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Karola hatte Wort gehalten. Soeben sangen die hellen, bimmelnden Töne des Glockenspiels auf Sankt Katharinen, die die klare stille Herbstluft in meine offenen Fenster trug, die vierte Nachmittagsstunde aus, als unten am Haustor dreimal kurz nacheinander und ziemlich schüchtern der metallene Klopfer sich hören ließ.
Gleich darauf – so überraschend, daß ich noch gar nicht recht Zeit gehabt hatte, in meine gewohnte Spannung und Aufregung zu verfallen – war Karola, von Klaus eskortiert, in meinem Bibliothekszimmer erschienen.
»Ist das mit Rosalie (mein Drache von Haushälterin!) richtig besorgt?« fragte ich Klaus.
»Zu Befehl!« antwortete Klaus und schmunzelte, gegen seine sonstige Haltung, über das ganze Gesicht.
»Was hast du? Warum lachst du?« fragte ich etwas scharf.
»Ich habe ihr gesagt, sie soll ausgehen und braucht vor abends um neun nicht wiederzukommen.«
»Und?«
»Da hat sie mich angesehen, mit einem Gesicht, als ob sie mich fressen will. Ich habe an den Tiger bei Salamonsky im Zirkus denken müssen.«
Karola, die halb mit dem Rücken zu uns stand und die alten Renaissanceschränke an den Wänden musterte, lachte hell auf und drehte sich um. Ich stimmte unwillkürlich ein und winkte gleichzeitig Klaus ab. Er fuhr sich ordnend, glättend über die aus der Fasson gegangenen Wangen, bis die ordnungsmäßige Maske wieder an Ort und Stelle war, verbeugte sich und glitt hinaus. Wir waren allein.
Sonderbar! Welch eine Ruhe und Selbstverständlichkeit in mir war, nun da ich Karola wieder in meinen Händen wußte! War es das gewisse Gefühl des Besitzes, was mich so sicher stimmte, so gleichmütig machte? Als hätte ich sie niemals zu entbehren, nichts um sie zu leiden gehabt.
Und doch, Gleichmut war nicht das richtige Wort. Denn als ich sie nun, noch mit Mantel und Hut, dicht vor mir hatte, ihren Atem über mich hingehen fühlte, ihre beiden Schultern mit eisernem Griff gepackt hielt, wie eine gewonnene, nie wieder freizugebende Beute, und tief, tief in ihre dunkelgrauen, unbestimmt glimmenden Augen sah, da durchzuckte mich plötzlich ein schnelles, kurzes, einmaliges Aufschluchzen, eine Art krampfhaften Schluckens, wie ich es als Kind nach langem Weinen gekannt hatte, wenn man mir mein Spielzeug genommen und schließlich wiedergegeben hatte.
»Du weißt nicht, wie man sich um dich gehabt hat!« sagte ich aus innerster Brust und schloß die Augen.
»Ach, das bin ich ja gar nicht wert!« kam es mit einem kleinen Seufzer zurück, so überraschend, so überzeugend zugleich, daß ich ihre Arme losließ und, wollend oder nicht, laut lachen mußte.
»Das ist ein tiefes Wort der Selbsterkenntnis!« rief ich und drehte mich auf dem Aufsatz herum. »Ich will versuchen, daran zu denken.«
Karola schien diese Wirkung nicht beabsichtigt zu haben. Sie machte eine unzufriedene Gebärde und sagte mit dem Ton drolligen Ärgers, der ihr so gut stand:
»Kein Mensch ist wert, daß sich ein anderer das Herz um ihn zerbricht. Weder Mann noch Weib. Niemand ist es wert.«
»Ach, was weißt du davon!« warf ich hin und hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge.
»Sagen Sie das nicht!« meinte sie lächelnd. »Ich leide vielleicht auch am gebrochenen Herzen.«
Ich sah sie an und wußte nicht recht, machte sie Spaß oder Ernst? In ihrem Gesicht wie in ihrem ganzen Wesen schien mir etwas zu liegen, was ich so noch nicht an ihr gekannt hatte.
Wir saßen nebeneinander auf dem Sofa, bei Kaffee, Kuchen und Obst, welches sie besonders bevorzugte, da es für den Magen so gut sei.
»Bist du noch immer so für deine Gesundheit besorgt?« fragte ich, als ich sie mit großem Eifer in einen rotbackigen Frühapfel einbeißen sah.
»Natürlich!« nickte sie, »Das muß man doch auch. Ich glaube, es gibt keinen, der das Leben so lieb hat wie ich.«
»Also, was die Kartenlegerin mal prophezeit hat, das ist glücklich vergessen?« forschte ich, ein wenig lauernd.
»Warum erinnern Sie mich daran!« schmollte sie und hielt sich einen Augenblick die Ohren zu, um dann an ihrem Apfel weiterzuschmatzen. »Ich hab' ja noch etwas Zeit bis dahin. Ich will mein Leben noch genießen, so lang es geht.«
Ich ließ meine Augen wieder beobachtend auf ihr ruhen.
»Ich finde, du hast etwas Reifes, etwas Nachdenkliches bekommen, in den Monaten, da das Fräulein auswärts war, wer weiß wo?«
Sie nickte versonnen vor sich hin, während wieder ein kleiner Seufzer ihren Busen hob.
»Das kommt mal so. Vielleicht hab' ich doch vorher aus Erfahrung gesprochen. Vielleicht hab' ich auch mal mein Herz entdeckt und jetzt sitz' ich da.«
»Also erzähle!« gebot ich mit einer Miene ruhiger Heiterkeit, unter der sich tief innen etwas zusammenkrampfte.
Sie sah mich unsicher an, schien noch zu schwanken.
»Ich weiß nicht, soll ich, soll ich nicht? Aber Sie sind doch mein Freund. Sie verstehen mich so gut wie keiner. Ihnen kann ich's ja sagen. Ja, ich hab' mich verliebt gehabt.«
»Bist es noch!« stieß ich heraus, faßte mich aber sogleich und lächelte wieder. »Sprich nur weiter. Also verliebt gewesen?«
»Nicht mehr. Das ist vorbei. Deshalb bin ich auch nicht zu Ihnen gekommen. Die Liebe ist doch etwas Verrücktes, nicht?«
»Weißt du's jetzt auch? Hast du's mal am eigenen Leibe erfahren? Und das alles für Herrn Adalbert Hempel!«
»Ach der! Der Mädchenjäger ... Nein! Ein ganz andrer. Ich hab' ihn damals auf dem Schützenhausball zuerst getroffen. Sie kennen doch den Rittergutsbesitzer von Bninsky, nicht?«
Der edle Pole mit dem gewichsten Schnurrbart und den Augen voll unbeschreiblicher Melancholie! Allerdings! Den kannte ich. Flüchtig vom Sehen. Hatte ein paarmal in größerer Gesellschaft mit ihm gesprochen. Ein weicher, müder, pomadisierter Adonis, wie aus dem Modekupfer geschnitten, mit langen, schwarzen, seidenen Wimpern und aalglatten Bewegungen. Also der war es! Der hatte ihre Phantasie entzündet, ihr Blut erhitzt. Um eines solchen Nebenbuhlers willen hatte ich monatelang im Krampf gelebt. War es nicht zum Lachen? Und während noch einmal, gleichsam in abgekürzten Schriftzeichen, die Geschichte meines Leidens und meiner Qual an meiner Seele vorüberzog, lauschten meine Ohren dem Bericht des blonden Hexchens an meiner Seite, und meine Miene lächelte unbefangen dazu. Ein Hexchen, das in aller Harmlosigkeit und Kindlichkeit seinem Opfer erzählte, wie es selbst wiederum das Opfer eines Hexenmeisters geworden. Tolle Bocksprünge, die das Leben macht! Und wir sitzen dabei, sehen belustigt zu und merken kaum, daß es unsere eigenen zuckenden Gliedmaßen sind, an denen der Spaß sich abspielt.
So also war es geschehen. Stephan von Bninsky war der Glückliche, dem ihr flatterhaftes Herz zugeflogen war. Sie wußte selbst nicht, wie es gekommen, wie alles so schnell sich hatte begeben können. Ganz von Sinnen war man gewesen! Als hätte man einen Trank genommen! Oder sonst ein Zauber wäre im Spiel! Vielleicht war es der forsche Schnurrbart, der sie zuerst gereizt hatte. Oder die Augen, die so in die Ferne gingen, als suchten sie irgendein verlorenes Glück und könnten es nicht wiederfinden. Vielleicht auch die prallen Reithosen mit den gelben Stulpstiefeln. Oder die weiche Stimme, die so betörend schmeichelte, so inständig zu bitten wußte: »Komm' den Sommer mit, nach Sochaczewo, aufs Gut!« Diese bittende, schmelzende Stimme! Und die Augen mit der ganzen Melancholie des Polenlandes! Überhaupt das feurige, ritterliche Polenblut, von dem ja auch etwas in ihren Adern rollte, mütterlicherseits bekanntlich, von jenem berühmten polnischen Obersten her, dessen Name ihr leider entfallen war.
Ach, ein schöner, kurzer, unvergeßlicher Traum, dieser Sommer da draußen auf dem Gut, immer zu Wagen oder zu Pferde oder im Park bei den Rosenbeeten!
Und jetzt war es vorbei. Schluß mit dem Rausch! Ein Ende des Traums! Man mußte in die Wirklichkeit zurück, sie wieder ins Engagement, da die Wintersaison beginnen sollte, er in irgendeine reiche Verstandesheirat hinein, denn die Bninskys hatten Schulden wie Heu, ja noch mehr als Heu, und Sochaczewo war bis unter die Dachbalken hinauf mit Hypotheken gespickt.
»Und wann feiert ihr Abschied?« fragte ich, als die Beichte mit einem Aufatmen, halb der Erleichterung, halb der Resignation absolviert war. »Es muß doch Abschied gefeiert werden?«
»Den haben wir hinter uns. Draußen auf dem Gut. Was denken Sie denn? Wir werden uns doch nicht hier in der Stadt zusammen zeigen, wo jeder uns kennt.«
Ich mußte aus irgendeinem Gedanken heraus wieder unwillkürlich lächeln und wiegte den Kopf.
»Und wenn nun die Braut von der Geschichte erfährt?«
»Das wird sie schon nicht. Dafür ist gesorgt. Ich bin ja zum Schein in der Nachbarschaft, nicht auf dem Gut selbst, zu Besuch gewesen. Und wenn ... dann macht es nichts. Was vor der Hochzeit geschehen ist, dafür bekommt er Verzeihung.«
»Und was nachher geschieht?« fragte ich, indem ich sie scharf aufs Korn nahm.
»Ausgeschlossen!« versicherte sie hastig, dabei ganz leicht errötend, und wandte, wie um es zu verdecken, den Kopf zur Seite. »Ausgeschlossen! Wir haben uns geschworen, uns nie wiederzusehen. Sowas hält man doch. Vorgestern war die Hochzeit draußen in Sochaczewo im Schloß. Sie können mir glauben, es ist alles aus. Ich bin ganz frei.«
Sie hatte mir wieder ihr Gesicht zugekehrt, jetzt mit einem Ausdruck so glaubwürdiger Ehrlichkeit und überzeugender Unbefangenheit, daß alle mein Herz bedrängenden Zweifel und Bedenken wie das Eis in der Märzensonne dahinzuschmelzen begannen.
»Jetzt bin ich also wieder da und zu Ihrer Verfügung,« begann sie nach einem Augenblick von neuem, in einem Ton, der zwischen reumütiger Unterwerfung und sieghafter Erhebung seltsam in der Mitte klang. »Aber ich weiß ja gar nicht, ob Sie mich wiederhaben wollen?«
Ich zuckte mit den Achseln und lachte aus dunkler Bitternis auf.
»Ob ich dich wiederhaben will?!«
Sie schien ein Weilchen nachzudenken, betroffen wohl von dem Ton meines Ausrufs. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte:
»Ja, es scheint wirklich, als wenn wir nicht auseinanderkommen sollen. Es gibt ja schließlich schönere Männer, als Sie sind. Das müssen Sie zugeben. Und doch muß ich immer wieder zu Ihnen zurück! Wie mag das zusammenhängen?«
»Frage die Götter, mein Schatz. Vielleicht ist irgendein Gesetz über uns, das uns zwingt.«
Sie schien sehr ernsthaft vor sich hinzusinnen. Plötzlich zuckte es in ihrem Gesichte auf. Ein kurzes, furchtsames Erinnern spähte aus dem Blick, mit dem sie mich überflog.
»Sie werden doch nicht mein Schicksal werden?«
»Oder du meines!« gab ich zurück. »Es muß etwas Wahlverwandtes zwischen uns sein.«
»Ja, manchmal glaub' ich das auch,« nickte sie und hatte den Kopf zwischen den Händen. »Aber wär's dann nicht besser, wir wären tausend Meilen weit auseinander, hätten uns nie gesehen, nie gekannt?«
Ich antwortete nichts, saß verschlossen wie die Zukunft da.
Sie sah mich noch einmal mit großen angstvollen Augen von oben bis unten an, als gelte es, den Schleier um mich zu durchdringen.
»Wer weiß, ob die Karten nicht recht behalten!«
Ich erhob meinen Kopf und begegnete ihren Augen, die mich zu erforschen, zu durchspähen schienen. Ich lächelte mit dem Gefühl, daß es ein sonderbares Lächeln sein müsse. Eine geheimnisvoll bekannte Stimme flüsterte mir etwas über die Schulter ins Ohr. Das mußte ich weitergeben.
»Sage mir, wozu ein Federball da ist, mein Engelsgesicht?«
»Ein Federball? Zum Spielen! Wozu denn sonst? ... Was sind das für komische Fragen?«
»Ja, nicht wahr? Zum Spielen und zum Fliegen von Hand zu Hand. Bis einmal einer so närrisch ist, ihn für sich zu behalten, ihn nicht herausgeben zu wollen. Ihn lieber im Bogen über den Gartenzaun zu werfen, mitten ins Dickicht hinein, wo ihn niemand mehr findet.«
Sie schüttelte den Kopf, noch immer, wie es schien, in das Studium meiner Miene, meines Lächelns, meines ganzen Gesichts, all meines Drum und Dran vertieft.
»Sie sind ein merkwürdiger Mensch. Wer Ihnen auf den Grund sehen könnte! Wenn man Sie so länger vor Augen hat, begreift man eigentlich gar nicht, daß Sie einem mal häßlich vorgekommen sind. Ich finde im Gegenteil, Sie haben etwas sehr Interessantes im Gesicht, wenn Sie auch nur klein von Figur sind. Ich glaube wirklich, an Ihnen ist ein Genie verloren gegangen.«
»Warum verloren gegangen?« rief ich mit Galgenhumor. »Vielleicht zeig' ich der Welt noch, was ich für Künste kann! Man muß sich Zeit lassen auf diesem Planeten. Warte nur meine große Stunde ab, du ungeduldiges Menschenkind! Du mein zehnmal verlorenes und zum elften mal wiedergefundenes Kleinod du, wer weiß auf wie lange!«
»Ach, dummes Zeug!« sagte sie und lachte.
Ich hatte den Arm um sie geschlungen und zog sie mit einer ungestümen Bewegung an mich. Sie hatte die Augen geschlossen und bot mir willig und schmiegsam wie in unserer Blütezeit ihre schmachtenden, roten Lippen dar, zwischen denen ich den Saum ihres Zahnschmelzes wie eine schmale weiße Perlenschnur hindurchschimmern sah.
»War das der Versöhnungskuß?« fragte sie nach einem Weilchen.
»Bis auf weiteres ja, meine holde Kalypso!«
»Kalypso? Wer war das?« forschte sie und neigte den Kopf mit drolliger Neugier auf die Seite.
»Irgendeine junge, schönbusige Dame, die sehr wenig bekleidet war und einem gewissen reiferen Herrn Odysseus so um den Bart zu gehen wußte, daß er alles glaubte und alles vergaß.«
»Also beinahe so wie Sie und ich,« lachte sie. »Aber nein, wir wollen ernsthaft sein. Wissen Sie auch, daß meine Stimme sehr schön geworden ist? Zur Belohnung, weil Sie so lieb zu mir sind, sollen Sie auch etwas zu hören bekommen, wenn Sie wollen.«
»Ja, singe, mein Engel! Setz' dich da drüben ans Spinett. Es hat lange keiner daran gesessen und gesungen. Ich glaube, die letzte war meine Mutter vor weit über dreißig Jahren.«
Sie warf einen scheuen Blick hinüber ins offene Wohnzimmer, nach dem alten, verstaubten Instrument, und dann wieder zurück zu mir.
»Ihre Mutter hat daran gesessen?«
»So sagt man, mein Schatz. Gesehen hab' ich sie nie, die gute Frau. Aber ich hoffe, sie wird nichts dagegen haben in ihren himmlischen Höhen, wenn meine kleine, irdische, sündhafte Schönheit daran spielt und singt. Ich sitze hier auf dem Sofa und denk' mir mein Teil dazu.«
»Aber wird's denn auch noch gehen, solange wie das nicht mehr benützt ist?« meinte sie noch immer unsicher und zaghaft. »Wird's nicht verstimmt sein?«
»Das macht nichts!« erwiderte ich, seltsam bewegt und entrückt. »Darüber hören wir hinweg. Also, Wolfram von Eschenbach! Beginne!«
Sie sah mich aufrichtig dankbar und ergeben an, trat auf mich zu, legte die schlanken Arme um meinen Hals und küßte mich weich auf die Stirn. Ich hatte meinen Kopf gegen die Sofalehne zurückgelegt und die Augen geschlossen, und mir war, als sei meine Mutter aus der Dämmerung der Zeiten zu mir getreten, um mit Geisterhauch ihren Sohn zu grüßen, und sie und Karola, Geliebte und Mutter, Dirne und Frau, seien ein und dasselbe Weib.
Karola war leise wieder zurückgetreten. Meine Augen öffneten sich wie aus einem holden Traum. Ich sah, wie Karola wiegenden Schritts auf den Zehenspitzen, als sei jemand da, der nicht geweckt, nicht gestört werden dürfe, sich über die Schwelle des Wohnzimmers stahl, mit erhobenen Händen, wie ein Kind zum Weihnachtstisch, zwischen den lichten Kirschbaummöbeln zu dem alten Instrument hintastete und zögernd, behutsam den Deckel aufklappte. Ein Augenblick des Schweigens, der Erwartung. Die ersten Töne des Spinetts, noch vorsichtig, fast ängstlich angeschlagen, zitterten zu mir herüber. Ein helles, flaches, stumpfes Klingen, wie von Tasten, die über ein Menschenalter unberührt geblieben, ein Mitvibrieren vorzeiten schadhaft gewordener Saiten, zuweilen ein ausgebliebener Ton, eine seltsam verblichene und verklungene Musik, gleich alten, von der Sonne vieler Sommer verschossenen Brokatvorhängen, über die Auge und Hand mit geheimer Rührung hingleiten. Denn Hände, die längst zu Staub zerfallen, schmale, zärtliche, spielerische Frauenhände haben liebkosend über das Blumenmuster darin gestrichen, und zierliche Mädchenohren, voll verschollener Liebesworte und Schmeichelei, haben sehnsuchtsschwer den herüberzitternden Silbertönen gelauscht, genau wie wir es tun, als sei das Heute ein Einst und das Einst unser Heute.
Und Karola begann zu singen, einen Moment lang noch befangen, dann mit jedem Atemzug freier, beschwingter, der irdischen Schwere immer mehr enthoben:
»Liebe Schwestern, zur Liebe geboren,
Nützt der Jugend schön blühende Zeit!
Hängt ihr 's Köpfchen, in Sehnsucht verloren,
Amor ist euch zu helfen bereit.
Welch ein Vergnügen erwartet euch da.«
Gleich Perlen aus dem Champagnerglase stiegen die lieblich feurigen Töne der Don-Juan-Musik von ihren Lippen auf:
»Lasset uns fröhlich das Leben genießen!
Lasset uns lieben und scherzen und küssen!
Welch ein Vergnügen erwartet uns da!
Tralalalalalala!«
Göttlich leicht, wie Lerchenlieder am heitersten Maientag, schwangen sich die süßen Triller dahin, ein müheloses, seliges Schweben, Gaukeln, Gleiten, hoch über Kampf und Erdenqual. Die Töne des Spinetts, eben noch fern, dünn und bleich, begannen sich zu runden, wurden warm und weich, gewannen Blut und Leben im Wettstreit zwischen dem Silberklang der metallenen Saiten und dem Glockengold, das aus beseelter Kehle drang. Wie durch einen Zauberstab herbeigerufen, stand ein fremdes, schöneres Zeitalter, eine leichtere, glücklichere Welt vor meinen bewegten Sinnen.
Und siehe da! War das noch Karola, die sich jetzt vom Spinett erhob? War das nicht Zerlinchen selbst, wie sie zwischen den Kirschbaumstühlen sich in den Hüften wiegte, im zierlichen Menuettschritt über die Schwelle trat und lächelnd, tänzelnd, trällernd näher kam?
»Schmäle, tobe, lieber Junge! Sieh!
Zerline will mit Freuden
Wie ein stummes Lämmchen leiden,
Nur verzeihen sollst du ihr!
Nur nicht maulen! Nur nicht grollen!
Nur nicht grämeln! Nur nicht schmollen!
Alles sonst sei recht getan!
Her dein Händchen! Her dein Händchen!
Her zu mir!«
Und sie faßte meine Hand, Zerline, die Übermütige, die himmlisch Leichte, die wie Sternenlicht Beschwingte, und beugte sich lachend über mich und wiederholte noch einmal den Refrain:
»Schmäle, tobe, lieber Junge! Sieh!
Zerline will mit Freuden
Wie ein stummes Lämmchen leiden,
Nur verzeihen sollst du ihr!«
Entzückt, hingerissen breitete ich meine Arme nach dem bezaubernden Menschenbild aus. Mit dem weichen, sinnlichen, aufpeitschenden Lächeln, das mich schwindeln machte, sank sie mir an die Brust.
»Hab' ich gut gesungen, mein einziger Freund?«
»Herrlich! Göttlich! ... Mädchen! Weib! Was hast du mit deiner Stimme gemacht?«
»Vielleicht war es die dumme Liebe, die das gemacht hat,« flüsterte sie mit einem verlorenen Seufzen.
»Die Liebe!« nickte ich. »Ja! Die Liebe ist stark wie der Tod. Vielleicht sind sie Geschwister.«
»Bitte, bitte, nichts vom Tod!« machte sie mit gefalteten Händen. »Ich will doch erst leben. Jetzt fängt ja mein Leben erst an.«
»Ja, jetzt wird es lebensgefährlich!« murmelte ich vor mich hin und überließ mich mit geschlossenen Augen, wie einer, der untertaucht, den weichen Armen, die mich umfingen.