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Spätherbst und Winter 59 zu 60, die Monate, die jener ersten Liebesstunde mit Karola folgten, empfinde ich heute, drei schicksalsvolle Jahre später, sozusagen als die Hoch-Zeit meines Lebens. Ich stand zu Ende der Dreißig, also an jener Vorgrenze des Alters, wo es je nach den Umständen sich zu entscheiden pflegt, ob die Farben des Daseins uns bereits für immer verblassen oder noch einmal für die Dauer eines Jahrzehnts in tieferem Glanze aufleuchten sollen.
Wie manchen von meinen Bekannten habe ich um diese kritische Zeit sich selbst aufgeben, die Flügel sinken lassen und denn auch in Kürze alt werden sehen! Auch mir wäre im Alltagsgang der Dinge wohl das gleiche beschieden gewesen. Die Vorsehung oder der Zufall – vielleicht wohnt er im selben Hause wie sie und ist nur ihr ausführendes Werkzeug – haben es anders mit mir im Sinne gehabt, und es mag in diesem Augenblick dahingestellt bleiben, ob ich sie dafür segnen oder ihnen fluchen soll. Das alles heißt ja nun Vergangenheit, und was ich gelebt und gelitten, durchgekostet und verschuldet habe, bleibt unabänderlich und unveräußerlich mein ureigener Besitz, den ich in die Ewigkeit mitnehmen werde. So entscheidet die Frage, ob man rechtzeitig seinen Reisesack packt und den Bahnzug nach K. erreicht, oder ob man in einem Winkel des Intelligenzblattes die Annonce eines Vorstadttheaters entdeckt oder nicht, über den Verlauf von zwei Menschenleben.
Wenn ich auf jene, nun schon fernen, der Erinnerung so nahen Tage um die Wende von 59 zu 60 zurückblicke, so pflege ich sie in dem Bilde eines reißenden Wassers zu sehen, das unter einer dichten Eisdecke tief im Verborgenen dahinzieht. Auf der Oberfläche scheint alles glatt und starr und wie unveränderlich. Aber wenige Zoll darunter gärt es und wirbelt und geht unaufhaltsam seiner Bahn der Erfüllung entgegen. Wie lange noch und das scheinbar so feste und sichere Gefüge ist in Stücke zersprengt und von den Fluten fortgerissen.
Zu der Zeit jedoch, von der jetzt die Rede ist, trug die Eisdecke noch. Fast war es manchmal, als sei überhaupt nichts geschehen und als bereite sich auch nichts vor. Dem ersten stürmischen Sehnen und Begehren, dem wilden Erraffen und Umfangen war ein Gefühl ruhigen Besitzens und Genießens gefolgt.
Ich hatte mir für die Stunden mit Karola ein Logis an der Langen Brücke, unserer Hafenstraße, genommen. Es war ein schmales bescheidenes Häuschen, nur je ein Fenster Front zu ebener Erde und im ersten Stock, über dem sich die ebenfalls einfenstrige Giebelstube zopfig abschließend erhob. Ehedem hatte hier eine ganze Reihe von solchen Häuschen gestanden, alter Stobäusscher Familienbesitz, die den Hintersassen unseres Handelshauses, Kapitänen, Steuerleuten, Buchhaltern als Wohnstätte gedient hatten. Mehrere Generationen dieser kleinen Leute hatten hier ihr unscheinbares, gleichsam unterirdisches und doch im stillen so bedeutsames Maulwurfsdasein hingebracht, waren geräuschlos gekommen und spurlos wieder verschwunden, bis mit dem Erlöschen unserer ehrwürdigen Firma beim frühzeitigen Tode meiner Eltern dieses ganze Pygmäenquartier in fremde Hände übergegangen war und bald darauf größeren Zinshäusern und Speicheranlagen hatte Platz machen müssen.
Nur ein einziges Häuschen, eben das, worin ich nun mein Absteigequartier hatte, war bei dem großen Sterben rings umher am Leben geblieben und nahm sich in seiner jüngeren und anspruchsvolleren Umgebung wunderlich altmodisch und mit seinen weißen koketten Gardinen hinter den sauber geputzten Fenstern fast ein wenig rührend aus, wie ein altes Fräulein, dem man es trotz Puderlöckchen und Großmuttermantille ansieht, daß es einmal hübsch gewesen ist und auch immer noch etwas auf sich hält.
Eine schon hoch in Jahren stehende Kapitänswitwe bewohnte das Häuschen. Ihr Mann hatte seinerzeit im Dienste meines Vaters alle Meere befahren, war mit seinem Dreimaster »Johann Kaspar Stobäus«, nach meinem Urgroßvater so genannt, bis nach Valparaiso, nach Kapstadt und nach Singapur gekommen, um endlich in einer stürmischen Februarnacht, angesichts der heimatlichen Küste, mit Mann und Maus unterzugehen. Erst nach Monaten hatte eine angetriebene Flaschenpost das Ereignis gemeldet, und unvergeßlich sind mir aus meiner frühesten Kindheit die kurzen knappen Worte, mit Bleistift auf einen Papierfetzen geworfen: »Sturm aus Nordnordost. Großes Leck an Steuerbord. Schiff sinkt. Wird in zehn Minuten untergehen. Ahlfeld, Kapitän.« So also war es um das Sterben bestellt, hatte ich mir in meiner Knabenphantasie gesagt, und so mußte man es halten, wenn man als Mann und Held enden wollte.
Als Dank vom Hause Stobäus hatte mein Vater der Witwe des Ertrunkenen das von ihr bewohnte Häuschen auf Lebenszeit mietfrei überwiesen und auch sonst ausreichend für sie und ihre Kinder gesorgt. So war denn, als der übrige Grund und Boden hier veräußert worden war, einzig dieses Häuschen im Stobäusschen Besitz geblieben und redete in der allgemeinen Zerstörung und Umwandlung als letztes Überbleibsel die stumme Sprache einer fast schon versunkenen Zeit und Welt.
Ich hatte bei der alten, aber noch sehr rüstigen und mundfertigen Frau das Zimmer im ersten Stock inne, während diese selbst mit Katze, Hund und Papagei zu ebener Erde hauste und die Giebelstube an wechselnde Mieter, meist ledige Buchhalter oder sonstige junge Leute, abgegeben wurde.
Man mußte durch eine schwere, massiv eichene Haustüre, die jedesmal beim Öffnen ein langanhaltendes, schrilles, rostiges, gleichsam erbostes Klingelzeichen von sich gab, als ärgere sie sich über jeden, der kam oder ging, tastete sich durch einen schmalen, finsteren Gang, der neben der Wohnung der Alten hinführte, und kletterte über die steile, halsbrecherische Treppe ins erste Stockwerk, immer mit dem Gefühl, in eine Räuberspelunke geraten zu sein. Aber wenn man dann in die große, niedrige, weißgedielte Stube trat, an die sich rückwärts ein dämmeriger Alkoven schloß, so änderte sich der Eindruck, und altertümliches Behagen grüßte freundlich von den verschossenen Polsterstühlen, dem geblümten Kanapee und dem hochlehnigen Großvatersessel, der wie eine abgetakelte Postkutsche am Fenster stand.
Frei und ungehindert schweifte von hier das Auge über den weiten Wasserspiegel des träge dahinziehenden mündungsnahen Flusses, über Masten, Segel, Dampfschiffsschlöte, ferne Speicheranlagen und all das rege, immer wechselnde Hafengetriebe, verschwimmend im bleichen Dunst schwermütig schwebender Novembernebel oder übermalt von einer blanken, niedrigen Wintersonne, in deren unruhigem Glitzern und Flimmern man den scharfen, schneidenden Atem des nahen Meeres zu spüren glaubte.
Unvergeßliche Stunden, die ich in diesem Großvaterstuhl am Fenster zugebracht habe, den Blick durch den Spalt zwischen den weißen Mullgardinen auf das vielgestaltige Hafenbild geheftet! Stunden glückseliger Erwartung oder, wenn die Erwartete nicht kommen wollte, mich schnöde sitzen ließ – o wie oft! zunehmend oft! –, fiebernder Ungeduld, bitterer Selbstanklagen, tobender Wutanfälle und hoffnungsloser Verzweiflung in jähem, unvermitteltem Wechsel.
Sonderbar, daß dies alles mir heute, wo es für immer vorbei ist, im Innersten zusammengehörig und untrennbar voneinander erscheint, ja, daß der schmerzliche Genuß, den ich in der nachkostenden Erinnerung empfinde, mir gerade in der vollkommenen Mischung und gegenseitigen Durchdringung von höchstem Glück und tiefstem Erleiden zu liegen scheint.
Aber ist es denn viel anders mit dem Leben überhaupt, das wir bei uns wie bei andern nur dann als wirklich wert bezeichnen, es gelebt zu haben, wenn es in seiner ganzen Weite, Tiefe und Höhe, von den äußersten Gipfeln bis in die letzten Abgründe durchmessen wurde? So sind wir alle mehr oder minder die nichtsahnenden Opfer eines Kunstgriffes der Natur, die in kühler ärztlicher Überlegenheit sich des Schmerzes und des Leidens bedient, um uns aus unserer angeborenen Trägheit und Dumpfheit überhaupt erst zu einem höheren Bewußtsein unser selbst zu erziehen.
Wer freilich Bauchgrimmen hat, ist für gewöhnlich nicht in der Laune, dies als einen notwendigen Durchgang zu einem späteren höheren Wohlbefinden anzusehen, und könnte sich leicht versucht fühlen, dem Arzt, der ihn so trösten wollte, die Medizinflasche an den Kopf zu werfen. So war auch ich zu der Zeit, von der hier die Rede ist, noch himmelweit von der obigen Erkenntnis entfernt und durchlebte alle höheren Orts mir verordneten Purgative und Laxierungen mit der ganzen unmittelbaren Anschaulichkeit höchst persönlicher und eigengewachsener Leibschmerzen und Darmkoliken. (Dies alles natürlich im seelischen Sinne genommen, was jedoch den Zustand nicht verbesserte, eher noch verschlimmerte.)
In den ersten Wochen und Monaten, eben in jenem Winter 59 zu 60, waren allerdings von dem, was mir nach dem Ratschluß der Götter noch bevorstand, kaum die frühesten Anzeichen in Sicht.
Karola war mit Sack und Pack, welches beides sie dazumal noch nicht gar sehr beschwerte, von K. nach D. übergesiedelt und hatte unweit von mir in einer der menschenleeren Gassen, die zum Hafen hinführen, ein kleines molliges Quartier gefunden, für das ich natürlich aufzukommen hatte. Ihr Debut am Stadttheater, im Zigeunerinnenchor des damals hier neuen »Troubadours«, war still und unbemerkt verlaufen. In den Rezensionen der drei Blätter war überhaupt keine Notiz von ihr genommen, und die Begeisterung des Direktors, flüchtig wie die Kolophoniumblitze seiner Bühne, schien spurlos verraucht. Fremd und vorderhand noch ohne Anschluß in der Stadt, war Karola allein auf mich angewiesen und verlebte einen Teil ihrer Freistunden in meinem Heim an der Langen Brücke.
Man wird vielleicht fragen, warum ich es nicht vorzog, sie in meinem eigenen schönen und stattlichen Hause zu empfangen, da ich ja ganz frei und ledig dastand und auf niemand Rücksicht zu nehmen brauchte. Aber man verkennt die Stellung, in der ich mich doch den mich umkreisenden Sippen und Magen gegenüber befand. Ich stammte aus altem und angesehenem Hause, hatte den größten Teil meines Lebens in der Stadt verbracht, und fast jedermann, der mir begegnete, kannte mich, wenigstens dem Namen nach. Wohl waren meine nächsten Angehörigen tot. Aber es gab noch genug Leute, die sich ihrerseits (nicht ich sie meinerseits) zur entfernteren Verwandtschaft rechneten, Vettern, Tanten, Onkel und Basen, ein naserümpfendes, absprechendes, unerträglich spießbürgerliches und aufgeblasenes Geschlecht, und noch größer war der Kreis von Bekannten, der meist ungebeten sich an mich herandrängte und über alle Dinge dieser Welt sein unmaßgebliches Urteil in höchst maßgebender und arroganter Weise auskramte. Sollte ich nun allen diesen Klatschbasen und Lästermäulern, die nur darauf warteten, mir meine kühle Zurückhaltung irgendwie heimzuzahlen, den erwünschten Anlaß dazu geben, indem ich meine Geliebte öffentlich in meinem altehrwürdigen Elternhause verkehren ließ? Heute, ein Geächteter und Verfemter, amputiert von Vorurteilen jeder Art und gänzlich vogelfrei, heute täte ich es, falls die Gelegenheit wiederkäme – was ja wohl ausgeschlossen ist, da Derartiges nur einmal erlebt wird. Damals aber, wo die Schere des Geschicks erst kaum erhoben war, um mich von der Welt und die Welt von mir zu trennen, damals brachte ich eben den letzten Mut noch nicht auf.
Ich traf mich also mit Karola fast Tag für Tag in meinem altväterischen Logis am Hafen, und merkwürdigerweise glückte es mir, dies während mehrerer Herbst- und Wintermonate fortzusetzen, ohne daß es in der Stadt bekannt zu werden schien. Freilich pflegte ich erst mit dem sinkenden Nachmittag hinzugehen, und bis dann Karola kam, waren meist schon die frühe nordische Dämmerung und baldige Dunkelheit hereingebrochen. Da auch der Direktor aus guten Gründen reinen Mund hielt und ich sonst niemanden ins Vertrauen gezogen hatte, Onkel Pritzlaff in K. andererseits weit vom Schusse war, so konnte ich hoffen, das Geheimnis wenigstens bis zum Längerwerden der Tage im Frühjahr zu bewahren. Was dann kommen und was geschehen würde, wenn erst Karola die Aufmerksamkeit der jüngeren und älteren Männerwelt in D. erregt haben würde, wie es ja unausbleiblich war, darüber wollte ich mir noch keine Gedanken machen. Genügte es nicht, daß ich sie jetzt, in dieser Stunde, im Augenblick des Heute für mich allein hatte oder allein zu haben glaubte, falls nicht doch der Anschein trog, wie ich mir schon damals selbstquälerisch bisweilen zuflüsterte?
Oh, ich habe den Reiz dieses Geheimnisses, dieses Alleinfürmichhabens und -besitzens, ob er nun wirklich oder nur vermeintlich war, mit vollen Zügen ausgekostet! Wie ein verhaltener Sonnenschimmer nebelgraue Tage leise und weich verklärt, so lag ein Hauch von Romantik über allem, was ich damals tat und lebte. Wie aus einer verborgenen Lichtquelle strömte es aus den geheimen Zusammenkünften mit Karola in das dunkle Einerlei meines sonstigen Daseins und umgab meinen Alltag mit zart phantastischem Glanz.
Wenn ich des Morgens erwachte und mich im Bette streckte, so fühlte ich meine Glieder leicht, frei und wohlig, als sei alle Schwere von ihnen genommen und die Tage meiner Jugend seien zurückgekehrt. Dabei wußte ich, wenn ich schärfer nachdachte, mich wohl zu erinnern, daß in Wirklichkeit mein Jugendgefühl nichts weniger als leicht und frei gewesen war, eher dumpf, lastend, schwül, ein von Feuchtigkeit schwerer Mantel, der sich bedrückend um Kopf und Sinne gelegt hatte. Jetzt aber war die Luft, die ich atmete, prickelnd und flüchtig wie auf Bergeshöhen und schien mich wie von selbst tragen zu wollen. Und doch konnte ich nicht anders, als gerade dies, was so ganz verschieden von meiner einstigen wirklichen Jugendstimmung war, nun in dem Bilde meiner wiedergekehrten Jugend zu empfinden, da es doch in Wahrheit nur ein trügerischer und wehmütiger Altweibersommer war. Aber wie es Jahre gibt, die ohne Frühling und Sommer erst im beginnenden Herbst den versäumten Sonnenschein nachholen, so wohl auch Menschenleben, zu denen dann auch das meine zu rechnen wäre, und es bliebe schließlich gleich, ob man das, was schön war darin und kostbar und einzig, nun Jugend und Frühling nennte oder Altweibersommer oder Herbsteln und Alter oder wie sonst. Jedenfalls braucht die menschliche Phantasie in ihrer Unzulänglichkeit immer irgendeinen Popanz, dem sie, wie die Negervölker ihrem Fetisch, alles vorkommende Gute oder Schlechte aufhalst und ihn je nachdem Gott oder Teufel, Jugend oder Alter heißt.
In meiner damaligen zweiten Jugend oder meinem verspäteten Frühling, oder wie immer ich es bezeichnen will, in diesem beständigen Rausch von Seele und Sinnen schien auch etwas wiederzukommen, was ich längst verloren geglaubt hatte: Der Drang, mich von mir selbst loszulösen, mich gleichsam mit fremden Augen zu betrachten und zu umgrenzen, Bilder und Gesichte in Worte zu kleiden, kurz, die Illusion, so etwas wie ein Dichter zu sein, die ich mit zwanzig Jahren besessen und mit dreißig über Bord geworfen hatte. Nun war der alte törichte Traum wieder da und trieb mir manchmal ganz unbewußt, und so lächerlich es war, die hellen Tränen in die Augen. Halbe Verse, unausgesprochene Lieder summten mir auf den Lippen, wenn ich des Morgens nach dem Aufstehen in meiner Schlafstube auf und ab ging, gewiegt vom Rhythmus fremdartiger und seltsamer Melodien. Eine eigene Mischung von süßer Schwere und elastischer Gehobenheit erfüllte und durchdrang mich, so daß ich das Gefühl hatte, der Boden federe unter meinen Sohlen und wolle mich in die Luft schnellen, wenn nicht eben die innere Fülle mich wiederum auf der Erde festhielte.
Was freilich aus dem dunklen Gewoge auftauchte, waren immer nur einzelne Bruchstücke, Verse, Sätze, Einfälle, wie vorübertreibende Eisschollen, die ins Bodenlose versanken, wenn man seinen Fuß darauf setzen, oder die unter den Händen zerrannen, wenn man sie greifen wollte. Auch an die Spinnenfäden mußte ich denken, die die blauen Tage des Altweibersommers durchziehen, sich schmeichlerisch und spielend an Haar und Hut hängen und flüchtig wie der Hauch des Westwinds wieder verweht sind. Wer wollte sie einfangen und ein Gewebe daraus machen! Genug, daß sie einen Augenblick da sind und die Wangen streifen!
Doch wurde es mir zuerst nicht leicht, mich zu solcher Erkenntnis durchzuringen. Ich versuchte mehrmals, mir über meine Stimmungen, Phantasien, Bilder in Worten Rechenschaft abzulegen. Aber ach, wie weit war der Abstand zwischen dem Unsagbaren, Unfaßbaren, Urgewaltigen, Weltengroßen und Abgrundtiefen, was in mir wogte, wühlte, arbeitete, gor, und der dürftigen, kalten, grauen Alltäglichkeit, die dann auf dem Papier erschien und mich wie die Fratze meiner selbst aus dem Hohlspiegel angrinste! Törichtes Beginnen! Wußte ich nicht, daß große Passionen, erschütternde Leidenschaften wohl den Boden der Seele lockern und die Saat streuen können, daß es dann aber gleichsam eines chemischen Umwandlungsprozesses bedarf, damit die Keime aufgehen und weiterwachsen? Und diese innere, seelische Umgestaltung, wo war sie? Erlebte ich das Erlebnis nicht erst rein als das, was es war? Eben als ein nacktes und fast zufälliges Geschehen, ohne die tiefere Sinnbildlichkeit, die dem Ganzen erst Zweck und Ziel gibt, es notwendig, unausweichlich und so zum Kunstwerk macht? Mußte man nicht warten, immer wieder und wieder warten, bis eines Morgens der Geist sich herabließe und aus dem Chaos zu reden, zu tönen begänne – wenn anders man überhaupt begnadigt war, Gefäß des Geistes zu werden, was noch dahin stand – und brachte man sich durch das ungeduldige Ans-Licht-zerren und Erhaschenwollen des Geträumten nicht auch um den Genuß des bloßen Träumens selbst?
So wurde mir allmählich klar, daß es unmöglich sei, gleichzeitig mitten in der Leidenschaft und hoch darüber zu stehen, welches letztere ja wohl die Vorbedingung alles Dichtens und Fabulierens. Und wenn es heute, wo das alles nun überstanden ist, mir gelingen sollte, ein leidlich klares Bild des einst Erlebten und Erlittenen zu entwerfen, so vielleicht deshalb, weil ich eben damals, als ich es erlebte und erlitt, mich, wenn auch unter Schmerzen, zu bescheiden und zu gedulden wußte und seine Niederschrift für spätere rein betrachtende Tage verschob.
Übrigens ist selbst das Wenige, was ich damals an Versen und Betrachtungen zu Papier gebracht habe, nachträglich unkontrollierbar für mich, da ich es am Abend nach meiner Tat verbrannt habe, damit es nicht für den Fall meiner Inhaftierung und Prozessierung etwa gegen mich spräche und so seinem eigenen Schöpfer den Hals koste. Ich habe also im Grunde gar kein Urteil über seinen Wert oder Unwert, und wenn ich es jetzt so schlankweg unter mein Heutiges stelle, so verfalle ich vielleicht in den Eitelkeitsfehler aller Schreibenden und Malenden, die immer das zuletzt Gemachte über jedes Frühere erheben wollen, wovon die Erklärung wohl die, daß niemand bergabsteigend, alle vielmehr in fortwährendem Aufstieg bis ans Ende erscheinen möchten.
Leicht, heiter und gleichsam körperlos, wie Vogelflug durch die Lüfte zieht, so glitten mir also die Tage und Wochen hin. Die gespannte und schwebende Stimmung, das Gefühl einer merkwürdigen Befreitheit und schwülen Schwere zugleich, sie erwachten mit mir in dem Moment, wo ich die Augen öffnete, erfüllten mich in der Trödelstunde des Ankleidens, während planloser Singsang von meinen Lippen kam, setzten sich mit mir an den wohlbestellten Frühstückstisch, über dessen Teemaschine, Schinken, Eiern, Wurstsachen Klaus' wachsames Dienerauge waltete, saßen mit bei der Arbeit an dem leise knarrenden Schreibsekretär, den von der Höhe aus seinem Goldrahmen herunter der kalte, forschende Blick meines Ahnherrn beherrschte, und begleiteten mich auf dem täglichen Gange, den ich nach alter, ererbter Gewohnheit gegen die Mittagsstunde zur Börse und von dort in den Ratskeller oder eine andere nahe Weinstube machte.
Hier fehlte es nie an Bekannten, die sich auf einen Schnitt Portwein oder ein Glas Bordeaux einfanden und die Neuigkeiten des Tages Revue passieren ließen. Schon früher war dies so ziemlich die einzige Quelle, aus der ich mich über die Vorgänge in der Stadt auf dem laufenden erhalten hatte, da ich des Abends sehr selten ausging und Familien fast nie besuchte. Jetzt weilte mein Geist für gewöhnlich ganz wo anders, als bei den trivialen Gesprächen über Schiffsladungen, Holztriften, Weizen- und Gerstenpreise nebst dem üblichen Haus- und Gesellschaftsklatsch, und nur, wenn die Rede auf die Weiber und das Theater kam, was unvermeidlich in jeder Sitzung geschah, so spitzte ich meine Ohren und horchte klopfenden Herzens, ob etwas dabei wäre, was mich anginge. Aber wie die Tage kamen und schwanden – nichts war noch durchgesickert, und selbst Julius Schwarzwald, der scheinbar wieder gesund wie ein Fisch (wären nicht die roten Flecken auf den Backen gewesen) seinen Geschäften an der Börse nachging und als gewandter Kaufmann und vielgesuchter Plauderer überall dabei sein mußte, wo etwas los war, selbst er, sonst ein äußerst empfängliches und zehnfach vergrößerndes Schallrohr, durch das man das Gras wachsen hören konnte, saß ahnungslos, ein wenig zusammengeduckt und leise hüstelnd, vor seinem Portweinglase und kolportierte die neuesten Witze und letzten Gerüchte der Stadt ohne die geringste Anspielung auf mich und mein Geheimnis.
Triumphierend verließ ich dann jedesmal meine zurückgezogene Ecke am ewig dämmerigen, matt von einer Talgkerze beleuchteten Stammtisch und kehrte am nächsten Vormittag wieder mit der tief in der Brust verschlossenen Sorge, vielleicht heute den Schleier über meinem Leben gelüftet zu finden. Aber nichts dergleichen geschah und alles schien beim alten zu bleiben.
Den Vormittagen voll Sehnsucht, Spannung, Erwartung folgte die Erfüllung der Nachmittage. Die Wintersonne stand schon hinter dem steilen, braunroten Ziegeldach der Marienkirche, wenn ich mein Haus zu verlassen pflegte, begleitet von dem zwinkernden Einverständnis meines Klaus, der mir in den Pelz half, und straßab verfolgt von den unsichtbaren und feindseligen Späherblicken meines alten Wirtschaftsdrachens Rosalie, die ich hinter den Erkergardinen des ersten Stockes versteckt wußte.
Durch enge, verschlafene Gassen, die verwundert hinter mir aufzuhorchen schienen, um altersgraues Gemäuer und Winkelwerk, das sich an ragende Kirchengotik lehnte, über Holzstege und brausendes Mühlengewässer, immer hin und wider, kreuz und quer, planlos wie das Leben und auch mit ebenso festbestimmtem Endziel – nur daß dies die Liebe und nicht der Tod war –, so erreichte ich, wenn die Sonne hinter den nordwestlichen Wällen und Bastionen verschwunden war, das lebhaftere Hafenquartier, mischte mich unter die hier hantierenden oder herumstehenden Sackträger, Schiffersleute, Fischfrauen, Matrosen, Speicherknechte, schlüpfte in einem günstigen Augenblick, wenn die Luft ringsum rein war, mit hochgeschlagenem Kragen in das altväterlich gezopfte Hafenhäuschen und drückte mich durch den dunklen Gang neben dem Wohnraum der Alten, möglichst rasch und lautlos, um endloser Aussprache zu entgehen, bis ich über die steile, dunkle Treppe endlich in den dämmerigen Frieden meines Liebesasyls gelangte und, des Harrens schon gewohnt, meinen Beobachtungsposten in dem gefälligen Großvaterstuhl am Fenster einnahm.
Gewöhnlich mußte ich eine halbe Stunde und wohl auch länger warten, in der einsamen Stube wurde es langsam Nacht, auf dem dämmerigen Wasserspiegel draußen erschienen einzelne kleine Lichtchen, von den dunkel verschwommenen Lastkähnen und Segelschiffen herkommend – jetzt ein scharfes, schmetterndes Aufkreischen der Hausglocke, dem Gebelle eines gereizten Köters ähnlich, und doch Musik meinen Ohren, Wonne meinem hoch aufklopfenden Herzen, denn jetzt, jetzt endlich mußte sie es sein. Karola kam, ich hörte Stimmen im Gange unten: sicher die Alte, die sie mit überflüssigem Gerede aufhielt, während ich hier oben saß, fieberte, die alte Hexe zu allen Teufeln wünschte. Nun wirkliches Hundegekläff, Papageiengeschrei, Katerfauchen, als ob die ganze Arche da unten aufeinander losgelassen sei, helles, silbernes Lachen, ich erkannte Karolas süße Stimme, dazwischen den Baßton der Kapitänswitwe, wie sie dröhnend mit einstimmte und gleichzeitig ihre Hexenbrut fluchend, wetternd zur Ruhe beschwor. Flüchtige, leicht stolpernde Tritte auf der Treppe, ein rasches Klopfen, indes ich die Öllampe anzündete und meine fliegenden Pulse gewaltsam einzudämmen suchte.
»Karola! Schatz! Liebste!«
»Ich komme spät. Sie haben gewartet?«
(Noch hatte sie in einer Art von Respekt, die ich trotz aller Verliebtheit nicht ungern sah, das »Sie« gegen mich beibehalten, und nur im engsten Beieinander vergaß sie sich für Augenblicke zu einem schwachen, flüsternden »Du«, um gleich wieder in den gewohnten Respektston zurückzufallen.)
»Ja, gewartet. Ein bißchen. Eine Stunde oder zwei.«
Ich hörte, wie die Worte mir rauh aus der Kehle rasselten, vor mühsam unterdrückter Erregung, daß ich das holde, einzige Geschöpf nun bei mir hatte, es in meinen Armen hielt, seinen nahen Dunstkreis atmete und den warmen, weichen Druck seiner Glieder fühlte.
»Sie machen solch ein Gesicht? Sind Sie mir böse?« pflegte sie dann zu sagen und sah mir forschend, dabei immer ein wenig unsicher und wie schuldbewußt in die Augen.
»Seh' ich so grimmig aus, mein Engel?« erwiderte ich und versuchte, meinem Gesicht ein Lächeln abzugewinnen, das aber bei der erst langsam sich lösenden inneren Spannung eher zu einer Grimasse werden mochte, denn sie hob entsetzt die Hände auf:
»Um Gottes willen! Wenn Sie mir böse sein wollen, geh' ich gleich wieder fort. Ich kann keine wütenden Gesichter vertragen.«
»Glücklich bin ich, mein Herz! Glücklich! Glücklich!« beteuerte ich und suchte sie von neuem an mich zu ziehen.
»Sehen Sie so aus, wenn Sie glücklich sind?« fragte sie kopfschüttelnd. »Was muß erst sein, wenn Sie mal böse sind?«
»Drum hüte man sich, mein Engelsbild! ... Hüte dich! Hüte dich!«
Ich sagte es mit erhobenem Finger und weit emporgezogenen Brauen, aber die beabsichtigte Wirkung schien ins Gegenteil umzuschlagen, denn Karola lachte belustigt auf und der alte Leichtsinn klang aus ihrem Ton.
»Ach, Sie tun ja nur so! ... Und überhaupt bin ich gar nicht schuld, daß Sie haben warten müssen.«
Und nun wickelte sich eine ganze Kette von Gründen ab, warum sie eben erst jetzt und nicht schon vor einer Stunde hatte kommen können, einer immer treffender und überzeugender als der andere, nur leider auch einer immer das Gegenteil des andern. Die Probe im Stadttheater hatte wieder bis tief in den Nachmittag gedauert. Man hatte warten müssen, bis es der Gans, der Primadonna, beliebte zu kommen. Um zwölf war sie, Karola, zum Direktor ins Privatzimmer bestellt gewesen. Eine neue Gesangspartie hatte mit dem Repetitor in des Direktors Gegenwart durchgenommen werden sollen. Aber der Repetitor hatte irgendwo unten bei einer Klavierprobe zu tun gehabt, und als er um zwei erschien, war wieder die Spur des Direktors verloren gegangen. Dann war der Direktor erschienen und der Repetitor verschwunden, und schließlich hatte sie sich um drei ganz müde und zerschlagen empfohlen und hatte sich zu Hause, ohne Mittagessen, aufs Sofa geworfen und die Zeit verschlafen, und morgen konnte das unnütze Herumstehen und Warten von neuem beginnen.
»Überhaupt, was man alles durchmachen muß!« seufzte sie dann und warf sich tief in das Sofa zurück, den feingeschnittenen Kopf mit den leichtgeöffneten Lippen, durch die man den weißen Zahnschmelz schimmern sah, klagend zum Himmel erhoben.
»Komm her, ich will dich bedauern, mein Engelsgesicht!« erwiderte ich, kniete vor ihr nieder und umschlang ihren geschmeidigen Leib mit den Armen. »Ist es so recht? Fühlst du dich wieder zu Hause in deinem Reich?«
»Ja, spotten Sie nur!« nickte sie und sah unzufrieden und doch lächelnd auf mich herunter. »Sie wissen nicht, wie schwer man es hat. Ach ja! So wie Sie! Ein Mann zu sein, Geld zu haben, Geld wie Heu, nach niemandem fragen zu brauchen ... Aber bis unsereiner sich durchsetzt! Manchmal glaub' ich, es ist am besten, ich geb' es auf. Es wird ja doch nichts draus. Wenn die Pellerini nicht wäre ...! Die macht mir immer noch Mut.«
Ja, nur gut, daß man die Pellerini hatte! Als schützender Genius waltete sie über meinem kleinen, süßen, entzückend unglaubwürdigen Schatz. Wenn Karola sich verspätete oder gänzlich ausblieb und es keine anderen Gründe mehr gab – die Pellerini stand immer zu Gebot. Stunden waren eingeschoben, abgesagt, verlegt worden. Karoline hatte schon den Hut aufgesetzt gehabt, um zu mir zu eilen, da war ein Bote von der Pellerini gekommen, und sie hatte auf einen Sprung zu ihr hingemußt, war dann aufgehalten worden, während ich in meinem einsamen Hafenzimmer mit fliegender Ungeduld gegen die Scheiben getrommelt und mir die Nägel abgebissen hatte.
Überhaupt schien es gar nicht nach dem Sinn der Pellerini, daß Karola ihre Zeit noch für etwas anderes als für ihre Gesangsstudien verwendete. »Die Kunst ist eine eifersüchtige Geliebte,« hatte die Pellerini gesagt, »und niemand kann zweien Herren dienen, mein Kind.«
Doch darum kümmerte sich Karola nicht, sondern verteilte nach wie vor ihre Zeit zwischen dem Theater, dem Studium und mir. Nur war zu bedenken, daß sie auch ihre Ruhe brauchte und es übrigens für ihre Stimme nicht gerade das Beste war, sich immer der rauhen Nachtluft hier am Wasser auszusetzen. Eigentlich verdiente man ja alle ihre Hingabe und Liebe nicht, mit seinem ewigen Schelten und Unzufriedensein, und wenn sie sich's recht überlegte, so war man ein eifersüchtiges Ungeheuer und andere Männer hätten einen Schatz wie sie zehnmal besser zu würdigen gewußt. Denn die Pellerini sagte ... Worauf ein neues Diktum der erfahrenen Dame über das Verhältnis von jungen Künstlerinnen zu älteren Mäzenen folgte, die man beileibe nicht zu sehr verwöhnen dürfe, immer ein bißchen müsse schmachten und zappeln lassen.
Ja, so sagte die Pellerini, und hatte sie nicht recht? In Zukunft sollte es auch so gehalten werden. Es tat ihr nur immer wieder leid um einen. Das gute Herz! Das war das Malheur! Daß sie einem nichts abschlagen konnte! ... Da lag die eigentliche Dummheit. Die Männer müssen sehen, daß man etwas auf sich gibt, hatte die Pellerini geäußert und daran den Witz geknüpft, daß dann die Männer auch ihrerseits mehr zu geben pflegten.
»Was meckern Sie denn?« hatte Karola komisch unwillig gefragt, als ich bei dem weltkundigen Scherz der Pellerini still, aber bedeutsam in mich hineingelacht hatte.
»Ein Glück, daß du die Pellerini hast, mein Himmelsbild!« erwiderte ich und klopfte ihr nicht ohne Ironie auf den Rücken. »Das nenn' ich doch Stimm- und Charakterbildung zugleich! Eine angenehme Schlange! Hol' mich der Teufel! Man wird ihr etwas auf die Finger sehen müssen. Hat sie denn eine Ahnung, wer dein Freund ist?«
»Kein Wort weiß sie!« beteuerte Karola. »So wahr ich selig werden will!«
»Aber daß du einen Freund hast, das weiß sie?«
Ich sah Karola forschend in die Augen und lächelte wieder.
»Meckern Sie doch nicht immer so!« protestierte Karola gereizt und stampfte mit ihrem schlanken, ebenmäßigen Fuß auf den Boden. »Gesagt hab' ich natürlich nichts. Aber sie denkt sich's doch. Der Konsul hat ihr ja auch geschrieben. Vielleicht glaubt sie, der Konsul kommt für die Stunden auf. Da müßte sie doch vom Dämelsack geschlagen sein!«
Und Karola war in ein herzliches Gelächter ausgebrochen bei der Vorstellung, als ob man der Pellerini ein X für ein U machen könne, und ich hatte mitgelacht, und wir waren wieder ein Herz und eine Seele gewesen, wie so oft vorher und trotz allem und allem auch nachmals bis ans bittere Ende hin. Der Teekessel summte auf dem Tisch, Karola biß in den Napfkuchen und knabberte von dem Marzipankonfekt. Unten auf dem hölzernen Laufsteg der Hafenbrücke zogen gedämpfte Menschenschritte dunkeln und vielfältigen Zielen entgegen, durch die niedrige, mattbeleuchtete Stube hier oben ging ein feines Klingen wie von Glück, und wir beide genossen die Stunde, die unser war, genossen sie, als ob sie Ewigkeit sei.