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Am zweiten Feiertage setzte Karola ihr am Heiligen Abend während der Wagenfahrt abgebrochenes Geständnis fort und beendigte es. Es war also doch, wie die im ersten Eifer entschlüpfte, nachher wieder abgestrittene Andeutung hatte vermuten lassen. Eine Heiratsmöglichkeit lag vor. Der jugendliche Komiker des Stadttheaters, der auch Buffopartien in Oper und Posse sang, hatte ihr einen Antrag gemacht. Ganz ungestüm war der Mensch! Geradezu aus dem Häuschen! Wie die Opernhelden, die die großen Arien zu singen haben und immerfort zwischen Liebeglühen und Racheschnauben hin und her rasen. Sehr begreiflich für einen Tenor! Jedoch ein Komiker? Aber so sind sie nun mal, die Komiker auf der Bühne. Im Leben nehmen sie alles so bitter ernst, wollen gleich erschießen und erstechen, wenn man nicht in allem nach ihrer Pfeife tanzt. Manchmal hatte sie Angst vor dem Menschen.

Also was tun? Natürlich hatte sie sich Bedenkzeit ausgebeten. Man konnte doch nicht von heute auf morgen den Sprung ins Dunkle machen. Sich verheiraten? Brrr! Mit der Bühne würde es dann auch zu Ende sein. Schon der Eifersucht wegen. Das wäre ja sonst eine Hölle. Allem Adieu sagen! Allem, allem?! (Ein flüchtiger Seitenblick hatte mich gestreift.) Und ob sie ihn genug dafür liebte? Gewiß – sympathisch war er ihr ja, mit all seiner Wildheit und Heftigkeit. Man sieht doch, was man einem Mann innerlich wert ist. So etwas schmeichelt einem. Aber Liebe? Ernstliche Liebe? Da gab es noch andere, für die man vielleicht mehr empfand, und die man doch im Traum nicht geheiratet hätte. (Wieder war ein schalkhafter Seitenblick über mich hingeflogen.) Schwierige Frage das! Einen Rat! Einen Freundesrat! Was ich denn von all dem dächte? Ich, der sie hatte singen und spielen sehen. Der sie auch sonst so gut kenne und überhaupt so schrecklich, so unheimlich gescheit sei, einen Menschen durch und durch zu sehen verstünde. Ob es für sie noch ein Fortkommen bei der Bühne gäbe? Ob ich noch an ihr Talent, an ihre Zukunft glaubte? Wenn nicht, dann wäre es wohl das Beste, die Augen zuzumachen und mit beiden Füßen hineinzuspringen in die Ehe, wie man ins kalte Wasser springt. Was bleibt einem übrig, wenn man nicht »so eine« werden will und sonst keine Aussichten hat!

Karola hatte mich zuerst recht furchtsam, dann, da ich ruhig blieb, kein Zug in meinem Gesicht sich regte, allmählich beherzter, schließlich ganz neugierig, schelmisch und geradezu spitzbübisch gemustert und schwieg nun erwartungsvoll.

Was sollte ich ihr erwidern? Es war merkwürdig still und gehalten in mir. Nach allem, was ich schon erlebt hatte, hätte dies letzte nun wohl als zündender Blitz in den aufgehäuften Sprengstoff einschlagen müssen – so etwas hatte wohl auch Karola selbst befürchtet –, aber es war, als sei durch die Erschütterung während jener Strandpromenade meine ganze Explosivkraft erschöpft und der Blitz ginge als ein kalter Schlag nieder, der keinen Funken zu wecken vermochte. Zweifelte ich insgeheim vielleicht an der Ernsthaftigkeit des Heiratsplans? Oder hoffte ich im Gegenteil auf seine Verwirklichung? Und auf ein allmähliches Überwinden, Vergessen, Vernarben, wenn so die Umstände selber mir zu Hilfe kämen und mich wohl oder übel zu einem Abbruch, vielleicht für immer, nötigten?

Ich weiß es heute selbst nicht mehr. Aber sicher ist, daß ich damals noch einmal, ohne es zu wissen, mein Schicksal selbst in Händen gehabt habe und frei darüber hätte bestimmen können, womit dann alles anders gekommen und diese Geschichte ungeschrieben geblieben wäre: indem ich Karola nämlich meine eigene Hand angeboten hätte, die sie, noch ohne jede Ahnung von ihrer so nahe bevorstehenden Entdeckung als Bühnenstern, ohne Zweifel auch angenommen und vielleicht ein neues Leben an meiner Seite begonnen hätte.

Aber auch das, wie so vieles andere Ungetane und Versäumte, was zur rechten Zeit bedacht und ausgeführt meinem Weg noch eine glücklichere Wendung gegeben hätte, übersehe ich erst heute, wo die Binde von meinen Augen gefallen ist und ich kaum zu begreifen vermag, wie sie mir je den Blick hat verdunkeln können. So kurzsichtig sind wir, gerade wenn die Situation das Gegenteil von uns verlangt. Wer weiß, ob das nicht überhaupt so etwas wie ein boshaftes Gesetz ist, wonach uns immer das Nächstliegende am tiefsten verhüllt bleibt. Aber so oder so: jedenfalls habe ich an jenem Nachmittag den entscheidenden Augenblick meines Lebens verpaßt und mit keinem Schimmer, soviel mir auch sonst durch den Kopf ging, an eine Heirat mit Karola gedacht. Als ich dann wirklich soweit war und ihr den Antrag machte, an jenem Herbstabend 62, da war es zu spät. Ihre Bühnenlaufbahn hatte sich entschieden, sie selbst hatte ihre innerste Natur entdeckt, und eben das, was zuvor vielleicht unser Glück gewesen wäre, hat hernach das furchtbare Ende oben auf Falkenhorst herbeiführen helfen.

Wer fühlt da nicht den absoluten Fatalismus über sich kommen? ...

Ein vieldeutiges Achselzucken, ein sarkastisches Lächeln, ein paar ausweichende Worte waren also meine ganze Antwort auf Karolas unsicheres Tasten. Enttäuschung – ich bemerkte es wohl, begriff nur nicht warum – malte sich auf ihren holden, reinen Zügen, zwischen den dunkeln Brauen erschien der wohlbekannte Bleistiftstrich des Unmuts. Sie warf den Kopf zurück und stampfte ein wenig mit dem Fuß auf.

»Wenn man dich wirklich mal braucht, für sein Leben gern einen Rat haben möchte, dann sitzest du da wie ein Stockfisch und schneidest ein Gesicht dazu, als ob du einen auslachen willst! Fehlt nur noch, daß du zu meckern anfängst, wie der Konsul, wenn man ein ernstes Wort spricht! Manchmal könnt' ich dich wirklich hassen!«

Damit war das Thema für diesmal abgetan. Weihnachten und Neujahr vergingen ohne weitere Zwischenfälle.


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