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17

Ich weiß nicht, wie lange ich so in mich selbst verbissen und verkrampft gesessen und gebrütet hatte. Plötzlich fühlte ich, wie sich eine Hand auf meine rechte Schulter legte. Es war nur ein ganz leichter, flüchtiger Druck, und doch hatte ich die bestimmte Empfindung, als habe mich eine zwingende, unausweichliche Gewalt berührt.

Ich sah überrascht auf, halb in der Meinung, es sei Schwarzwald, der ja neben mir gesessen hatte, aber ohne recht zu begreifen, woher die seltsame Kraft in seine abgezehrten Hände komme.

»Die beiden Herren haben sich empfohlen,« sagte ein wenig hinter mir eine fremde Stimme, die mir doch irgendwo und irgendwann schon einmal geklungen haben mußte.

Ich versuchte, mich nach meinem neuen Nachbarn umzusehen, aber es gelang mir nur unvollständig, da er, so weit ich den Kopf auch wandte, immer ein Stückchen hinter meiner Augenlinie zurückblieb und mir so – war es Zufall? war es Absicht? – seinen vollen Anblick entzog.

Also ein Unbekannter! dachte ich mir. Aber wer mochte es sein? Was ich sah, gab mir den Eindruck eines wohlgepflegten Herrn unbestimmten Alters, von mittelgroßer, fast zierlicher Figur, mit welligem, grauem Haar, von dem sich nicht entscheiden ließ, ob es nur gepudert oder von Natur so sei, und das nach rückwärts wie in einen Zopf auszugehen schien. Auch das Kostüm – übrigens würdig und ansehnlich – ließ sich in Schnitt und Besatz recht altfränkisch an, mochte das nun verjährter Gewohnheit oder der Maskerade des heutigen Fastnachtsabends zuzuschreiben sein. Vom Gesicht, wie gesagt, vermochte ich, trotz wiederholten Wendens, immer nur einzelne Züge aufzufangen, die mir, ebenso wie die Stimme vorher, bis zu einem gewissen Grade bekannt vorkamen, ohne mir doch im ganzen ein irgendwie faßbares Bild zu geben.

»Sie wünschen zu wissen, wen Sie neben sich haben?« klang wieder die fremde Stimme seitlich hinter mir, und es war, als liege ein verschleiertes Lächeln über den Worten.

»Wie kommen Sie darauf?« fragte ich mechanisch und eigentlich gegen meine Absicht, da mir in der Tat jene Frage auf der Zunge geschwebt hatte.

»Das ist nicht so schwer zu erraten,« erwiderte der Fremde. »Es gibt härtere Nüsse zu knacken. Wie lange geben Sie zum Beispiel Ihrem Freunde Schwarzwald noch Zeit zu leben?«

Ich zuckte mit den Achseln. Irgend etwas in mir bäumte sich gegen den unerbetenen Nachbarn auf. Was wollte der sonderbare Mensch von mir? Und woran, zum Teufel! erinnerte mich doch die Stimme, diese gedämpfte, etwas singende Stimme?

»Ihr Freund Schwarzwald ist Todeskandidat,« sagte der Fremde mit ruhiger Bestimmtheit.

»Das ist auch keine besondere Weisheit,« antwortete ich gereizt und in der Absicht, dem andern jetzt ordentlich heimzuleuchten. »Man braucht ihn ja nur anzusehen. Und übrigens sind wir ja alle Todeskandidaten, mehr oder weniger.«

»In diesem Falle mehr!« kam die Stimme zurück. »Von Ihnen dreien, die Sie hier saßen, wird keiner alt werden.«

»Woher wollen Sie das wissen?« stieß ich mehr geärgert als erschrocken heraus. »Tun Sie nur nicht so großspurig!«

»Ich sehe das Zeichen, das über Ihnen gemacht ist,« erwiderte die Stimme. »Aber beruhigen Sie sich! Sie kommen zuletzt an die Reihe. Sie sind aufgespart.«

»Sehr freundlich!« gab ich zurück ... »Und Sie? Wann kommen Sie an die Reihe?«

Ich hatte all meinen Spott über die Frage gegossen, doch der Fremde schien sich nicht beirren zu lassen.

»Ich bin jenseits der Reihe,« antwortete er in seiner ruhigen, gemessenen Art, durch die es immer wie eine ganz leise Ironie klang.

»Was heißt das?« fragte ich und hatte wieder das Gefühl eines leichten Unbehagens, das mir fröstelnd durch die Glieder zog.

»Ich bin jenseits der Reihe,« wiederholte der andere, »und außer der Zeit. Sie werden das später einmal verstehen.«

Wir schwiegen beide. Ich hoffte, die Unterhaltung damit abzubrechen, aber als ich nach einem Weilchen über die Schulter zurücksah, saß der andere unbewegt und gleichmütig mit halb zur Seite gewandtem Kopf da und schien die Spitzen seiner Schnallenschuhe zu betrachten.

Mein Gaumen war wie verbrannt. Ich griff nach dem Champagnerglase und ließ es über meine pelzige Zunge rieseln. Ha, das tat wohl! Wie die Bläschen prickelnd hinunterrannen! Das gab neues Leben, neuen Schwung! Ich fühlte es fast wie Übermut in mir aufsteigen und empfand es als eine Art von Spaß, das Gespräch mit meinem sonderbaren Nachbarn oder Hintermann wieder aufzunehmen.

»Woher haben Sie uns drei Todeskandidaten denn hier sitzen sehen?« fragte ich, indem ich mich der ironischen Tonfärbung des anderen anzubequemen suchte. »Meines Wissens ist hier niemand wie Sie oder Ihnen ähnlich in der Nähe gewesen. Sie haben uns wohl durchs Fernrohr beobachtet? Oder gar durch ein eichenes Brett geguckt, Sie Tausendkünstler?«

Ich hätte etwas darum gegeben, den anderen aus seiner impertinenten, geradezu beleidigenden Ruhe zu bringen, aber es schien alles glatt wie durch Luft durch ihn durchzugehen, und keine Spur von Erregung zeigte sich.

»Ich stand unten an der Saaltür hinter der Italienerin, die Ihnen bekannt ist,« sagte er wie beiläufig und stützte – ich gewahrte es bei einer unwillkürlichen Bewegung nach rechts – den leicht abgewandten Kopf auf den goldenen Knauf seines fremdartigen Bambusstockes. »Von dort konnte ich Sie alle drei übersehen und Ihre Bewegungen und Mienen verfolgen. Sie hätten mich vielleicht auch bemerkt, wenn Sie nicht alle Ihre Gedanken bei Ihrem Rivalen gehabt hätten.«

Ich zuckte wie unter einem galvanischen Schlage zusammen. Ja, das war es! Das hatte mir während der letzten Stunde wie ein Pfahl im Fleische gesteckt. Ich hatte den dumpfen, bohrenden Schmerz gefühlt, ohne seinem Sitz auf die Spur zu kommen, hatte gewußt, daß etwas unsagbar Wehes und Wundes in mir stöhnte und schrie, etwas, dem ich hilflos ausgeliefert war, das mich marterte, würgte, mich vielleicht verrückt machen würde, und das ich doch nicht in Gedanken, Worte fassen konnte! Wie? Wann? Woher? Warum? Ich hatte wie im Traum danach gegriffen und es doch nicht zu packen bekommen, immer von neuem ins Leere gestoßen, hatte nach Sprache, Ausdruck, nach Sinn und Verstand für das Unfaßbare, Unausdenkbare in mir gerungen und war wieder und wieder in den Starrkrampf zurückgeglitten, der meine Glieder gelähmt hielt, bis ... Ja nun, bis der Fremde hier neben mir gekommen war und mich geweckt, mir mein Bewußtsein zurückgegeben hatte. Dieser aufdringliche, tückische, verfluchte Mensch an meiner Seite, der wie durch ein Glasfenster in mich hineinguckte und mir alle die schönen Sachen da innen, die Schwären, Wunden, Eiterbeulen hübsch wie am Schnürchen aufzählte! Der mich wieder sehend, wissend gemacht und so meine Qual verdoppelt, verdreifacht hatte, denn jetzt erst, da ich Augen und Sinne zurück hatte, empfand ich so ganz, welch eine Wohltat es doch in aller Qual gewesen, nichts zu sehen, nichts zu wissen, nur dumpf zu ahnen, nur dunkel zu träumen.

»Sie ... Sie ... Kobold! Sie ... Sie ... Gespenst!« wollte ich in meiner Wut ausrufen und mit einer jähen Wendung meinem Nachbarn an die Gurgel fahren. Aber der schien meine Bewegung vorausgesehen zu haben. Wieder fühlte ich den federleichten, fast körperlosen und doch gleichsam unentrinnbaren Druck seiner Hand auf der meinen.

»Bewahren Sie Haltung!« klang es hinter mir, und die Stimme hatte jetzt etwas Kaltes, Schneidendes. »Fremde Leute für die eigenen Fehler und Irrtümer verantwortlich zu machen, statt sich selbst an die Kandare zu nehmen, das ist so recht nach der Art von Ihresgleichen. Lernen Sie Selbstbeherrschung und Konsequenz. Und suchen Sie Ihre Feinde da, wo sie wirklich sind, und nicht, wo sie Ihnen Ihre Phantasie vorspiegelt. Sie sind noch weit entfernt von der Götterhöhe, auf die Sie vorhin Ihre Einbildung versetzte. Sie tragen ein ebenso schwaches, hilfloses, zuckendes Menschenherz in der Brust, wie die da unten im Saal. Merken Sie das jetzt?«

Ich hatte die Hände gegen meine Schläfen gepreßt, wie um die fürchterlichen Worte des andern abzuwehren, aber gegen ihren durchdringenden Flüsterton schien es keine Rettung zu geben. Gleich glühendem Erz tropften sie in mich hinein.

»Was wollen Sie von mir?« rief ich mit halberstickter Stimme. »Woher wissen Sie das alles von mir? Wer sollen die Feinde sein, die mir meine Einbildung vorspiegelt und die nicht wirklich sind? Und wer sind dann meine wirklichen Feinde?«

»Beugen Sie sich etwas vor und blicken Sie über die Brüstung in den Tanzsaal hinunter!« befahl der Fremde an meiner Seite, und ich gehorchte.

Die Wolke von Staub, Schweiß, Tabaksqualm, die ich vorher aus der Tiefe hatte aufsteigen sehen, war verschwunden, obgleich die Fastnachtslust unten jetzt aufs höchste gestiegen war und das Gewühl geschwungener und fortgerissener Leiber beim rasenden Kreischen der Trompeten und furchtbaren Donnern der Posaunen mich fast an die Bilder vom Jüngsten Gericht erinnerte.

Mir war plötzlich, als würde mir von unsichtbaren Händen die Brust bedächtig, aber unaufhaltsam mit Stricken zugeschnürt. Ich sah den Augenblick, wo mir der Atem vergehen würde, und rang in jäh aufsteigender Todesangst nach Luft, während ich unwillkürlich wie hilfesuchend die Augen zur Decke richtete. Ein dünnes graublaues Wölkchen schwebte dort oben, um bald ins Wesenlose zu verrinnen.

»Wir sind hier auf dem Grunde des Meeres,« sagte die Stimme neben mir, und es war auffallend, daß ich trotz des wütenden Tobens der Blasinstrumente und ungeachtet des Schreiens und Stampfens kopfüber zurückgeworfener Menschenleiber jedes Wort des Unbekannten deutlich wie das Ticken einer ans Ohr gehaltenen Uhr vernahm. »Wir sind hier auf dem Grunde des Meeres. Über uns wölbt sich eine Art von Käseglocke, die uns alle zusammen einsperrt. Haben Sie schon einmal unter einer Käseglocke gesessen?«

Ich schüttelte den Kopf, immer noch nach Atem ringend.

»Ich habe es getan,« fuhr die Stimme fort, »tue es noch jetzt und weiß, wie es darunter aussieht. Kampf aller gegen alle! So lautet die Parole unter der Käseglocke. Keiner wiegt mehr als der andere auf dem Grunde des Meeres, nachdem das spezifische Gewicht von uns genommen ist. Eine Etage höher oder tiefer, das gilt gleich unter der Käseglocke. Was von all dem übrig bleibt, steigt als Bläschen zur Decke und entweicht ins Freie.«

Die Stimme schwieg einen Atemzug lang, während ich ringend, stöhnend mit dem Kopf über der Logenbrüstung lag und mein Herz wie einen Dampfhammer arbeiten fühlte.

»Bemerken Sie das tanzende Paar dort unten?« begann die Stimme von neuem, voll ruhiger Sachlichkeit ihr fürchterliches Folterwerk fortsetzend. »Es ist die Ihnen wohlbekannte Italienerin, die im Arm Ihres Rivalen wie ein Federball durch den Saal fliegt.«

»Ja, sie sind es! Sie sind es! Hab' ich euch endlich?« stöhnte ich wie von Sinnen und hatte die Empfindung, als müsse ich mit beiden Füßen zugleich in den Saal und in einem Satz dem tanzenden Paar, vor allem aber ihm, meinem Todfeinde, der mir mein Kleinod stahl, an den Hals springen.

»Nicht so stürmisch, mein Bester!« hörte ich den Fremden neben mir, in seiner ironischen, leise singenden Sprechweise, und fühlte wieder wie einen Hauch das elastische Weben seiner Hände, das mich hilflos unter seinen Willen zwang. »Sie sind kein Federball, wie Ihre blonde Italienerin, die ohne weiteres aus einer Hand in die andere fliegt. Sie haben die Schwerkraft noch nicht überwunden. Wie leicht könnte der Sprung Ihnen Schaden tun! Sie würden damit nur die Geschäfte Ihres Rivalen besorgen. Und glauben Sie, daß Ihre Geliebte sich deshalb die Augen aus dem Kopfe weinen würde? ... Nun also! Nehmen Sie den Fall, wie er ist. Antworten Sie mir ruhig und klar. Ich werde einige Fragen an Sie stellen.«

Ich nickte halb abwesend, während meine Augen jede Bewegung des im Mazurkatakte hin und her gewiegten Paares absteckten, umzirkten, festnagelten.

»Sie haben es an sich, daß Sie den Leuten an die Gurgel springen wollen,« begann mein Inquisitor das Verhör. »Erst vorhin mir! Schütteln Sie nicht den Kopf. Ich weiß es. Und soeben wieder, wie schon mehrmals im Laufe des Abends, Ihrem Rivalen da unten.«

Ich nickte wiederholt und wollte hastig etwas heraussprudeln. Aber der unerbetene Frager hinter mir ließ mich nicht zu Worte kommen.

»Warum tun Sie es dann immer nur in der Phantasie? Warum nicht in Wirklichkeit? Erlauben Sie, daß ich Sie in aller Freundschaft einen Feigling und Schwachkopf nenne, der nicht ernst zu machen versteht.«

Ich ballte in ohnmächtiger Wut die Fäuste. Hatte er nicht recht? War es nicht, wie er sagte? Warum redete und dachte ich immer nur? Warum handelte ich nicht?

»Aber posito,« fuhr der Fremde fort, »posito, Sie brächten es wirklich einmal von Vorsätzen und Absichten zur Tat ... weshalb haben Sie es dann gerade auf den ziemlich windigen Herrn da unten abgesehen?«

»Weil er mein Todfeind ist!« schrie ich mit erstickter Stimme. »Mein Todfeind, ja! Von Urbeginn an! Der mir mein Liebstes, mein Letztes wegnimmt! Das Einzige, was mir das Leben noch lebenswert macht!«

»Sie sind ein Kind,« lächelte der Unbekannte an meiner Seite. »Der oder ein anderer! Als ob es erst seiner Existenz bedürfte, um einen Federball zum Fliegen zu bringen. Als ob Federbälle nicht fliegen müßten, um ihren Beruf zu erfüllen. Dagegen gibt es nur ein Mittel auf der Welt.«

Er schwieg. Ich fühlte seine Blicke erwartend, herausfordernd auf mir ruhen, ohne daß ich sie sehen konnte. Mein ganzer Trotz lehnte sich dagegen auf, mir die gewollte Frage von ihm abzwingen zu lassen. Aber so sehr ich mich wehrte, ich konnte nicht anders. Ich mußte die Frage stellen.

»Welches ist das Mittel?« würgte ich wie im Traum heraus. »Sagen Sie es mir! Und quälen Sie mich nicht!«

»Gegen solche Federbälle, die einem das Herz aus dem Leibe stehlen und mit ihm davonfliegen wollen, gibt es nur ein Remedium, das wirkt.«

Wieder schwieg die Stimme. Eine Pause von höchster, letzter, atemraubender Spannung entstand, während die Musik, wie von einem Zauberstabe berührt, mitten im Takte innehielt. Ich sah die Bläser ihre Instrumente an den Mund gesetzt halten, den Kapellmeister mit hoch in der Luft geschwungenem Arm festgewurzelt dastehen und das Gewoge der tanzenden Paare zu einem Trümmerfelde von umgebogenen und durcheinandergewehten Säulen erstarren.

Und die Stimme in ihrem gleichmäßigen, unentrinnlichen Tonfall fuhr fort:

»Man muß ihnen das Licht, rekte die Luft, ausblasen. Man muß ihnen nicht Zeit lassen, Macht über uns zu gewinnen.«

Der Kapellmeister sauste mit beiden Armen auf das entzauberte Bläserkorps hinab. Die Trompeten kreischten auf. Hörner und Posaunen pusteten, grunzten, heulten, orgelten hinein. Die Bildsäulen im Saal flogen, wie vom Wirbelsturm erfaßt durcheinander. In mir selbst aber war es, als stürze ein mit Gewalt aufgestauter Katarakt donnernd aus der Höhe hinunter zu Tale. Einen Augenblick glaubte ich vor dem furchtbaren Getöse in und außer mir keinen Ton zu hören. Aber ebenso schnell wurde es wieder stiller, und ich konnte die Notenreihen, nach denen die Musik in meinem Innern spielte, wieder deutlicher unterscheiden.

Ja, das war es! Das hatte ich vorausgewußt! Diese Antwort des fremden Mannes mir zur Seite hatte ich kommen sehen. Seltsam das! Fing ich nicht an, ihn ebenso zu durchschauen, wie er mich? Woher dann also diese ironische Überlegenheit? Das höhnische Herunterblicken auf mich? Nein, ich wollte die unerbetene Bevormundung abschütteln. Wollte dem vorlauten, unerträglichen Burschen hinter mir gründlich in die Parade fahren.

»Ist das alles, was Sie können?« rief ich über die Schulter zurück. »Mord? Vernichtung? Mehr wissen Sie nicht? Das ist der ganze Fund, den Sie gemacht haben? Dann lassen Sie sich begraben mit Ihrer Weisheit!«

»Ich warte seit hundert Jahren darauf,« antwortete die Stimme, die auf einmal wie die eines ganz alten Mannes klang. »Ich würde Ihren Rat gerne befolgen, aber dazu ist es nötig, daß Sie erst den meinen befolgen. Ich habe mein Schicksal an das Ihre geknüpft. Wir beide sind fortan unzertrennlich.«

»Was wollen Sie damit sagen?« schrie ich entsetzt und fühlte mich von neuem dem körperlosen und dennoch eisernen Gebot des Fremden unterworfen.

»Reißen Sie sich den Federball aus dem Herzen!« klang seine Stimme mir ins Ohr.

»Ich kann nicht! Ich kann nicht! Ich kann nicht!« ächzte ich verzweifelt. »Mein Alles hängt davon ab, daß ich ihn habe! Jugend! Glück! Leben! Und wenn er noch durch hundert Hände geht, ich kann nicht von ihm lassen! Ich muß ihn wieder haben!«

»Dann bleibt nichts anderes übrig, als ihn einmal so weit hinauszuschleudern, daß kein Arm ihn wieder zurückholt. Sie haben die Wahl: Entweder das Bild in Ihrem Herzen oder der Gegenstand selbst! Vernichtung so oder so. Seien Sie bereit, sich schlüssig zu machen. Wir sehen uns noch zweimal wieder. Dann gilt es dem Federball. Danach ein drittes und letztes Mal. Das gilt uns beiden. Leben Sie einstweilen, so gut Sie können!«

»Halt!« rief ich mit einem gurgelnden Laut und griff wie von Sinnen nach rückwärts, um den Fremden festzuhalten. »Nicht von der Stelle, ehe Sie mir nicht gesagt haben, wer Sie sind, Sie Unhold, der sich anmaßt, mir mein Los zu werfen! Äußern Sie sich, oder Sie kommen mir nicht fort!«

»Geben Sie sich keine Mühe!« antwortete die Stimme, nun schon ferner, wie mir schien. »Ich sagte Ihnen ja, ich bin jenseits von Raum und Zeit. Sie halten mich nicht und niemand, der wie Sie selbst von Fleisch und Blut ist. Meine Stunde ist um. Vom Grunde des Meeres ruft man mich.«

Wieder wie zu Anfang unseres Gesprächs klangen die Worte in einer seltsamen, einförmigen Art von Singsang. Welch ein Ton war das doch? Wo hatte ich diese Kadenzen schon einmal gehört?

»Die Stimme! Die Stimme! Woher kenn' ich die Stimme?« ächzte ich aus reifenumschnürter Brust und hatte zugleich in meiner Hand, mit der ich umsonst hinter mich nach dem Fremden gegriffen hatte, das bestimmte Gefühl, als wäre ich über altes, braunes, etwas rauhes Pergamentleder geglitten.

»Ich bin Ihr Freund,« hörte ich es plötzlich wieder dicht neben mir über die Schulter raunen. »Ich singe Sie zur Ruh'. Sie kennen meine Stimme nicht. Sie haben sie niemals gehört und doch sang und klang sie durch Ihre Kinderzeit.«

Die Augenlider fielen mir zu, als sei Mohnsaft darauf geträufelt. Mir war, als läge ich um dreißig Jahre jünger in meinem Kinderbett und Frau Julchen, meine Kinderfrau, beugte sich über mich und erzählte mir ihre alte Geschichte von meinem Urgroßvater, der übers Meer gegangen und niemals wiedergekommen ...


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