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Zwanzigstes Kapitel.

Im Musterbureau war das Arbeiten ein verhältnismäßig ruhiges. Klementine kam nicht mit vielen Leuten in Berührung, und die, welche ihr widerwärtig wurden, schaffte ihr Gustl höchst politisch meist rasch vom Halse. Beim Kommen und Gehen aber hielt er und Fräulein Hartwig sich stets an ihrer Seite.

Gustl fand übrigens, daß derzeit das Leben wunderschön sei, denn er fühlte sich riesig wichtig. Er vergaß über seinem neuen Forscheramte selbst seine Leidenschaft für den Automobilismus.

Eines Abends, es war schon zu Ende Januar, bemerkte er in der Seidenabteilung, von woher er Stoffe für die Musterbücher holen sollte, die alte Dame wieder, mit welcher Fräulein Teck in der Konfektionsabteilung jene häßliche Szene gehabt hatte. Er sah sie mit dem ihm höchst widerwärtigen Verkäufer Meißl reden. Ganz merkwürdig eifrig tuschelten die beiden miteinander und sahen dabei auffallend erregt aus.

Gustl näherte sich ihnen unauffällig. Daß es sich nicht um einen beabsichtigten Einkauf handelte, merkte er bald, denn Meißl legte der Dame ja nichts vor, und außerdem wurden seine Ohren nur dann immer so rot, wie sie jetzt waren, wenn er sich aufregte. Er lehnte an einem freistehenden Verkaufstisch; zwischen diesem und dem nächsten Tisch befand sich ein genügend breiter Raum, so daß Gustl hinter Meißl hin und her gehen konnte.

»Also bei der Kirche!« sagte die Dame soeben, und dann schwieg sie.

Gustl fühlte förmlich ihren stechenden Blick auf sich und wagte es nicht, sich hier noch länger aufzuhalten.

Als er weit genug weg war, daß er ihre Worte nicht mehr verstehen konnte, sprach Frau v. Lassot weiter.

Er holte seine Stoffe und fuhr zur Musterabteilung hinauf. Im Aufzug schaute er auf seine Uhr. Es war sieben vorüber. Sofort nach Schluß des Geschäftes wollte er bei der Mariahilferkirche sein.

Es war ja fast sicher, daß sich die Frau für heute schon, und zwar bei der dem Geschäfte zunächst gelegenen Kirche, mit Meißl verabredet hatte.

Jetzt glühten auch Gustls Ohren. Er konnte den Schluß heute kaum erwarten. Es kam ihm sehr zu statten, daß das oberste Stockwerk zuerst geräumt werden mußte. So konnte er bestimmt schon vor Meißl bei der Kirche sein.

Diesmal begleitete er sein Ideal nicht einmal bis zum Tore, sondern überließ Klementine ganz und gar ihrer getreuen Hartwig. Allen anderen voran stürmte er aus dem Hause.

»Zu dumm!« brummte er, im Freien angelangt, denn da sah er sich in einem dichten Nebel. So dicht war das auf der Erde liegende Gewölk, daß man kaum auf Armweite die Gegenstände zu erkennen vermochte.

Es wäre nun wohl das klügste gewesen, Gustl hätte beim Haustor das Herauskommen Meißls abgewartet, um diesem zu folgen. Allein die Überlegung ließ ihn in dieser wichtigen Viertelstunde gänzlich im Stiche. Alle seine Gedanken waren auf die Mariahilferkirche gerichtet, und so stürmte er auf diese zu.

Sie ist von der Lindengasse aus in drei bis vier Minuten leicht zu erreichen.

Gustl durchforschte den ganzen Platz, konnte jedoch die alte Dame nirgends entdecken. Der gute Gustl war eben, trotz aller Schlauheit, die man ihm nicht absprechen konnte, noch lange kein tüchtiger Detektiv. Er dachte gar nicht daran, einen Blick nach dem Wagen zu tun, welcher an der rechten Seite der freistehenden alten Kirche hielt. Und doch hätte er darin ziemlich deutlich ein Frauengesicht zu erkennen vermocht, dessen Augen suchend über die stille Seitengasse wanderten, die selbst jetzt im Nebel nicht ganz dunkel war, denn durch die hellerleuchteten Fenster einer großen Druckerei fiel so starkes Licht, daß der Nebel wie ein flimmernder Goldschleier hin und her wogte.

Der brave Gustl dachte gar nicht daran, sich diesen Wagen ein bißchen näher zu betrachten, er blieb ratlos und unruhig auf dem Platze vor der Kirche stehen und suchte mit seinen scharfen Augen den grauen Nebel zu durchdringen.

Es war schon sieben Minuten über acht. Die Angestellten der Seidenabteilung mochten soeben jetzt das Warenhaus verlassen. Gustls Unruhe wuchs immer mehr. Wie eine aufgescheuchte Eidechse schoß er auf dem Platze umher; dann dachte er plötzlich daran, daß Meißl fast sicher auf dem Trottoir des Warenhauses die Kirchengasse herunterkommen werde. Er lief also über die Mariahilferstraße und stellte sich an der Ecke des Warenhauses auf.

»O je, das Schlittenpferd!« dachte er, als Fräulein Neuber in ihrem »Tingeltangelkostüm«, wie er ihre stets so sehr auffallende Toilette nannte, an ihm vorüberrauschte. Sie war wieder abgeholt worden. Sie wurde ja fast immer abgeholt, und es war nicht immer derselbe Herr, welcher auf die nicht alt werden wollende Neuber wartete.

Gustl lächelte spöttisch. Dann machte er plötzlich einen Satz und stürmte an dem Pärchen vorüber. An ihrer anderen Seite war eben Meißl vorbeigeeilt. Gustl verlor ihn sofort wieder aus den Augen, denn das ganze Trottoir war mit Menschen bedeckt. Die Angestellten des Warenhauses hatten es ja immer sehr eilig, und so stießen und drängten sie sich, um weiterzukommen.

Wer aber heute am meisten stieß und drängte, war Gustl. Jetzt, inmitten der Mariahilferstraße, sah er Meißl wieder vor sich. Aber ein Automobil sauste zwischen ihnen dahin.

»Verwünschter Stinkkast'n!« murmelte Gustl, ganz seine Leidenschaft für dieses moderne Fahrzeug vergessend. Dann rannte er wieder weiter, und wieder sah er Meißl.

Der hatte es ja nicht ganz so eilig wie er, immerhin aber ging auch er rasch, war jetzt hinter dem Haydndenkmal und bog nun in das Gäßchen rechts von der Kirche ein. Da traten wieder etliche Leute zwischen ihn und Gustl, und nun sah dieser den Verfolgten nicht mehr; es fiel ihm jedoch auf, daß der Wagen, den er schon vorhin dort hatte stehen sehen, gerade jetzt wegfuhr.

Er merkte jetzt, daß er nicht übermäßig findig gewesen war.

Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß weder Meißl noch die alte Dame sich bei der Kirche befanden, ging er verdrossen nach Hause.

Die nächsten Tage war er viel stiller als sonst. Seine Niederlage demütigte ihn. Er hatte niemand in dieser Sache zu seinem Vertrauten gemacht, aber er hielt jetzt die Augen noch weiter offen als früher. Da bemerkte er zweierlei. Erstens, daß Meißl jetzt auffallend oft oben in der Musterabteilung zu finden war, und zweitens, daß er und die Neuber, die sich früher niemals miteinander abgaben, jetzt häufig miteinander redeten.

Daß Meißl Fräulein Vogel aus irgendwelchem Grunde haßte, wußte Gustl ebenfalls, daß aber sein oftmaliges Erscheinen in der Nähe der Bureaus mit diesem Hasse nichts zu tun hatte, glaubte er annehmen zu können, denn weshalb schlich Meißl erst jetzt so oft und in so verdächtiger Weise um die Bureaus herum? Weshalb hatte er mit der Neuber jetzt gerade so viel zu tuscheln – jetzt, da er auch mit der anderen Feindin Fräulein Tecks in Verbindung getreten war?

Gustl schloß ganz richtig daraus, daß es sich um einen neuen Anschlag gegen sein Ideal handle, und er schwor sich, von nun an ohne Ruhe und Rast auf der Lauer zu sein.

In der ersten Woche des Februars bemerkte er, wie eine reichgekleidete Dame einen Coupon feinster Valenciennespitzen in ihren modisch großen Muff verschwinden ließ. Sofort eilte er zu dem in der Nähe befindlichen Abteilungschef und berichtete, was er gesehen.

Die Dame wurde darauf von diesem Herrn in artigster Weise gebeten, ihm zu folgen.

Sie tat sehr verwundert, wurde aber blaß und konnte, plötzlich schwach geworden, der Aufforderung kaum Folge leisten.

Auf einen Wink des Chefs stieg auch Gustl mit in den Aufzug, in welchem übrigens kein Wort gewechselt wurde.

Erst im Zimmer des Chefs, in welchem sich sonst niemand befand, wurde der Dame ohne weiteres erklärt, weshalb man sie hierher gebracht hatte.

Sie leugnete keck.

Man bat um ihren Muff.

Sie gab ihn nicht sogleich her, schüttelte ihn aber mit der rechten Hand so stark hin und her, daß ihr Sacktuch und ihre Börse herausfielen. »Sie sehen also, daß man mich unschuldigerweise so frech beschuldigte!« schrie sie wütend.

Der Chef lächelte. »Vielleicht haben Sie den Coupon inzwischen eingesteckt,« sagte er ruhig, denn ihr Erblassen, als er sie unten angeredet, hatte ihm schon bewiesen, daß Gustl recht gesehen hatte.

Der junge Mensch sagte denn auch ganz bestimmt: »Nein, die Frau hat den Coupon weder anderswo verborgen noch hat sie ihn weggeworfen. Ich habe kein Auge von ihr gewendet. Der Coupon steckt noch im Muff.«

»So eine Gemeinheit!« schrie die Frau. »Also Sie sind der Spitzel! Und von so einem jungen Buben muß man das einstecken!«

»Gewiß – Sie haben eingesteckt!« korrigierte der Chef ironisch.

»Nun, meine Kundschaft haben Sie für immer verloren!« schrie die Frau. »Da sehen Sie, diesen Pelz habe ich bei Ihnen gekauft und auch diesen Muff und –«

Weiter kam sie nicht. Der Chef hatte sich mit einem geschickten Griff des Muffes bemächtigt, und jetzt hielt er ihr den fraglichen Spitzencoupon hin und sagte ruhig: »Als Sie den Muff bei uns kauften, war aber noch keine Diebestasche darin. Die Ihrige hat die Öffnung auf der rechten Seite. Hätten Sie den Muff mit der linken Hand geschüttelt, dann wären auch die Spitzen herausgefallen.«

Die Diebin war jetzt still. Sie wäre niedergesunken, wenn ihr Gustl nicht schnell einen Sessel hingeschoben hätte.

Eine Stunde später konnte sie gehen. Man wußte ihren Namen, Stand und ihre Adresse, wußte auch, daß sie tatsächlich eine gute Kundin des Warenhauses gewesen war, denn zu Weihnachten hatte man ihr um mehr als sechshundert Kronen Teppiche und Bronzewaren ins Haus geschickt, in ihr eigenes großes Zinshaus noch dazu, denn Frau Rosalie Bauer war eine reiche Hausfrau in jener Gegend Wiens, welche im vorigen Jahrhundert seiner vielen reichen Bewohner wegen der »Brillantengrund« hieß.

Frau Bauer, die mit heiligen Eiden versichert hatte, daß sie das Warenhaus nie mehr betreten werde, konnte also gehen, und August Müller erhielt die Prämie, welche auf Entdeckung von derartigen Fällen für die Bediensteten des Hauses ausgesetzt ist.

Als er Abends in die Garderobe ging, um seine hübsche braune Uniform mit seinem eigenen Anzug umzutauschen, stieß er wieder einmal mit seinem Kollegen Fritz Treumann zusammen.

»Na, jetzt kannst d' dir ja schon ein paar Schraub'n zu deinem Zukunftsautomobil kaufen,« hänselte ihn der neidische Bursche, der es recht gut wußte, daß Gustl ihm überall vorgezogen wurde, und der ihm weder das heute erhaltene Lob noch die klingende Prämie gönnte.

»Laß mich in Ruh!« wies ihn Gustl ab. »Es is immer noch g'scheiter, man hat an einer Maschin' a Freud', als man vertanzt die Nächt' und kann nachher beim Tag net amal ordentlich aus 'n Augen schau'n.«

»Ich seh' genug.«

»Wenn's so wär', hättest schon längst a Prämie 'kriegt.«

»Ohne Prämie steh' ich mich besser!« entgegnete Treumann frech und ging weiter.

Gustl schaute ihm verwundert nach. Was wollte der denn damit sagen?

Unter der Einfahrt traf er, wie gewöhnlich, mit Fräulein Teck und Fräulein Hartwig zusammen. Die drei gingen dann miteinander weiter.

Es war heute ein wunderschöner Abend. Es ging kein Wind, und der Schnee siel in großen, weichen Flocken.

An solch günstigen Abenden ließ die energische Dora die immer blasser und schmäler werdende Freundin niemals sogleich nach Hause gehen, sondern zwang sie liebevoll, sich die ihr so notwendige Bewegung in der frischen Lust zu machen.

Da schlossen sich ihnen dann auch sehr oft Kern und Erich Link an, und Gustl, der sich selber zu der beiden Mädchen Beschützer ernannt hatte, was Dora gutmütig und Klementine dankbar annahm, war der durchaus nicht überflüssige bei diesen kleinen Partien, welche die Baronesse anfangs für recht unschicklich gehalten hatte.

Ja, die Baronessen und Gräfinnen, welche zwischen zwölf und vier Uhr unter großer Bedeckung spazieren geführt werden, halten es wohl alle für recht unschicklich, daß junge Mädchen Abends mit Männern, die nicht ihre Brüder oder Väter sind, spazieren gehen.

Aber Klementine mußte das schließlich schon auf sich nehmen. Sie war den beiden Herren sogar recht dankbar, daß sie sich zur Begleitung zur Verfügung stellten; und nicht weniger dankbar war sie, die Tochter eines altadligen Geschlechts, daß ein sechzehnjähriger Laufbursche sich so viele und so große Mühe gab, ihren Kavalier zu spielen.

Auch heute also schloß Gustl sich den beiden Mädchen an. Er brannte ja förmlich darauf, ihnen über das Vorkommnis Bericht zu erstatten. Aber er kam nicht sogleich dazu, denn an der Straßenecke kam ihnen Kern entgegen, dem Gustl selbstverständlich seinen Platz neben der Baronesse überließ.

Dora Hartwig, die auch ein bißchen zurückblieb, sagte gemütlich: »Kommen S', Gustl. Geh'n wir miteinander. Mein Bräutigam kommt heut nicht – und so brauch'n Sie diesmal nicht das fünfte Rad am Wag'n zu sein.«

»Ja – ja, 's fünfte Rad!« murrte Gustl. »Übrigens hat mir letzthin einer von unseren Reisenden erzählt, daß er in Hamburg Omnibusse mit fünf Rädern gseh'n hat.«

»Na seh'n S', Gustl, so ist also der Ausdruck gar keine Beleidigung mehr. Aber jetzt erzählen S' mir, Sie Spitzl, wie war denn die Geschicht' mit der Frau, die Sie erwischt hab'n? Ich hab' nämlich so ein bisserl was läuten g'hört.«

Da berichtete denn Gustl ihr allein das immerhin Interessante und staunte nicht wenig, als sie bei Nennung des Namens der Diebin in hohe Aufregung geriet.

»Wie heißt sie?« rief sie lebhaft und ihn am Arm fassend.

»Rosalie Bauer.«

»Und wo wohnt sie?«

Er nannte ihr die Gasse.

Die Hartwig atmete rasch. Ein hartes Lächeln entstellte für ein paar Augenblicke lang ihr hübsches Gesicht.

»Ja, was hab'n 'S denn eigentlich?« erkundigte sich Gustl erstaunt. »Was interessiert denn Sie die G'schicht gar so sehr?«

Eine gute Weile antwortete Dora nicht, dann nickte sie ihm zu und sagte: »Wenn ich heirat', werd'n Sie mein Hochzeitsgast sein, und ich kauf' Ihnen einen feschen Automobilistenanzug mit einer so großen Brillen!«

»Aber, Fräul'n –«

»Aus Leder natürlich, aus gelbem Leder! Das gefallt Ihnen ja am besten, Gustl. Sie sollen halt auch eine Freud' hab'n!«

»Ja aber, Fräul'n Hartwig –«

Zu mehr brachte es Gustl nicht, denn als sie, ganz rot im Gesicht, sagte: »Nein, so ein Glück – so ein Glück!« da verschlug es ihm die Rede. Er mußte sie nur immer anschauen, und dabei dachte er: »Die ist übergeschnappt!«

Nachdem sie ein paar Häuser weiter gegangen waren, kam Fräulein Dora ein ähnlicher Gedanke. Sie schaute Gustl mit ihren jetzt so merkwürdig glänzenden Augen fest an und fragte: »Sie glauben wohl, daß ich närrisch 'word'n bin? Aber, mein lieber Gustl, ich bin nix weniger als verrückt, wenn ich Ihnen jetzt sag': der Coupon Spitz'n hat mein Glück gemacht.«

Gustl schaute sie noch immer besorgt an.

»Morg'n kann ich ihm's schon sag'n. meinem Erich –«

»Was denn? Fräul'n Dora, was woll'n S' ihm denn durchaus sag'n?«

»Na – daß wir jetzt heiraten können.«

»Sie hab'n doch immer g'sagt, es geht noch net – bei der jetzigen Stellung vom Herrn Link.«

»Freilich – da wär's noch nicht gegangen. Aber jetzt geht's! Jetzt wird er sicher Teilhaber.«

»Wieso wird er jetzt Teilhaber?«

»Also – der Automobilanzug wird nicht vergessen! Gustl – ein Busserl könnt' ich Ihnen geb'n!«

Gustl schmunzelte.

»Was hat er denn getan, daß ihm solch süßer Lohn winken soll?« fragte Kern heiter, und auch Klementine blieb lächelnd stehen.

Da fiel die temperamentvolle Dora der Baronesse um den Hals und flüsterte ihr zu: »Baroneßl, mein lieb's Baroneßl, ich bin ja zu glücklich, denn jetzt können wir heirat'n!«

»Ja, wieso denn so schnell?« fragte Klementine, als sie sich wieder frei sah.

Höchst rätselvoll antwortete Dora: »Na, die Frau Bauer hat doch heut Spitz'n g'stohl'n!«

*

Am nächsten Morgen meldete sich, bei Frau Rosalie Bauer ein Fräulein, das seinen Namen nicht nannte, aber angab, daß es in einer wichtigen Angelegenheit mit Frau Bauer sprechen müsse.

Für wen die Angelegenheit wichtig sei, das ließ der Besuch offen. Das Fräulein war schon gestern abend dagewesen, war aber nicht vorgelassen worden. Frau Bauer, die seit ihrem peinlichen Abenteuer bei Groß & Komp. sehr nervös geworden war, wollte auch heute den unangenehmen Besuch abweisen lassen, allein das große, hübsche Fräulein, welches im Vorzimmer stand, lächelte diesmal darüber, zog ein Notizbuch aus ihrem Täschchen, schrieb auf eines der Blättchen ein einziges Wort, riß das Blättchen ab und gab es der schnippischen Zofe.

Mit diesem Blättchen schickte sie sie noch einmal hinein. Natürlich las die, was die Fremde da aufgeschrieben hatte. Es war richtig nur ein einziges Wort. »Valencienne,« stand da.

»Sie geht nicht. Das soll ich hergeb'n, hat sie g'sagt, und so heißt s' also wohl.«

Mit diesen Worten hielt das Mädchen ohne weitere Umstände ihrer Gebieterin das Blättchen hin.

Frau Bauer griff danach, las und wurde blaß.

»Sie soll kommen,« murmelte sie wie eine, die keine Kraft mehr hat, und dann ließ sie die Hand mit dem Papierstückchen so schwer in ihren Schoß fallen, als habe das feine Blättchen ein ungeheures Gewicht.

Die Zofe begab sich wieder hinaus. »Die Gnädige läßt Fräulein Valencienne bitten,« lispelte sie mit einer großartigen Handbewegung, die sie, gleich den gebrauchten Worten, einem Bühnenstubenkätzchen abgelernt hatte.

Die junge Dame nickte ihr schmunzelnd zu und ging hinein.

Als sie vor Frau Bauer stand, lächelte sie aber nicht mehr und verneigte sich nur wenig.

»So – Sie also sind es?«

»Ja, ich bin's!«

Die Bauer schaute lauernd zu ihr auf. »Was wollen Sie denn?«

Dora zog sich einen Sessel herbei und setzte sich, was ihr einen giftigen Blick eintrug. »Fragen möchte ich Sie, gnädige Frau,« begann sie vollendet artig, »was Sie gegen meinen Bräutigam einzuwenden haben?«

»Warum?«

»Weil Sie es Ihrem Herrn Bruder nicht gestatten, Erich, der doch die Seele der Firma ist, zum Teilhaber anzunehmen.«

Steif aufgerichtet starrte die Frau Dora zornig an, und Hohn verbog ihre Lippen, als sie sagte: »Also auf eine Erpressung ist es abgesehen?«

Dora blieb vollständig ruhig und fuhr in dem reinen Deutsch, das ihr zuzeiten sehr geläufig war, fort: »Wie Sie, gnädige Frau, mein Handeln nennen, läßt mich vollständig kalt. Von einer Erpressung kann übrigens auch gar keine Rede sein, denn ohne Erichs Fleiß und Tüchtigkeit würde Ihr Geschäft, das Ihr kränklicher Bruder einfach nicht leiten kann, nicht so blühen, wie es eben blüht. Damit sage ich Ihnen, gnädige Frau, nichts Neues, trotzdem Sie – und jetzt komme ich zu dem Zweck meines Besuches – über Erichs Art und Leistungen sehr merkwürdige Urteile in die Welt gehen ließen.«

»Wer sagt das?«

»Ich sage es. Aber auch andere sagen es, die es gar nicht verstehen können, da Sie doch eine so große Schwäche für meinen Bräutigam haben.«

»Sie werden unverschämt.«

»Ich rede nur die Wahrheit, und es hört sie ja niemand als Sie und ich. Oder ist es vielleicht erfunden, daß Sie Erich sehr entgegenkamen? Alle im Geschäft wissen es und lachten darüber. Nur Erich allein lachte Sie nicht aus, dazu ist er nämlich zu nobel. Dafür verleumden Sie ihn nun. Auch als kriecherischen Streber haben Sie ihn bezeichnet und wissen doch besser als irgendwer, daß er es nicht ist, denn wäre er es, hätte er sich überwinden können, Sie zu heiraten, um nicht Ihr schlecht bezahlter, ausgenützter Angestellter, sondern Mitbesitzer der Firma zu werden.«

Frau Bauer nagte wütend an ihrer Lippe. »Was wollen Sie also?« fragte sie, als Dora schwieg.

»Daß Sie Ihre Verleumdungen zurücknehmen. Darauf bestehe ich, denn Erich hat Aussicht, in ein anderes Geschäft eintreten zu können. Und das wollten Sie mit Ihren Verdächtigungen verhindern.«

»Will Herr Link unser Geschäft denn auf alle Fälle verlassen?«

»Er wäre ja ganz gern geblieben, aber wenn einer sich verbessern kann, tut er es doch selbstverständlich.«

»Wenn ich ihn nun zum Teilhaber mache, bleibt er dann?«

»Ich werde es ihm sagen.«

Frau Bauer schluchzte plötzlich bitterlich auf, und Doras Widerwille gegen diese Frau verwandelte sich rasch in Mitleid, als die Weinende fortfuhr: »Sie müssen mich ja verachten. Ich habe unverantwortlich gehandelt. Wie eine Verrückte war ich, und mein Leben lang werde ich die Schande, die mich auch in Ihre Hand gegeben hat, nicht überwinden.«

»Vor mir brauchen Sie sich nicht zu fürchten,« tröstete Dora die jetzt ganz Verzweifelte. »Tun Sie nur wenigstens jetzt, was recht und billig ist. Ich werde meinem Bräutigam zureden. Frauen finden doch immer leichter zusammen.«

»Sie sind noch gut zu mir!« schluchzte Frau Bauer.

»Weil Sie mir leid tun.«

»Es ist wie eine Krankheit in mir.«

»Nehmen Sie ihr jede Gelegenheit, zum Ausbruch zu kommen.«

»Sie haben leicht reden. Sie sind moralisch gesund.«

»Gott sei Dank.«

»Ich aber dürfte nirgends mehr hingehen. Nicht einmal zu Bekannten.«

»So sehr krank sind Sie?« Dora stand erschüttert vor der reichen, angesehenen Frau, die sich verzweifelt selber ihres schrecklichen Triebes anklagte. Aber das energische Mädchen vergaß darüber nicht ihre eigene Angelegenheit, deshalb fuhr sie tröstend fort: »Es läßt sich ja so vieles gutmachen. Das Unrecht, das Sie an Erich getan, ist doch schon gesühnt.«

Frau Bauer stand auf. »Wir können Ihren Bräutigam ja gar nicht entbehren,« gestand sie unumwunden ein. »Aber jetzt, ich bitte Sie, lassen Sie mich allein. Mein Bruder wird noch heute Herrn Link seine Beförderung mitteilen.«

Sie wollte Dora die Hand reichen, zog sie jedoch, rot werdend, schnell wieder zurück.

Dora tat, als habe sie den kleinen Vorgang nicht bemerkt, verneigte sich und ging.

Frau Bauer aber sank auf ihren Sitz zurück. Da bemerkte sie zu ihren Füßen das Blättchen, welches Fräulein Hartwig ihr vorhin hereingeschickt hatte.

Langsam hob sie es auf, und während sie darauf niederschaute, las sie noch einmal: »Valencienne.«

Große Tränen rannen über ihr Gesicht.


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