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Direktor Eichler und Ernst v. Teck saßen in des ersteren Arbeitszimmer einander gegenüber. Ernst hatte die Skizze gebracht, von welcher er zu Klementine gesprochen. Er erwartete jetzt das Urteil, das über seine Leistung gesprochen werden würde.
Es ließ sehr lange auf sich warten.
Wenn er nur wenigstens das Gesicht des alten Herrn hätte sehen können! Aber das befand sich hinter dem Karton, auf welchem die Zeichnung ausgeführt war.
Ernst atmete immer rascher. Seine Hoffnung schwand mehr und mehr, und mit ihr zerrannen die Luftschlösser, welche er auf sie gebaut hatte. »Arme Klemi,« dachte er, »mit unseren Zukunftsplänen sieht's windig aus!«
Da sagte Eichler langsam: »Sie scheinen in der Tat nicht nur auf Ihrer Geige ein echter Künstler zu sein. Der Himmel hat Sie ja ganz besonders begnadet.« Seine Hand streckte sich aus, und als Ernst die seinige hineinlegte, schlossen sich des alten Herrn Finger mit kraftvollem Druck um sie.
»Sie meinen also –« stammelte Ernst.
Weiter kam er nicht. Ein Diener trat ein, überbrachte eine Visitenkarte und meldete: »Die gnädige Frau wartet im Wagen.«
Der Direktor nickte. »Natürlich führen Sie die Dame herauf,« sagte er. »Ich erwarte sie schon lang.«
Der Diener eilte hinaus, um den Auftrag auszuführen.
»Eine liebe junge Freundin von mir,« erklärte Eichler dem Baron, die Karte vor ihn hin legend.
Teck las: »Frau Anna Römer.« Er verneigte sich stumm und erhob sich.
In diesem Augenblick trat eine sehr hübsche, sehr anmutige, in Trauer gekleidete Dame herein. Sie lächelte Eichler, der ihr entgegenging, liebenswürdig an und schüttelte kräftig seine Hand.
Ernst v. Teck starrte sie wie eine überirdische Erscheinung an. Der Eindruck, den sie auf ihn machte, war ein so mächtiger, daß er Mühe hatte, seine Fassung zu bewahren.
»Baron Teck!« stellte, ganz eigentümlich lächelnd, der Direktor vor. – »Frau Römer!«
Und noch immer lächelte der alte Herr, denn auch seine »liebe junge Freundin« war merkwürdig verwirrt. Eine tiefe Röte überzog ihr ganzes Gesicht.
Eichler faßte ihre Hand und führte sie zum Sofa. »Es freut mich herzlich, daß Sie gerade jetzt gekommen sind,« sagte er, »habe ich doch dadurch Gelegenheit erhalten, Sie mit einem echten Künstler bekannt zu machen, der Ihnen vielleicht sich nützlich erweisen kann.«
Die junge Frau schien sehr interessiert. »Meinen Sie wirklich?« fragte sie eifrig.
»Wenn nämlich der Herr Baron ebenso willig sein wird, sich in den Dienst Ihrer liebenswürdigen Laune zu stellen, als er fähig ist, diese Laune zur schönen Wirklichkeit zu machen.«
»Wozu wäre ich wohl nicht willig, wenn ich Ihnen, gnädige Frau, damit zu dienen vermöchte!« rief Ernst feurig.
»Sie müssen nämlich wissen, lieber Baron, daß die gnädige Frau ihren Gemahl im vergangenen Frühling verloren hat,« sagte Eichler erklärend. »Es wird Sie vermutlich auch interessieren, womit Sie der Dame dienen können?«
»Gewiß – gewiß!«
»Die gnädige Frau sucht nämlich nach einem Berater und praktischen Helfer, der es ihr möglich macht, ihr Landhaus bis zum Frühling geschmackvoll zu renovieren. Der Betreffende muß natürlich auf verschiedenen Gebieten beschlagen sein. Nun, ein Künstler, ein echter Künstler ist ja immer auf den verschiedensten Gebieten zu Hause, und gerade Sie kennen ja aus Erfahrung die Licht- und Schattenseiten eines Landbesitzes und würden also besser als irgend jemand der gnädigen Frau zur Seite stehen können.«
»Es wäre mir sehr lieb,« warf Frau Römer mit einem bezaubernden Lächeln ein.
»Ich bin glücklich,« beeilte Teck sich zu versichern, »in Wahrheit glücklich, wenn ich Ihnen irgendwelche Lasten abnehmen könnte. Aber Herr Direktor, Sie empfehlen mich da eigentlich recht leichtsinnig.«
Eichler schüttelte den Kopf. »Ich bin genau unterrichtet, lieber Baron, und denke sehr hoch von Ihnen.«
»Trotzdem ich so – so ganz heruntergekommen bin?« fragte Ernst bitter.
Mit großer Verwunderung schauten die klaren dunklen Augen der jungen Frau auf den Baron. Von dem vollen dunkelblonden, gutgehaltenen Haar angefangen bis zu den Spitzen der tadellosen Schuhe wanderten sie. Einfach vornehm sah er aus und nannte sich heruntergekommen!
»Ich gehöre nämlich zur Zeit einem Terzett an, das den Leuten Abends aufspielt,« erklärte Ernst noch herber als bisher.
»Da dürfen Sie nicht bleiben!« sagte die junge Frau merkwürdig heftig. »Ich – ich –«
Sie kam vor Verlegenheit nicht weiter.
Da nahm Eichler rasch das Wort. »Nein, lieber Baron,« rief er, »in Ihrer jetzigen Stellung dürfen Sie tatsächlich nicht bleiben. Die war für die Zeit der Not vielleicht gut genug, aber ich hoffe, diese Zeit ist für Sie vorüber. Frau Römer wird Sie ›entdecken‹, Sie werden ihre Villa so reizend umgestalten, daß sich immer wieder künstlerische Arbeit für Sie finden wird. Nebenbei werden Sie sich weiterbilden und so Ihren tiefsten Herzenswunsch erfüllt sehen.« Er hatte sich erhoben und den Karton herbeigeholt. Jetzt stellte er ihn vor Frau Römer auf. »Da sehen Sie selbst, ob er ein Künstler ist!« rief er lebhaft.
Die schönen Augen der jungen Frau wanderten aufmerksam prüfend über die reizende Komposition. Sie stellte den Rahmen eines Spiegels vor. Von dem glatten, unten grünen, nach oben hin blaßblau werdenden Holze hob sich an den zwei kurzen senkrechten Seiten plastisch dargestelltes Schilf in natürlicher Farbe ab. Weit hinein meinte man zu schauen in einen klaren See, über dem der Himmel blaute, und der ringsum eingefaßt war von dichtem Schilf. Den unteren Rand des Rahmens schmückten, ebenfalls über ihn hinausragend, weiße Seerosen mit ihrem glänzenden grünen Blattwerk, aber auch hier ragten einzelne Schilfhalme und Blüten in den Spiegel hinein. Die an und für sich ja naheliegende und einfache Idee war perspektivisch so meisterhaft, so lebenswahr und so anmutend ausgeführt, daß man das immer deutlicher hervortretende Entzücken der jungen Frau recht wohl begriff.
»Das ist ja wunderschön!« sagte sie, sagte es ganz leise und noch gefangen genommen von dem ganz eigentümlichen Reiz des Dargestellten und der Darstellung.
Ernst lächelte glücklich und dankbar. »Gnädige Frau,« sagte er, sich ihr entgegenneigend, »ich bin in der Tat glücklich, weil Ihnen meine Idee gefällt. Ich habe nur den Spiegel in einem resedengrünen Gartenzimmer gedacht, das die Aussicht auf ein wirkliches Wasser gewährt.«
»Also direkt für mein Lieblingszimmer haben Sie komponiert?«
»Ich beschrieb eigentlich meinen Lieblingsraum daheim auf Wellhof.« Er seufzte. »Der Besitz gehört freilich nicht mehr mir.«
»Mein Gut heißt Mieringen – und ich würde viel darum geben, wenn ich auch kein Recht mehr darauf hätte.«
Auch die junge Frau seufzte. Dann schlossen sich ihre feingeschweiften Lippen so fest, als wollten sie sich nichts weiter entschlüpfen lassen.
Es gab also auch im Sein dieser Frau Bitternisse!
»Ob sie mit dem Leben oder mit dem Sterben ihres Mannes zusammenhängen?« zuckte es durch Tecks Kopf.
»Werden Sie also den Baron mit Mieringen bekannt machen?« setzte Eichler das Gespräch wieder fort.
Frau Römer fand bald ihre Freundlichkeit wieder, und nach kurzem Hin- und Herreden war rasch ausgemacht worden, daß Teck am zweitnächsten Tage Frau Römer in ihrer Stadtwohnung abholen solle, um mit ihr nach ihrem im Wiener Wald gelegenen Gute zu fahren.
*
Als Ernst v. Teck zur bestimmten Stunde bei Frau Römer vorsprach, war diese bereits zur Fahrt gerüstet, und schon wenige Minuten später saß er neben ihr in dem mit grauem Atlas ausgeschlagenen Wagen.
»Sie haben doch nichts dagegen, daß wir die Fahrt im Wagen machen?« bemerkte errötend die junge Witwe. »Es dauert wohl etwas länger, aber ich fürchte heute den Temperaturwechsel bei einer Bahnfahrt. Ich bin ein bißchen erkältet.«
Ernst errötete merkwürdigerweise ebenfalls. Er hatte nichts dagegen, daß er für längere Zeit dicht neben ihr sitzen mußte, nicht das mindeste hatte er dagegen, ihre Gegenwart nun länger fühlen, ihr feines Parfüm nun länger einatmen zu dürfen. Er fand sogar, daß der Kutscher die Pferde zu einer ganz unvernünftigen, den edlen Tieren ganz bestimmt nicht zuträglichen Eile antrieb.
Sie hatte unterwegs vieles zu fragen. Und er hatte auch sehr, sehr viel zu fragen und vergaß darüber alles. Er vergaß seine trübe Lage, er vergaß die ganze, schreckliche Unsicherheit seiner Zukunft.
Da hielt der Wagen schon, und eine hagere alte Person öffnete den Schlag. Sie warf einen lauernden Blick auf Ernst und sagte: »O je! Einen jungen Maler hat sich die Gnädige ausgesucht!«
Über Frau Annas Gesicht flog eine brennende Röte. »Kümmern Sie sich nicht um Dinge, die Sie nichts angehen!« sagte sie streng. »Sie haben doch dafür gesorgt, daß der Herr Baron und ich warme Zimmer finden?«
Jungfer Rosalie, die langjährige Wirtschafterin des nun verstorbenen Privatiers Benedikt Römer, fuhr erschrocken zusammen und ging in großem Ärger hinter der jungen Frau her, der sie, die bis zu ihres Herrn Verehelichung fast unbeschränkte Gebieterin auf Mieringen gewesen, hatte weichen müssen, weil ihr Gebieter plötzlich sein Herz entdeckt und darüber seinen Magen vergessen hatte.
In einem großen, mit wenig zusammenpassenden Möbeln überladenen Salon legte Frau Anna seufzend ihren Muff und ihren Pelzkragen ab und sagte: »Sehen Sie, lieber Baron, dieses Weib ist ein Stück meiner jüngsten Vergangenheit. Sie repräsentiert sozusagen die Menschengattung, in welcher ich die zwei letzten Jahre meines Lebens zubrachte.« Dann ging sie ans Fenster und starrte stumm hinaus.
Erst nach einer langen Pause trat er zu ihr. »Ihre Ehe war also eine erzwungene?« fragte er rauh.
Sie sah den Erregten schüchtern an. Beide hatten ganz vergessen, daß er durchaus kein Recht zu dieser Frage und sie keine Pflicht zu antworten hatte. Aber sie antwortete doch.
»Ja,« sagte sie leise und mit leidvollem Lächeln, »es war eine von der Not und von der Kindesliebe mir aufgenötigte Ehe. Sie wurde mir zum Martyrium, wiewohl Benedikt, der Himmel vergelte es ihm, so gut, als es ihm eben möglich war, zu mir und meinem alten, teuren Vater blieb.«
»Um Ihres Vaters willen haben Sie diesen Mann also geheiratet?« Man sah es Teck an, daß ihm merklich leichter ums Herz wurde. »Und wie lange ist er schon tot?« setzte er sein seltsames Examen fort. »Sie tragen ja noch Trauer.«
»Auch im Herzen. O, glauben Sie mir, auch im Herzen trauere ich um vieles,« erzählte sie leise. »Zwei Monate nach meiner Verheiratung starb mein Vater, genau ein Jahr danach mein Mann. Ich bin also aus dem Traurigsein und dem Trauern seit diesen letzten zwei Jahren gar nicht herausgekommen. Und selbst um meinen Mann trauere ich, nur daß ich nicht trauere um sein leibliches Ende, denn das war mir Erlösung, aber traurig bin ich, weil seine Seele, um die sich Gut und Böse wild kämpfend stritten, keine Zeit mehr fand, sich ganz dem Guten zuzuwenden.«
»Es gibt also doch Engel auf Erden!« sagte lächelnd der junge Schwärmer, ihr tief in die Augen blickend. Er wollte noch etwas sagen, kam jedoch nicht dazu, denn Rosalie kam herein und meldete, daß das Frühstück aufgetragen sei.
»Sie haben doch auch für den Herrn Verwalter gedeckt?« fragte Frau Römer.
»Jawohl, gnädige Frau.«
»Ich wünsche, daß auch Sie bei uns bleiben, denn es ist nötig, daß Sie über die Veränderungen, die ich vorhabe, unterrichtet sind. Legen Sie also auch für sich ein Gedeck auf.«
»Aber gnädige Frau –«
»Tun Sie nur, wie ich sagte.«
Die Wirtschafterin schien plötzlich wie umgewandelt. Mit vielen Dankesbezeigungen entfernte sie sich.
»Jetzt wird sie Sie in Ruhe lassen, lieber Baron,« meinte Frau Anna lächelnd. »Sie gehört zu denen, die in alles eingeweiht sein wollen, die man nicht übersehen darf, wenn man nicht ihre Bosheit auf sich lenken will.«
»Gnädige Frau wissen die Menschen zu behandeln.«
»Zuweilen habe ich damit Glück. – Aber jetzt, Baron, gehen wir hinüber. Mir ist kalt – mir wird es nämlich immer kalt, so oft ich hierher komme, so oft ich die alte Einrichtung sehe.«
Im behaglich durchwärmten Speisezimmer, das aber auch ganz im Geschmack eines reichen Emporkömmlings eingerichtet war, wartete schon ein älterer Herr auf Frau Römer, die ihm herzlich die Hand reichte.
»Herr Stegmüller,« stellte sie ihn dem Baron vor, »der einzige Mensch auf Mieringen, mit dem ich immer sympathisiert habe.«
Vor der Tür klirrte Geschirr. Jungfer Rosalie war wieder im Anzuge.
Gerade als sie, begleitet von einer jüngeren Dienerin, allerlei feine Zukost auf den Tisch stellte, sagte Frau Anna, die Vorstellung beendend: »Und hier, lieber Stegmüller, habe ich mir einen Berater und Helfer mitgebracht. Baron v. Teck wird die Güte haben, demnächst auf ein paar Tage hierher zu kommen, um das Haus und auch den Park zu studieren und Pläne für die notwendigen Veränderungen zu machen. Direktor Eichler hat ihn so weit für mich und mein Anliegen zu interessieren gewußt, daß der Herr Baron versprochen hat, mir beizustehen. – Aber da sind ja Ihre berühmten Hachés, liebe Rosalie. Die müssen wir warm genießen! Bitte, Herr Baron! Bitte, lieber Stegmüller! – So – und nun, Rosalie, schenken Sie uns den Tee ein.«
Schließlich wurden alle ziemlich lebhaft, und als man dann, immer noch zu vieren, die Wanderung durch das Haus begann, waren alle mit vielem Interesse bei der Sache.