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20

Dienstag nach diesem Wiedersehen, das am Sonnabend stattfand, hatten wir von neuem zusammenkommen wollen. Aber ich wartete umsonst in meinem Lehnstuhl am Fenster. Karola blieb aus.

Zunächst machte ich mir keine besonderen Gedanken darüber, erklärte es mir aus Bummelei und Leichtsinn wie so oft vorher. Ein paar Zeilen würden hinreichen, die Vergeßlichkeit zu rügen und zur Besserung zu mahnen, auch Tag und Stunde neuerdings zu bestimmen.

Der Brief ging ab. Der Tag erschien. Ich saß wiederum in meinem Stübchen und wartete, während die von früher her nur zu wohlbekannte Erregung erst leise, dann deutlicher zu schwingen und zu zittern begann. Käme sie? Käme sie nicht? Was war geschehen?

Nein, sie kam nicht! Als ich eine Stunde im Fieber des Harrens, Lauschens, Bangens bald gesessen hatte, bald umhergelaufen war, von neuem mich gesetzt hatte und abermals aufgesprungen und zwischen meinen engen vier Wänden hin und her geschnellt war, wie der Irre in seiner Gummizelle, da wußte ich, daß für heute keine Hoffnung mehr sei. Denn wenn sie auch manchmal unpünktlich zu sein pflegte, länger als um eine Stunde hatte sie sich nie verspätet, war dann lieber gleich ganz ausgeblieben, weil es mit den Vorwürfen und dem bösen Gesicht nun schon in einem ging, wie sie zu sagen pflegte.

Wie mir doch alle diese Worte, Mienen, Gewohnheiten auf einmal vor der Seele standen, so rührend nah mit mir sprachen, so vertraut mich anblickten, als wollten sie mir das an ihr Besessene so recht zum Bewußtsein bringen und die Öde des Alleinseins mich doppelt fühlen lassen! Wie alle die Dinge hier im Zimmer nur von ihr redeten, nur für sie zeugten! Hier der Polsterstuhl, auf dem sie rittlings gesessen und Marzipan geknabbert hatte, damals in dämmergrauen Adventtagen, die doch von innerem Lichte geleuchtet hatten. Da die Silhouetten über dem Kanapee, vor denen sie oft mit gekreuzten Armen gestanden und sich den Kopf zerbrochen hatte, wen sie wohl darstellten und ob ihre Urbilder noch lebten oder schon lange tot seien. Dort der ausgestopfte Kakadu, der mit weitgespannten Flügeln von der Decke herunterschwebte und mit seinem grellbunten Gefieder und dem wütend zum Stoß ausholenden Krummschnabel immer von neuem ihre Augen angezogen, ihre Neckerei herausgefordert hatte.

Wie das alles auf mich eindrang, in mich hineinsprach, mich mit Erinnerungen überschüttete, von denen mir kaum bewußt war, daß ich sie überhaupt erlebt hatte, und die nun fertig aus meinem Kopf gesprungen ringsher gegen mich anstürmten.

Welch eine Qual, sich das immer wieder vorzustellen, all das denken zu müssen, was einmal gewesen war und vielleicht nie wiederkommen würde! Sich sagen zu müssen, daß man es einst besessen und nun für immer verloren hatte! ...

Aber weshalb verloren? Warum gewesen? Wer sagte mir denn, daß sie nicht morgen, übermorgen, in einer Woche zu mir zurückkehren, mir halb unsicher, halb trotzig in die Augen blicken, erröten, stammeln, Ausflüchte machen, mir in die Arme fliegen werde? Und ich? Was würde ich tun? Würde ich den Mut, den Stolz, die Mannheit besitzen, ihr weiter zu grollen, mich von ihr abzukehren, ihre Hand wegzustoßen? In diesem Augenblick, ja! Wenn sie jetzt, gerade jetzt ins Zimmer träte, gewiß! ...

Jetzt? Später? Narr, der ich war! Kannte ich mich nicht allzu gut? Sobald sie ins Zimmer träte, vor mir stünde, ob jetzt, ob später ... Würde ich nicht alles geschehen und vergessen sein lassen, nur daran denken, ihre Nähe zu fühlen, ihren Hauch zu spüren, ihrer Augen Licht, ihrer Lippen Kuß zu trinken? Und dann? Würde dann nicht alles, alles sein wie vordem, und das gräßliche, furchtbare, grauenvolle Leiden begänne von neuem, diese unerträgliche, unabsehbar endlose Qual, der fressende, markzerwühlende Schmerz ... Ja, der Fremde hatte recht: Eine Tat! Nur einmal im Leben eine einzige Tat! Herrgott im Himmel! Eine Tat oder den Tod! ...

Aber wenn sie nun ein Ende machte? Wenn sie nicht länger wollte, mir vielleicht nie wieder vor Augen käme? Wie waren doch ihre Worte bei unserm letzten Liebesgespräch? Sie wäre nicht dazu da, nur einen glücklich zu machen. »Küsse mich, ehe es zu spät ist!« hatte sie gerufen mit einem so seltsamen Ausdruck in Miene und Ton. Ja, das war es. Schon da hatte sie den Plan gehabt, von mir zu gehen. Es war ihr Abschied von mir gewesen, und ich hatte es nicht gewußt. Hatte sie zum letztenmal im Arm gehalten, ohne an ihrem Herzschlag zu fühlen, daß es aus war für alle Zeit. Aus, nicht weil ich, sondern weil sie es gewollt hatte. Sie! Sie! Nicht ich! Selbst dieser letzte, armselige Stolz mir genommen! Und nichts mehr zu fürchten! Nichts zu erwarten, nichts zu hoffen mehr! Aus und tot!

Nein, unausdenkbar auch das! Enden oder Nichtenden, Verlorenhaben oder Wiederbesitzen: eines so unmöglich und unerträglich wie das andere. Qualen hier, Martern dort! Was bedeutet es dem Sklaven, der den Mühlstein dreht und unter der Peitsche stöhnt, ob er von rechts nach links oder von links nach rechts herumgetrieben wird? Und wenn er sich den Kopf blutig stößt, er bleibt im Joch. Nur eine Tat, eine Tat kann ihn retten!

Halb von Sinnen griff ich nach Hut und Stock und stürzte über die stockdunkle Treppe, hinaus in den warmen Brodem der abendlich dämmernden Gassen.

Allmählich wurde mir von der sich abkühlenden Nachtluft der Kopf freier. Ich begann wieder geordnet zu denken und klar zu übersehen. Was war geschehen? Weshalb hatte sie mich verlassen? Weilte sie überhaupt noch in der Stadt? Konnte ich sie nicht bei sich zu Hause aufsuchen, sie zur Rede stellen? Warum tat ich es nicht? Erst jetzt fiel mir ein, daß ich bisher noch stets vermieden hatte, meinen Fuß in ihre Wohnung zu setzen. Wohl aus Scheu, unser Geheimnis zu offenbaren, ihre Quartiergeber unsere Beziehungen merken zu lassen. Aber was lag daran, wenn es nun doch zu Ende war? Mußte ich nicht vor allem Gewißheit haben? Warum ging ich nicht hin und verschaffte sie mir? Auf der Stelle wollte ich es tun! Ich atmete tief auf. Der Gedanke beruhigte, erleichterte mich.

Aber wie ich nun in dem engen Gäßchen vor dem alten wackeligen Giebelhause stand, wo sie im dritten Stock das Zimmer nach vorne hinaus bewohnte, da meldeten sich doch wieder die alten Zweifel, Bedenken, Einwände, die gegen eine rasche, tatkräftige Lösung so oder so sprachen. Sollte ich das schlafende Haus zu so später Abendstunde noch aufstören? Nur in der obersten Giebelstube – ich hatte mich dazu eng an die gegenüberliegende Hauswand drücken müssen – war noch ein Lichtschein zu entdecken. Sonst war alles dunkel. Auch die beiden Fenster Karolas. Ja, wenn sie nun gar nicht mehr da, wenn sie wirklich abgereist war? Abgereist ohne Gruß, ohne Wort für mich! (Wie das stach, da innen!) Aber gleichviel. Es mochte doch sein, mochte sich irgendwie erklären. Die Theatersaison war zu Ende. Was hielt sie noch hier in der Stadt? Etwa ich? Die Beziehung zu mir? Merkwürdig, wie ich mich selbst nicht mehr mitzählte, nur noch lächelte bei dem Gedanken, sie könne etwas tun oder lassen aus Rücksicht auf mich! Kein Zweifel. Sie war gegangen, war fort, ohne Zeichen, ohne Wort, ohne letzten Gruß. (Ach! Nun stach es doch wieder! Da half kein Lächeln!) Was hatte ich noch hier zu stehen, wie ein begossener Narr, und hinaufzustarren nach toten Fenstern und einem gestorbenen Glück!

Nur weg! In die Finsternis! Ins Nichtsmehrdenken, Nichtsmehrwissen! Den Kopf in die Kissen stecken und alles vergessen, alles begraben!

Ich rannte davon, als säße mir jemand auf den Fersen, der doch kein anderer war als ich selbst, und mein Leben hinge davon ab, diesem anderen Ich zu entkommen.

Tage, vielleicht Wochen – meinem Gedächtnis haftet kein Datum mehr – waren so vergangen. Wie am vorüberfahrenden Zuge die Telegraphenstangen, so erscheinen meinem rückblickenden Geiste jene Tage, einer wie der andere, gleichförmig, eintönig, leblos und entwurzelt. Aber war nicht jede von diesen trockenen entblätterten Stangen, die in schnurgerader Reihe in die Unendlichkeit führen, einmal ein lebendiger Baum des Waldes und der Erde, von warmen ureigenen Säften durchbraust? Und steht es nicht ähnlich so mit jenen entschwundenen Tagen, die mir heute wie nach dem Lineal aufgereiht erscheinen? War nicht auch von ihnen ein jeder – wenn ich schärfer zusehe, mich richtend frage –, ein jeder so ein lebendiges, persönliches, einmaliges Einzelwesen, mit tiefstem, eigenstem Dasein erfüllt, voll qualvollen Ringens, fressenden Leids, blutiger Selbstzerfleischung, um den einen, immer gleichen und doch mit jedem neuen Morgen neu gewachsenen, neu empfundenen Pfahl im Fleisch?

An einem dieser stets neuen, stets gleichen Morgen war es, wo mir die Post ein unscheinbares Briefchen brachte. Ich erkannte sofort die wohlvertrauten steilen Schriftzüge Karolas, und mein Herz setzte mit einem kurzen, heftigen Trommelwirbel ein, der mir den letzten Schlaf aus den Gliedern jagte.

»Mußte plötzlich abreisen. Konnte nicht mehr Adieu sagen. Sie waren gewiß sehr böse. Aber ich komme wieder. Es grüßt Karola. Bitte nicht böse sein, wenn ich wiederkomme.«

Ich ließ das Blatt sinken und lachte laut vor mich hin. Das war alles, was sie zu sagen hatte! Mehr Worte brachte sie nicht für mich auf! Dafür hatte ich gefiebert, geschmerzt, gebangt! ... Und doch, war es nicht schon Erleichterung, Befreiung, daß sie überhaupt an mich dachte, mir nur geschrieben hatte? Und daß sie wiederkehren würde? War das nicht mehr, als ganze Bogen beschriebenen Papiers bedeutet hätten! Licht, Sonne, Heiterkeit, Hoffnung, Glück, Rausch, Seligkeit ... Alles meinem herbstelnden Leben wieder zurückgegeben! Noch einmal – ach, wer weiß, auf wie lange noch! – Jugend in dieses alternde Herz, das doch stürmisch wie das Fohlen auf der Wiese galoppierte und noch immer sich nicht bescheiden, nicht verzichten lernen wollte.

Welch ein unbegreiflicher, unfaßbarer Umschwung das war von gestern zu heute! Mit welch einem eben noch ungeahnten Gefühl von Losgelöstheit und Gehobenheit ich aufstand und mich anzog, im Herzen nach tiefstem Elend hellstes Entzücken, in den Augen leuchtende Himmelsbläue, vor den Ohren Lerchentrillern und Glockenklang.

Ja, nun sollte alles wieder gut werden. Ich wollte mich wieder unter Menschen mischen, mit meinesgleichen herzlich und freundlich verkehren, ihre Freuden und Leiden teilnehmend mitfühlen, diese Höhlen- und Grabesexistenz der letzten Wochen, das trostlose Nebelgrau, das mich wie ein Leichenlaken eingehüllt hatte, mit einem Ruck von mir werfen, Lebender unter Lebenden sein. Ich fühlte ordentlich, wie ich von Minute zu Minute besser, freier, mutiger, herzlicher, menschlicher wurde, und ob ich mich wehrte, ich konnte nicht anders: mein Inneres strömte über, und meine Augen füllten sich mit Tränen eines unendlichen Glückes.

So traf ich um Mittag, als ich gerade in den Ratskeller zur lange gemiedenen Tafelrunde hinabsteigen wollte, Julius Schwarzwald an der Treppe der Börse, des Artushofes.

»Du strahlst ja so?« fragte er, während ich ihm erfreut und herzlich die Hand schüttelte. »Hast du das große Los gewonnen?«

»Vielleicht!« nickte ich und lächelte bedeutsam. »Wenigstens so einen kleineren Haupttreffer.«

»Schade, daß es nicht das große Los selbst ist!« meinte er und legte sein Gesicht in aufrichtige Trauerfalten. »Dann hätten wir uns den Schaden geteilt, und ich brauchte nicht mehr hier vor der Börse auf irgendeinen Ochsen von Gutsbesitzer zu warten und mir wegen ein paar Silbergroschen mehr oder weniger den Rest von Lunge aus dem Halse zu reden.«

Er lachte hohl in sich hinein und bekam davon einen so heftigen Hustenanfall, daß er blaurot im Gesicht wurde und aussah, als ob er bersten müsse. Ich klopfte ihm ganz erschrocken auf den Rücken, während er sich das Taschentuch vor den Mund hielt und fast seine Seele auszuhusten schien. Endlich beruhigte er sich, kam wieder zu sich und lächelte von neuem.

»Siehst du, wie recht ich habe! ... Aber was hilft's! Der Mensch muß zufrieden sein, wenn's nur den anderen gut geht. Der liebe Gott hat mir ja dafür auch mein Teilchen geschenkt. Nächstens trete ich in die Kegelgesellschaft ›Halbe Lunge‹ ein. Beim Gesangverein ›Keuchhusten‹ bin ich sowieso schon Ehrenmitglied.«

»Alter Kerl!« sagte ich ganz gerührt und klopfte ihm halb mechanisch weiter den Rücken ab. »Alter Kerl! Sei froh, solang' du den Humor hast.«

»Die Welt ist ja auch verdreht genug,« meinte er mit kratzigem Hüsteln, »und Mariechen muß doch schließlich mal zu ihrem Trauerhut kommen ... Aber weißt du schon das Neueste von unserem Herzenbrecher, dem Vielgeliebten?«

»Von Adalbert Hempel?« fragte ich mit einem Gefühl, wie von einer plötzlichen Trockenheit im Halse. »Was ist mit dem? Ich habe ihn lange nicht gesehen.«

»Kein Wunder! Er ist ja auch verreist, und weißt du, wen er mitgenommen hat? ... Das blonde Herzchen damals vom Schützenhausball. Erinnerst du dich? Die süße Kleine, die er hinbestellt hatte und die nicht kommen wollte ...?«

»Aber dann schließlich doch kam!« ergänzte ich mit halbgeschlossenen Augen und lächelte dazu.

»Ja, dieselbe!« nickte Schwarzwald, ohne besonders auf mich zu achten, da sein Blick nach einer anderen Richtung abgezogen wurde.

»Da scheint sie's ihm also ordentlich angetan zu haben?« warf ich mit halber Stimme hin, während das Licht nur ganz wie von ferne durch meine fast gesenkten Augendeckel fiel, so daß ich mir wie ein Taucher vorkam, der sich viele Klafter tief unter dem Meeresspiegel befindet.

»Ja, ein kleines Luderchen offenbar!« bestätigte Schwarzwald zerstreut. »Aber entschuldige! Da kommt gerade mein Ochse von Gutsbesitzer! ... Also nachher im Ratskeller.«

Ich winkte ihm mit einer gleichsam erlöschenden Gebärde zu, tat einen Schritt gegen die Ratskellertreppe hin und lief dann, als ich sah, daß er schon im Gespräch mit dem anderen stand, lief mehr, als ich ging, nach Hause, um mich auf mein Ruhelager im Arbeitszimmer zu werfen, den Kopf in die Kissen zu wühlen und am liebsten nichts mehr zu denken.


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