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Märchenschöns Ahnung hatte sich erfüllt. Es war das Abendrot seines Lebens, das ihm den Morgenschein junger Tage golden widergespiegelt hatte, ehe die Nacht hereinbrach. Eines Nachmittags im Februar, knapp ein halbes Jahr nach dem Spaziergang Märchenschöns mit Leonhardi, fand die Wirtschafterin, die dem alten Herrn wie gewöhnlich den Kaffee ins Arbeitszimmer brachte, ihn zurückgelehnt und still entschlummert in seinem schwarzledernen Großvaterstuhle. Die starren Augen hinter den halbgeöffneten Lidern schienen wie in unabsehbare Räume verloren. Der schlaff herunterhängenden Rechten war der Traktat Spinozas De deo et homine entsunken. Die hochgewölbte Stirn war kalt und wächsern, und um den zusammengekniffenen, blutlosen Mund, umrahmt vom wuchernden Buschwerk grauer Bartwildnis, geisterte ein letztes erfrorenes Lächeln, man wußte nicht ob ironischer Überlegenheit, ob schlichten Sichbescheidens. Der leidenschaftliche Jünglingsgeist aber, der die Seele dieser morschen Behausung gewesen, hatte die mühsame und rätselvolle Pilgerfahrt nach dem weltweiten Ziel seiner Wünsche, nach dem Stern Beteigeuze angetreten.
Wenige Tage später saß Leonhardi an dem altmodischen Schreibspind in der Hinterstube von Märchenschöns Wohnung, um als Testamentsvollstrecker des Verstorbenen dessen Papiere zu ordnen und für die Vormundschaftsbehörde der Erben, zweier minderjährigen Neffen, die gesetzliche Aufstellung des Nachlasses vorzunehmen. Ein wilder Nordsturm, der schon seit mehreren Tagen von der See herüberbrauste, rüttelte an den Türklinken und Fensterkreuzen, fuhr längs der Regenrinnen herunter und schnob durch die Schornsteine in die Ofenlöcher, daß die Funken der glimmenden Asche wie unter einem Blasebalg aufstoben und jäh verloschen. Stimmen in den Lüften heulten, kreischten, pfiffen, wimmerten und schwiegen ebenso plötzlich und geheimnisvoll, wie sie eingesetzt hatten. Ein tiefer, einförmiger Orgelton, gleich dem Rauschen eines unterirdischen Stroms, zog hoch über den Dächern hinweg und begleitete als dunkle Grundmelodie das hüpfende, springende, abreißende und aufschnellende Geknatter des Blas- und Streichorchesters in den Lüften.
Leonhardi hatte stundenlang beim friedlichen Lichte der Petroleumlampe gesichtet, geprüft, geschrieben, und es war schon nach Mitternacht, als ihm im untersten Schubfach, ganz hinten in der Ecke, ein mehrfach versiegeltes und mit Schnüren umwundenes Paket in die Hand fiel. Es trug die Aufschrift: »Für meinen Testamentsvollstrecker.« Leonhardi zerschnitt die Schnüre und öffnete mechanisch. Ein ovales Miniaturbildnis im schmalen Goldrahmen lag zu oberst, darunter ein Stoß engbeschriebener Bogen eines dünnen, vergilbten Papiers von älterer und vergessener Fabrikation.
Leonhardi, der von der langen Arbeit ermüdet war, ließ zerstreut seine Blicke über die fremden Schriftzüge gleiten. Plötzlich schlug er sich vor den Kopf. Das war ja der Abend am Strand und Märchenschöns Erzählung! Er rückte die Lampe näher und hielt das Medaillon prüfend vor die Augen. Eine jugendschlanke weibliche Gestalt lag hingestreckt mit leicht erhobenem Oberkörper, den Kopf auf einem Kanapee. Das lose, durchsichtige Gewand verriet den weichen Linienfluß der Glieder. Die nackten Füße mit den zierlichen Fesseln waren übereinandergekreuzt. Eine Spange wand sich um den linken Knöchel. Darüber sah man die volle Wade bis zum Knie herauf. Busen, Hals und Arme waren frei. Die linke Hand fiel schlank und schmal am Kanapee herunter. Die rechte hielt lässig ein Goldschnittbändchen. Das Gesicht war dem Betrachter zugekehrt. Eine feingeschnittene griechische Nase, dunkle, sehnsüchtige Augen, wirres Kraushaar um die steile Stirn, ein voller sinnlicher Mund, zwischen den halbgeöffneten Lippen ein Stückchen weißen Zahnschmelzes schimmernd, das Kinn rund und weich, Hals und Schultern blendend weiß und wie aus der Drechselbank gedreht. Die ganze Erscheinung ein Bild zierlicher und mädchenhafter Fülle, in lichten, heiteren Farben sehr glatt und porzellanhaft gemalt.
Leonhardi hatte sich in das Bildnis der Ruhenden versenkt, als wolle er ihre Seele wachrufen und ihr das Geheimnis ihres Lebens entlocken. In seinen Fingerspitzen prickelte es leise wie von einem elektrischen Kontakt. Ein sanftes Eratmen und Erwarmen schien über den Leib des jungen Weibes zu gleiten. Die Lippen schürzten sich. Um den feuchten Mund mit dem weißschimmernden Zahnschmelz irrte ein wissendes Lächeln wie von geschlürftem Champagner und durchküßten Nächten. Und jetzt begannen die hingestreckten Glieder sich zu dehnen. Die schlanken Arme mit den schmalen Händen regten sich schwach und tasteten wie nach Leben, der feine Kopf auf dem weißen zierlichen Hals und dem leicht erhobenen Oberkörper neigte sich trunken zurück. Noch ein Augenblick, und die blonde Flut des gelösten Haars würde rückwärts über die Lehne des geblümten Kanapees fließen ...
Leonhardi durchzuckte es. Er sah auf und bemerkte, daß er noch immer das Bildnis in den Händen hielt. War es nicht wie ein unsichtbarer Funkenkranz rings um das Bild, was durch seine Nerven knisterte? Er schüttelte sich mit einer unwilligen Gebärde und legte das Täfelchen auf die entgegengesetzte Seite des Tisches, wie man ein Flakon mit einem seltsamen und rätselhaften Gift vorsichtig aus dem Bereich seiner Hände entfernt.
Es war spät in der Nacht. Das Feuer im Ofen war erloschen. Kalte Luftstöße fegten über die Tischplatte und erfüllten die toten Papiere rings umher mit raschelndem Leben. Regenkörner klatschten wie Peitschenhiebe gegen die Fenster. Der unsichtbare Organist, der hoch in den Lüften die Sturmorgel spielte, hatte seine tiefsten Register gezogen, während die begleitenden Blasinstrumente aus vollen Backen aufschmetterten, die Violinen durch alle Tonarten jagten und die Schlagkörper hie und da in furchtbarer Wut zusammendröhnten, daß das alte Patrizierhaus in seinen Lebenswurzeln erbebte.
Leonhardi lauschte ein Weilchen in den wilden Aufruhr hinaus. An Schlafen war nicht zu denken. Er lehnte sich bequem in seinen Stuhl zurück, zündete sich eine neue Zigarre an und nahm die engbeschriebenen Bogen zur Hand, in denen das Geheimnis des Dietrich Stobäus zu Papier gebracht sein sollte.