsstimmung eines Durchschnittsmenschen, dem der vergangene und der kommende Sonntag noch ziemlich gleich weitab liegen.
Aber was würde sein, wenn wieder Sonntag geworden wäre? Oder die beiden Enden des Regenwurms wären wieder zu gemeinsamem Haushalt zusammengekrochen? Würde da das gesunde Ende des kranken oder das kranke des gesunden Herr werden?
Törichte, zwecklose Frage das, heute, nach so manchem Jahr, wo dies alles ja längst feststeht, gleichsam als verbriefter und besiegelter Sektionsbefund dem Aktenschrank meines Lebensprozesses einverleibt ist! Und doch, wie unbillig, mein damaliges Leben mit meinen heutigen Augen beurteilen zu wollen, mein Einst nach meinem Heute zu richten und jenes krank, dieses gesund zu nennen! Wer weiß, ob nicht umgekehrt mein heutiges schlecht, vernichtend schlecht bestünde, wenn es wiederum mit meinen damaligen, vermeintlich kranken, ach! vielleicht wahrhaft gesunden und glücklichen Augen gesehen, gemessen, gewogen werden könnte! So schütteln wir an jedem Meilenstein den Staub des jüngst zurückgelegten Weges verächtlich von uns, als sei das Gehabte nichts, das Kommende alles, und merken erst zu guter Letzt, daß es immer wieder das Leben selbst war, das wir damit hinter uns warfen ...
Ich war an einem warmen, weichen Mainachmittag nach D. zurückgekehrt. Früher als sonst hatten die Wälle und Bastionen, die ich beim Einfahren sah, sich mit frischem, üppigem Grün bekleidet, und lustig spielte das junge Blättervolk des alten schwärzlichen Lindenstammes, der dicht vor meinen Fenstern aus fremder Zeit gewachsen stand, mit dem lenzlichen Abendwind.
Mit einer ungewohnten Zärtlichkeit, fast mit Rührung erfüllte es mich, die engen dämmerigen Gassen wieder zu betreten, die meine Kindheit umschlossen hatten, und der ahnungswehen Erinnerung früher Tage, die unwiederbringlich vorbei waren, gesellte sich das frische Gedenken an ein junges Gegenwartsglück, das schmerzlich süß, blühend schwer seit Monaten hier für mich bestand und nur meiner Wiederkehr wartete, um mich von neuem – wer weiß noch auf wie lange! – in seinen berückenden Dunstkreis zu ziehen.
Mit einem Schlage war alles wieder erwacht, was in den Reise- und Trennungswochen wie eingeschlummert schien, die beiden eben noch getrennten Hälften meines Bewußtseins, meiner Erinnerung, meines Lebens wieder nahtlos in eins verwachsen, und aus dem gleichgültigen, trivialen Dutzendmenschen mit der Donnerstagsstimmung wieder der unheilbar Verliebte, der rettungslos Leidende mit den tiefen, leuchtenden Lebensfarben geworden, der sich nicht vorzustellen vermochte, daß es je anders gewesen, je anders werden könne und daß dies alles einmal ein Ende nehmen müsse.
Am folgenden Nachmittag besuchte mich Karola, wie ich es durch ein am Morgen mit ihr ausgetauschtes Billett verabredet hatte. Eine große Vase mit blühenden Kirsch- und Apfelzweigen stand auf dem Sofatisch und brachte den Frühling in die heimliche Enge der altväterischen Kapitänsstube. Durch die halboffenen Fenster strich der Seewind und führte einen leichten Schiffs- und Teergeruch mit sich, der mich nun vollends überzeugte, daß ich wieder zu Hause und an meinem Platze sei. Der Wasserspiegel des Hafenflusses, auf den die Nachmittagssonne schien, war von der frischen Brise in fortwährendem, unermüdlichem Blitzen, Glitzern und Funkeln. Manchmal hörte man Schiffstaue knirschen, Winden und Ketten rasseln, Rufe und Gegenrufe hin und her bewegter Matrosen, das ferne Heulen eines ein- oder ausfahrenden Dampfbootes, diese ganze Litanei des Schiffsverkehrs und des Hafenbetriebs, die dem Gotte des Handels geweiht war.
Karola trug ein neues, sehr modisches Frühjahrskleid, in dem die schlanke, graziöse Fülle ihres Wuchses sich aufs vorteilhafteste präsentierte. Der weiße Ton der Haut, zumal in dem spitzen Hals- und Busenausschnitt, erschien gegen das tiefe Meeresblau des Kleides noch durchsichtiger als sonst und gab unter der Umrahmung des aschblonden Haares dem ganzen Engelsgesicht einen auffallend schmachtenden, fast leidenden und angegriffenen Ausdruck. Ich war in der Tiefe meines Herzens, mir selber – wie ich nun erst merkte – halb unbewußt, gespannt, beinahe erregt gewesen, wie das innere Bild, das mir während der Reisewochen von ihr erwachsen war, sich zur Wirklichkeit verhalten, ob es nicht vielleicht als geschmeichelt und übertrieben sich entdecken werde, und fand nun, daß im Gegenteil die Wirklichkeit ausnahmsweise die Phantasie in Schatten stellte, so daß ich nach den ersten Augenblicken der Überraschung, Betrachtung, Sammlung meine Ungeduld kaum zügeln konnte, das entzückende, sinnverwirrende Geschöpf in meine Arme zu ziehen und es wieder ganz, ganz mein zu nennen.
»Sind Sie immer noch solch ein Werwolf?« lächelte Karola und schüttelte schwach den Kopf, ohne sich im übrigen viel zu sträuben, wie ich es ja an ihr gewohnt war.
»Immer noch! Immer noch!«
»Also noch nicht satt an mir gegessen? Und ich dachte, Sie würden jetzt ganz geheilt von der Reise zurückkommen?«
Ich sah ihr tief in die Augen, die in einem unbestimmten, nächtigen Grau schwammen.
»Geheilt sagst du? Hältst du mich für krank?«
»Wer sich verliebt hat, ist immer krank. Liebe ist die schlimmste Krankheit, die es gibt.«
Sie hatte das sehr leise, mit einem kleinen Seufzer gesprochen und dabei den Kopf ganz nach hinten zurückgelegt, wie um sich vollständig einem Gefühl zu überlassen, das zugleich schmerzlich und wonnevoll war, wenn man aus dem seltsam gespannten und leidenden Zug um ihre Mundwinkel schließen wollte.
»Hast du das auch schon erfahren?« fragte ich und suchte in ihren Zügen weiterzuforschen.
»Glauben Sie nicht auch, daß man an der Liebe zugrunde gehen kann?« erwiderte sie statt einer Antwort.
»Schon möglich!« nickte ich aus tiefem Verstehen heraus.
Karola schien wieder über etwas nachzudenken. Plötzlich fragte sie, scheinbar ohne Zusammenhang, indem sie den Kopf auf ihren zurückgelegten nackten Arm stützte und dabei zur Decke sah:
»Was machen Sie, wenn Sie gar nicht mehr von mir loskommen?«
Ich zuckte mit den Achseln und schwieg. Was hätte ich ihr antworten sollen? Wußte ich es denn selbst? Und was hatte doch der Fremde in jener Nacht mir ins Ohr geflüstert? Der Fremde, der vielleicht mein heimgekehrter Ahnherr war, bestimmt, mein Verderben zu vollenden? Nein, nicht daran denken! Nicht daran denken! Ich wischte mir mit der Hand über die Stirn, wischte und wischte ...
Karola öffnete die Lippen und fuhr in ihrer Grübelei fort, indem sie sich mit der flachen Hand mehrmals von rückwärts, wie im Takt, gegen ihr Lockenchignon klopfte:
»Dabei glaub' ich gar nicht mal, daß Sie wirklich verliebt in mich sind. Was man so lieben nennt. Es ist alles nur Sinnlichkeit bei Ihnen. Sie lieben ganz einfach nur meinen Körper. Ja, ja, so sind Sie!«
Ich lächelte unwillkürlich über ihre Torheit, die so voll Weisheit war.
»Und wer ist denn anders?« fragte ich. »Körper! Geist! Liebe! Sinnlichkeit! Wer will das alles unterscheiden?«
»Ja, vielleicht haben Sie recht,« meinte sie lebhaft, besann sich aber sogleich: »Ich weiß doch nicht ...«
Sie wiegte nachdenklich den Kopf, wobei sich rechts eine Haarsträhne löste und sich lockig über ihre flaumige Achsel legte.
»Wer liebt dich denn anders nach deiner Meinung?« fragte ich etwas lauernd, während meine Blicke sich auf die gelöste Locke in der Achsel hefteten. »Wer liebt überhaupt anders?«
»Vielleicht doch! ...« grübelte sie. »Vielleicht doch!«
Wir schwiegen beide. Ich sah, daß etwas in ihr arbeitete und wartete. Ihre Brüste hoben sich schneller. Jetzt schien es sich nicht länger halten zu lassen, schien mit Gewalt herauszuquellen.
»Und wenn man nun selbst so eine ist, die ...?«
Sie stockte wieder, von einem ganz leichten Rot, nur wie von einem Hauch gefärbt.
»So eine, die ...?« drängte ich.
»Die nicht bloß dazu da ist, einen glücklich zu machen, sondern mehrere? Vielleicht sogar eine ganze Anzahl? Viele?«
Sie atmete aus tiefster Brust auf und warf den Kopf ins Kissen zurück. Gott sei Dank! Es war heraus.
Ich sah sie lange an und nickte.
»Und du glaubst, daß du so eine bist?«
»Ist das ... sehr schlecht von mir?« fragte sie zaghaft.
Ich zuckte mit den Achseln.
»Schlecht! ... Gut! ... Aber sonderbare Fragen stellst du heute!«
»Ach, es geht mir alles so durch den Kopf. Wer weiß, wie das mit mir noch wird!«
»Warum?«
»Mit dem Theater und so. Es kommt alles so langsam. So furchtbar langsam ... Jetzt ist die Saison zu Ende und ich bin eigentlich noch keinen Schritt weiter. Ich sing' im Chor. Das ist schon was Rechtes. Ich hab' mir meine Karriere ganz anders gedacht.«
»Du hast dir gedacht, wenn du auftrittst, dann muß die Welt auf Stützen stehen?«
»Ja, so ähnlich. Machen Sie sich noch lustig! ... Ich geb's noch nicht auf. Die Pellerini sagt auch, ich dring' schon noch durch. Die Stimme ist doch da. Leidlich hübsch bin ich auch! ... Ach, manchmal hab' ich so viel Mut! Dann wieder gar nicht! ... Aber so viel weiß ich, wenn's mit dem Theater Essig ist ... Kindermädchen werd' ich nicht! Und Ladenmamsell auch nicht! Dann geb' ich mir einen Stoß und laß mich schwimmen. Irgendwo komm' ich schon an Land ... Warum nicht? Es muß auch solche geben.«
Sie warf sich heftig auf die andere Seite und seufzte unzufrieden auf. Ich sann vor mich hin und schwieg. Mir war weich und schwer zumut. Vor meiner Seele klang es wie das ferne Rauschen mächtiger schwarzer Flügel, die an einem eben noch heiteren Himmel heraufzogen.
Sie wandte mir über die Schulter wieder den Kopf zu, während ihr Körper halb abgekehrt blieb, und schien in meinem Gesicht zu forschen.
»Dann wollen Sie natürlich nichts mehr von mir wissen?« kam es tastend, zögernd, lockend von ihren Lippen.
»Kind! Kind!« sagte ich traurig und weidete im gleichen Moment (so ist der Mensch!) meine Blicke an dem weichen Rund ihrer nackten Glieder.
»Heiraten tun Sie mich ja doch nicht?« begann sie wieder, mich über die Schulter weg immer noch im Auge behaltend, und nach einer Pause, da ich geschwiegen hatte: »Außerdem ist es auch sehr die Frage, ob ich Sie nehmen würde.«
Ich erlaubte mir, ein wenig zu lächeln, was sie sichtlich in Harnisch brachte.
»Bilden Sie sich nur keine Schwachheiten ein! Ich weiß ganz genau, was ich will. Ich kenne meinen Weg. So eine wie ich taugt nicht zur Ehe. Vielleicht werden Sie mich noch einmal wollen. Dann werd' ich nicht wollen. Das soll meine Rache sein.«
Ich lächelte wieder, aber diesmal nicht ironisch, sondern sehr nachdenklich und betroffen, wie erleuchtet von einer plötzlichen Vorahnung, als seien ihre Worte bestimmt, sich wirklich einmal zu erfüllen.
Sie schien von der Wirkung ihrer Prophezeiung befriedigt und kehrte sich ganz wieder zur Wand. Aber ein neuer Gedanke schreckte sie auf und ließ sie sich abermals zu mir herumwerfen, so daß ich nun den vollen Anblick ihrer Vorderseite genoß.
»Denken Sie, wo ich gestern war! ... Bei der Wahrsagerin! Bei der Kartenlegerin!«
Ich sah sie erwartungsvoll an.
»Und wissen Sie, was sie mir prophezeit hat?«
»Nun?«
Sie richtete ihren Oberkörper ein wenig in die Höhe, wie um den Eindruck des Kommenden auf meinem Gesichte zu verfolgen. Dann sagte sie ruhig und lächelte dabei:
»Ich werde nicht älter als dreiundzwanzig. Ich sterbe eines unnatürlichen Todes.«
Wie schneidend kaltes Eisen durchfuhren mich die Worte.
»Rede keinen Unsinn! ... Was ist das für ein Wahnwitz!«
»Ganz gewiß!« beteuerte sie. »Sie hat's mir aus den Karten geweissagt. Und ich glaub' auch daran. Hab' ich da nicht alle Ursache, mein Leben noch zu genießen?«
Ihr Kopf sank in die Kissen zurück. Die Arme kreuzten sich über dem Kopf. Der blonde Leib dehnte und streckte sich, als wolle er die warme Flut des Lebens mit Inbrunst noch über sich weg rieseln und strömen lassen, solange es ging.
»Küsse mich!« hauchte sie schwach und bot mir ihren Mund. »Küsse mich, ehe es zu spät ist!«