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11

Fünf Tage waren seit meiner Rückkehr von K. verflossen, ohne mir ein Lebenszeichen von Karola gebracht zu haben, und die Angst meiner Nächte, alles sei nur ein Wahnbild gewesen und ich würde sie nicht wiedersehen, begann sich bereits in meine Tage einzuschleichen. Da erhielt ich am sechsten Morgen, während ich gerade ruhelos meinen Frühstückstisch umkreiste und alle Möglichkeiten für und wider abwog, die erlösende telegraphische Depesche: »Großfürstin kommt Mittagszug. Bereite würdigen Empfang. Fritzepritz.«

Ich mußte unwillkürlich laut auflachen, als ich die Worte las und mir die zynische Grimasse des Konsuls dabei vorstellte. Wie die Welt doch mit einem Schlage anders aussah! Mir war, als hätte ich tagelang Zahnschmerzen gehabt und sei mit dichtverbundenem Kopfe umhergegangen. Die Dinge des Lebens hatten nur ganz von weitem in meinen Ohren gesummt, und alle Gedanken hatten sich um den einen dumpfen, bohrenden, zuckenden Nerv, um den qualvollen Dorn im Fleisch gedreht. Plötzlich war, wie durch eine Wundertinktur, dies alles mitsamt Binden und Tüchern von mir fort und ich sah entzückt die freie, leuchtende Herrlichkeit der Welt.

Ich stürzte an die Fenster meines Wohnzimmers, stieß sie auf und atmete aus tiefster Brust. Welch strahlender Himmel, gleich tiefblauem Samt, über den roten Giebeln und Dächern straßauf, straßab. Wohl erinnerte ich mich dunkel an eine Reihe von schönen warmen Tagen, die seit meiner Reise nach K. einander gefolgt sein mußten. Sie waren aus den unermessenen Weiten des Kommenden über die schmale Regenbogenbrücke des Heute dahingezogen, um in den bodenlosen Abgründen des Gewesenen zu verschwinden, und keine Spur ihres Seins war mir geblieben. Erst dieses heutige Heute, diese Sonne erst und diese wolkenlose Bläue waren wirklich und wahrhaft und unverlierbar.

Ich ging in mein Bibliothekszimmer, öffnete den Schreibsekretär und malte mit großen Buchstaben und Zahlen auf einen weißen Bogen Papier: »Montag, den 19. September 1859, vormittags 10 Uhr.« Es war mir, als schriebe ich damit eine Art von kabbalistischer Zauberformel hin, die ich sorgfältig wegschließen und aufheben müsse, da ich sie vielleicht einmal brauchen würde. Irgend etwas in mir widersprach dem zwar und ließ mich über mich selbst den Kopf schütteln. Dennoch tat ich, wie mich mein Daimonion geheißen, und legte das Papier in meine Geheimmappe, während das Bildnis meines Urgroßvaters, des Ratsherrn Johann Kaspar Stobäus, von seinem Platz über dem Schreibsekretär ernsthaft auf mich herunterblickte.

Auf dem Wege zum Bahnhof, den ich zu Fuß machte – mein Wagen sollte nachkommen –, traf ich meinen alten Schulfreund Julius Schwarzwald. Er bewohnte in einer der stillen menschenleeren Gassen dieses Stadtviertels ein hübsches zweistöckiges Familienhaus und saß gerade im Sonnenschein auf dem Beischlag, als ich vorbeiging.

Wir kannten uns seit unserer Kinderzeit, hatten zusammen Klipp gespielt und Ball geschlagen und waren im gleichen Zug nebeneinander auf der Leiter der Realschule von Sankt Petri emporgestiegen. Er war immer ein schwächlicher und blutarmer Junge gewesen, wie ich auch, und das mochte uns im stillen, uns selber unbewußt, verbunden haben.

Später war ich ins Gymnasium übergegangen, er in die kaufmännische Lehre eingetreten, und wir hatten uns etwas aus den Augen verloren. Als ich ihn nach meiner Studentenzeit wiedersah, fand ich einen lang aufgeschossenen, schmalschultrigen Menschen mit kahlem Schädel und roten Flecken auf den vorstehenden Backenknochen, dem man auf den ersten Blick den Brustleidenden anmerkte.

Er hatte sich als Getreidefaktor in D. etabliert, brachte die Mittagsstunden regelmäßig auf der Börse zu, wo man ihn mit den Bauern, Gutsbesitzern und Inspektoren der Umgegend verhandeln sehen konnte, und stand wohl auch, wenn ich mich nicht irre, in Geschäftsverbindung mit Konsul Pritzlaff in K. Seine Verhältnisse waren schon von den Eltern her geordnete, sein Geschäft ging vortrefflich, da er sich unter seinen Kunden einer großen Beliebtheit erfreute. Er war nämlich stets heiter und guter Dinge, öfters von sprudelnder Laune und sarkastischem Witz, der neben den anderen auch sich selbst und sein eigenes Leiden nicht verschonte, wie sich das bei Schwindsüchtigen findet.

Wie oft war er nicht unter seinen Bekannten totgesagt worden, und immer hatte er sich von den schwersten Anfällen wieder erhoben und sogar als reiferer Dreißiger noch eine junge schwarzäugige Frau geheiratet, die ihm in wenigen Jahren drei Kinder geboren hatte.

Als ich im Näherkommen Schwarzwald auf seinem Beischlag sitzen sah, fiel mir ein, daß er neulich ja eine besonders schlimme Attacke gehabt hatte und diesmal endgültig aufgegeben gewesen war. Nun hatte er dem Knochenmann und seinen voreiligen Propheten abermals ein Schnippchen geschlagen und atmete, im Lehnstuhl halb hingestreckt, mit seinen armen zerstückelten Lungen die würzige Seeluft, die ein leichter Wind über die Stadt hertrug.

Ich freute mich, daß doch wieder das Leben sich stärker gezeigt hatte als der Tod, was so ganz meiner augenblicklichen Stimmung entsprach, und trat näher, um den Genesenden zu begrüßen. Er wickelte seine Hand aus der schwarzen Decke, in die er bis an den Hals eingemummt war, und reichte sie mir schwach herüber.

»Nun ist es doch wieder nichts damit,« sagte er mit leiser belegter Stimme und lächelte.

»Womit?« fragte ich teilnehmend.

»Mit dem Trauerhut für meine Frau,« erwiderte er hüstelnd. »Schade! ... Schwarz steht ihr so gut.«

»Aber, Kerlchen ...!« versuchte ich abzuwehren.

Er winkte ungläubig mit der Hand und preßte das Taschentuch vor den Mund.

»Was nicht ist, kann ja noch werden,« klang es krächzend dahinter hervor. »Wir müssen ja alle mal dran glauben ... Und Mariechen ist ja noch jung ... Ich werde ihr schon mal den Gefallen tun müssen ... damit sie zu ihrer Farbe kommt.«

Ich schwieg und sah besorgt auf ihn hinunter, wie er so, ein Bild der Erschöpfung, im Stuhl lehnte und vor sich hinstarrte. Plötzlich kniff er das eine Auge zusammen und erhob den Kopf ein wenig zu mir.

»Man muß die Weiber kennen,« klang es hohl aus seinem Brustkasten, wie aus einer leeren Tonne. »Sie sind nicht wie wir ... Ich sage nicht, sie sind schlechter ... auch nicht besser als wir. Sie sind bloß anders. Total anders! ... Eine Speicherkatze braucht ja auch nicht zu sein wie ein Ziegenbock ... Ein echtes Frauenzimmer ist wie eine gute Reisetasche. Man kann hineinstopfen ... und hineinstopfen. Es ist immer noch Platz für etwas. Der kranke Mann ... das neue Kleid ... die Krinoline von Tante Ida ... was bei Lemkes auf den Tisch kommt ... ob Jettchen bald mit dem Zahnen fertig ist ...«

Ein heftiger Hustenanfall warf ihn in den Stuhl zurück. Es war ein Keuchen, Ächzen, Rasseln, als habe eine unsichtbare Hand innen in das verborgene Uhrwerk hineingegriffen, um es für immer zum Stehen zu bringen. Ich beugte mich über ihn, deckte ihn sorgfältig wieder zu und flößte ihm einen Löffel von der neben ihm stehenden Medizin ein. Allmählich ließ der Krampf nach. Schwarzwald dankte mir mit einem Druck seiner feuchten, heißen Hände und sagte, als habe er in meinen Augen gelesen:

»Keine Bange, Freundchen! ... Er holt mich noch nicht! ... Mariechen wird noch ein Weilchen Geduld haben müssen. Und was die Frauenzimmer im allgemeinen anbetrifft ... man braucht doch nun mal ... eine Reisetasche ... für unterwegs ... Solltest dir auch noch so ein Dings anschaffen auf die Reise. Zeit wär's! ... Aber aufpassen heißt es, Freundchen. Augen haben wie ein Luchs ... Die Dinger werden einem ... zu leicht vertauscht oder stibitzt. Und je aparter das Muster ... desto fixer.«

Ich bedeutete ihm, sich zu schonen, indem ich den Finger auf den Mund legte, winkte ihm zu und ging. Seine Worte klangen mir in den Ohren nach, ohne daß ich mir Rechenschaft ablegte, warum. Es war ja nichts darin, was ich nicht selbst längst gewußt hätte. Aber ihren tiefsten Sinn empfinde ich doch erst heute, wo ich im eigenen Schicksal den Schlüssel dazu gefunden habe. So gehen wir alle schablonenmäßig mit dem Leben zu Werke, schwatzen mechanisch hunderterlei Wahrheiten und Tatsachen nach, die in Wirklichkeit nur die Tatsachen und Wahrheiten anderer sind, und merken erst, was hinter der simplen Wirklichkeit eines Ziegelsteines steckt, wenn er uns auf den Kopf gefallen ist.

Am Bahnhof fand ich meinen neuen Verdeckwagen mit den beiden dreijährigen Fuchsstuten, die erst seit kurzem in meinem Stall standen, und hatte gerade noch Zeit, mir von dem diskret lächelnden Klaus das bereitgehaltene Rosenbukett geben zu lassen. Gleich darauf schnaufte der Zug herein. Karola stand am offenen Fenster eines der vorderen Kupees und nickte mir lächelnd zu.

Sie trug ein blaugewürfeltes Reisekleid mit gleichem Paletot, in dem sich ihre biegsame, ebenmäßige Gestalt sehr vorteilhaft abzeichnete, und einen Schäferhut mit schwarzen Bändern, wie es damals Mode war. Die Türen wurden aufgerissen und ich half ihr über das steile Trittbrett auf den Boden, wobei sie sich ein wenig auf meinen Arm stützte, so daß ich den elastischen Druck ihres wohlgeformten Busens fühlte. Eine heiße Blutwelle durchschoß mich, und ich zog die Operation etwas länger, als gerade nötig war, hinaus. Karola ihrerseits schien es willig hinzunehmen, ja, sich noch dichter an mich anzuschmiegen. So standen wir ein paar kurze, selige Augenblicke ganz ineinander versunken, während das Bahnhofsgetriebe uns umdrängte.

Ihr Blick fiel auf das Bukett in meiner linken Hand.

»Ach, und die wunderschönen Rosen!« rief sie. »Sind die für mich?«

»Natürlich!« bejahte ich. »Für wen denn sonst?«

»Oh, sind die schön! Sind die schön! Ganz wunderschön!« wiederholte sie mit einem Tone aufrichtigen, kindlichen Entzückens, der mein ganzes Herz hinnahm, und drückte die Rosen tiefatmend gegen ihr Gesicht. »Das tut gut! Das tut gut nach der langen, heißen, staubigen Fahrt! Die kühlen weichen Rosenblätter! ... Und daß Sie daran gedacht haben! Ich habe Sie gar nicht für so aufmerksam gehalten.«

»Warum denn nicht?« fragte ich erstaunt.

»Ich weiß nicht, Sie haben so etwas Finsteres, so etwas Verschlossenes im Gesicht. So etwas ... wie soll ich sagen ... fast etwas Verächtliches. Ich meine, als wenn Sie einen verachten würden.«

»Ich Sie verachten? O Karola! Kind ...!«

»Nicht nur mich! ... Alle Menschen überhaupt.«

»Schon möglich!« warf ich ein. »Außer Ihnen. Sie nicht, Karola, Sie niemals.«

Die Kleine warf mir über ihr Bukett hin einen schalkhaften Blick zu.

»Was? Alle Menschen verachten Sie? Bloß mich nicht? Das ist drollig.«

»Nicht so sehr, Sie kleine Spitzbübin, Sie!« sagte ich und drohte ihr mit dem Finger.

Sie lächelte und vergrub ihr Gesicht wieder in das Rosenkissen.

»Ich glaube, man muß Sie erst kennen lernen. Sie sind ja gar nicht so schlimm.«

Wir waren während des Gespräches langsam nebeneinander her und durch den Bahnhof geschritten und standen vor meinem Kutschwagen, dessen Schlag Klaus, jetzt mit steinerner Miene, geöffnet hielt.

»Ist das Ihre Kalesche?« fragte Karola, und ihr Respekt vor mir schien zu wachsen.

»Allerdings, mein Fräulein! Bitte nur einzusteigen.«

Ich hob sie mit einer fürstlichen Gebärde in den grauen Atlasfond des Wagens. Klaus stand mit tiefgezogenem Hut in abwartender Haltung.

»Du bist entlassen,« sagte ich ihm. »Zum Abend alles parat halten.«

Klaus verneigte sich zustimmend, und ich sah ihm an, daß er mit mir und meiner Wahl zufrieden war.

»Nach Zeidlershöhe, Jan!« rief ich dem Kutscher zu. »Außen herum fahren! Nicht durch die Stadt!«

»Sie fürchten sich wohl ein bißchen?« fragte sie mit einem ironischen Lächeln, das mich ärgerte.

»Ich fürchte mich vor nichts!« antwortete ich etwas schroff. »Ich bin nur kein Freund von unnützem Aufsehen.«

»Ich ja!« meinte sie ganz ruhig und warf den Kopf ein wenig zurück. »Warum soll man nicht Aufsehen machen?«

Ich schwieg.

Sie merkte meinen Unmut und legte mir begütigend die Hand auf den Arm.

»Aber Sie haben ja ganz recht. Fahren wir außen herum. Wozu müssen alle die dummen Menschen wissen, was man tut!«

So fuhren wir durch die stillen Gassen längs der Festungsmauer, in denen das Rasseln der Räder und das Aufschlagen der Hufe auf dem holperigen Steinpflaster alle Köpfe aus den Fenstern lockte, und gewannen durch das nächstgelegene Tor, über den breiten moosgrünen Stadtgraben hinweg, den Weg ins Freie und außen um Wälle und Bastionen herum zur großen Allee, die nach Johannistal und Zeidlershöhe führt.

Unter den braungelben Blätterkronen der alten hohen Alleebäume war es um diese Mittagsstunde still und menschenleer. Nur ein paar Husarenoffiziere, die ich vom Ansehen kannte, wie sie mich, ritten mit ihren Burschen an uns vorbei. Gleich darauf hörte ich, wie sie ihre Pferde parierten, offenbar, um uns nachzublicken und Bemerkungen über uns zu machen.

Ich wußte nicht, sollte ich mich ärgern oder mich geschmeichelt fühlen. Ein hübscher Anfang! dachte ich mir. Man wird aufzupassen haben! Wie war das doch vorher mit den Reisetaschen, was Schwarzwald geäußert hatte? Je aparter das Muster, desto leichter kommen sie einem abhanden. Ich schielte von der Seite ein wenig zu Karola. hin. Sie lag anmutig hingegossen in ihrer Wagenecke, ein Bild glückseligen Genießens und zugleich einer überraschend selbstverständlichen Sicherheit in der Situation. Zum Teufel ja! Apart war das, was ich da an meiner Seite hatte! So apart, daß sich wohl manche Hand danach ausstrecken würde, vielleicht schon ausgestreckt hatte. Aber was ging das mich an? Noch dazu in dieser Minute. Man würde ja sehen. Die Zeit würde das schon besorgen, irgendwie. Die Zeit verstand sich auf solche Geschäfte. Man konnte sich auf sie verlassen. Für jetzt hieß es, sich dem Augenblick hingeben, es dem hingegossenen Persönchen an meiner Seite nachtun, das sich von den Wellen des leise federnden Wagens wie von einem süßen Walzer hin und her wiegen ließ und dabei eine verliebte Melodie auf den sinnlich geschürzten Lippen zu haben schien.

»Mögen Sie gern Wagen fahren, Karola?« fragte ich sie lächelnd.

»Oh, für mein Leben gern!« nickte sie lebhaft. »Leidenschaftlich gern! Aber wann kommt man denn mal dazu? ... Der Konsul hat mich ja öfter Wagen fahren lassen, das ist wahr.«

»Der Konsul? So, so! Hm ...!«

Es mußte wohl etwas in meinem Gesicht oder in meinem Ton liegen. Sie stutzte und sah mich an.

»Ist Ihnen das nicht recht?« meinte sie ein wenig unsicher.

»Sie kennen wohl den Konsul schon ziemlich lange?« fragte ich ablenkend.

»Schon einige Zeit. Er hat sich immer sehr nett gegen uns benommen. Gegen Mama und mich. Wir haben ihm sehr viel zu danken. Besonders seit Papa tot ist! ... Finden Sie nicht auch, daß er ein ganz reizender alter Herr ist?«

»O gewiß, liebes Kind! Ganz gewiß! ... Sie haben ihn sicher auch sehr gern?«

Ich hatte die Worte nur so wie beiläufig hingeworfen.

»Aber doch nur väterlich,« erwiderte sie sehr bestimmt. »Was denken Sie denn von mir! Man wird sich doch nicht mit einem so alten Herrn einlassen.«

»Wollen Sie mir nicht etwas von Ihrem Leben erzählen, Karola?« sagte ich nach einer Pause.

»Mein Leben?« meinte sie achselzuckend. »Was gibt es da viel zu erzählen! Was erlebt man denn, wenn man arm ist und kein Geld hat!«

»Ich dächte, grade!« warf ich ein.

»Mehr als so eine reiche Gans gewiß!« erwiderte sie eifrig und machte dabei so ein drolliges Gesicht, daß ich unwillkürlich auflachen mußte.

»Was haben Sie denn?« fragte sie verwundert. »Sie lachen ja beinahe so wie der Konsul.«

»Lacht der so?«

»Ja, ich kann sagen, was ich will, er lacht! Fast über jedes Wort von mir lacht er! Wenn ich zum Beispiel von Mama spreche, daß Mama von so vornehmer Familie stammt, väterlicherseits, als uneheliches Kind, und daß sie sie beinahe als rechtmäßiges Kind angenommen hätten, wenn sie nicht zum Theater gegangen wäre, aus Liebe zur Kunst ... verziehen Sie nicht schon wieder das Gesicht! Jedes Wort davon ist wahr! Ich schwör's bei meiner Seele!«

»Ich glaub's Ihnen ja, liebes Kind,« sagte ich lächelnd und ergriff unter dem Spritzleder ihre kleine, weiche Hand, die sie mir willig überließ.

»Dabei lachen Sie in einemfort!« sagte sie unmutig und runzelte die dunkeln Brauen. »Aber das ist noch gar nichts gegen den Konsul. Der lacht, daß ihm der dicke Bauch nur so wackelt. So nett er sonst ist, aber das ist wirklich eine häßliche Angewohnheit.«

Sie wollte noch etwas sagen, schwieg aber und sah höchst unzufrieden vor sich hin.

»Ein Beweis eben, daß Sie ein komisches Talent ersten Ranges sind, liebste Karola!« sagte ich nach einem Augenblick etwas zerstreut, indem ich ihre Hand drückte.

»Finden Sie? Meinen Sie?« rief sie lebhaft mit einem Gegendruck und strahlte über das ganze Gesicht. »Ja, ich glaube selbst, ich habe Talent. Ich bin so fest überzeugt, ich werde noch mal eine berühmte Schauspielerin oder Sängerin. Oder beides zugleich. Ich muß nur meine Stimme noch richtig ausbilden lassen.«

»Ja, davon wollen wir jetzt einmal reden, von Ihrer Stimme und von der Bühne. Überhaupt von dem allen!«

»Ach, dazu ist immer noch Zeit,« meinte sie. »Jetzt wollen wir erst ruhig sitzen und in die Bäume sehen. Man genießt sonst gar nicht das Fahren. Und ich fahre so leidenschaftlich gern. Wenn ich einmal reich und berühmt bin, werd' ich den ganzen Tag im Wagen liegen.«

Sie brach ab und bettete sich wieder bequem in ihre Ecke zurück. Ich rückte ein wenig dichter zu ihr, so daß ich ihre warme Nähe fühlte, und behielt dabei ihre Hand in der meinen. So rollten wir eine Zeitlang schweigend in leichtem Trab unter den dunkeln hundertjährigen Linden dahin, zwischen deren leise flüsternden Wipfeln hier und da ein Stückchen tiefblauen Himmels herunterlächelte.

Wie wohl das tat nach dem Fieber und der quälenden Unruhe, die tagelang mein Blut erhitzt und meine Nerven gepeitscht hatten! Noch auf dem Wege zum Bahnhof – erinnerte ich mich – hatte mir das Herz bis zum Halse geklopft bei der immer wiederholten sorgenvollen Frage: Kommt sie oder kommt sie nicht? Hat sich der Konsul vielleicht einen Spaß erlaubt und statt des Mädchens steigt er selbst oder einer seiner Bekannten aus dem Zug? Oh, ich weiß nicht, wie ich es ertragen hätte! Es hätte mich umwerfen, mich um den Verstand bringen können! Ich wäre fähig gewesen, irgend etwas zu tun! Irgend etwas ...!

Nun sah ich auf all das zurück wie auf eine böse und schleichende Krankheit. Julius Schwarzwald fiel mir ein. Ja, so ähnlich wie der in seinem Stuhl lag und die Wonne des Genesens nach schwerer Lungenkrisis auskostete, so lehnte ich hier in der weichen Wagenecke, atmete befreit die feuchte Kühlung, die mir durch die schnurgerade Allee entgegenstrich, und genoß in tiefster Seele die glückhafte Leichtigkeit und die warme sichere Nähe meines neuen Besitzes.

Aber da zog auch schon ein Schatten über die lichte Helligkeit des Bildes. Wie lange mochte es denn dauern, bis ein neuer, vielleicht ein allerletzter Anfall über den Schwindsüchtigen kommen und ihm den Garaus machen würde? So lauerte auch für mich hinter der sieghaften Heiterkeit dieser jugendlichen Stunde wieder die altvertraute Urahne Melancholie, um mich in ihre Arme zurückzuziehen und ihren fahlen Geistermantel um mich zu schlagen.

Und noch etwas anderes war da, was ihr von jetzt ab die Herrschaft über mich streitig machen würde, etwas Schlimmeres noch als die graue Muhme selbst: das würde die Angst sein. Die Angst um das, was ich soeben noch meinen sichern Besitz genannt hatte und was der nächste Augenblick mir doch wieder nehmen konnte. Und was würde dann sein? Wie würde dann erst die dumpfe Schwermut des Daseins auf diese soeben entlastete, kaum schon aufatmende Seele drücken! Nein, das durfte um nichts in der Welt geschehen. Dieses hingeschmiegte zauberische Menschenbild an meiner Seite, mit dem Jugendglanz um Stirn und Wangen, mußte mein bleiben, und wenn ich darum auf Tod und Leben zu kämpfen hatte! Also würde doch wieder die Angst wie ein aufgehängtes Schwert über mir sein, und das Fieber, das meine letzten Tage und Nächte geschüttelt hatte, würde wieder- und immer, immer wiederkommen ...

»Was halten Sie vom Leben, Karola?« fragte ich plötzlich und unvermutet in die einlullende Stille.

Karola fuhr mit einem kleinen Schrei zusammen.

»Mein Gott, bin ich erschrocken!« sagte sie und schien leise zu zittern.

»Recht so, Sie kleines furchtsames Täubchen, Sie!« rief ich und preßte ihre beiden Hände in den meinen. »Recht so! Sie sollen auch erschrecken! Sie sollen Angst haben vor mir! Und jetzt schnell: Was halten Sie vom Leben? Glauben Sie nicht auch, es wäre besser, man lebte nicht? Oder man machte ein Ende beizeiten?«

»Um Gottes willen!« meinte sie ganz verdutzt und erhob bittend ihre Hände. »Nur nicht vom Sterben sprechen! Ich mag gar nicht an den Tod denken. Es muß schrecklich sein, zu sterben. Bitte, bitte, nicht!«

»Und doch werden wir nicht darum herumkommen, ums Sterben, kleine, schöne, einzige, süße Karola du!«

Eine wilde Lustigkeit hatte mich erfaßt. Ich schlang meinen Arm um ihre Hüften und drückte sie fest und heiß an mich.

»Bitte, bitte, nicht! Ich fürchte mich so!« hauchte sie, und man wußte nicht, fürchtete sie mich oder den Tod.


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